Pierre Lemaitre: Die Farben des Feuers
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Klett-Cotta, Stuttgart 2019
479 Seiten, 25 Euro
Packendes Zeitdokument einer Gesellschaft im Niedergang
05:13 Minuten
Der französische Autor Pierre Lemaitre hat mit „Die Farben des Feuers“ den zweiten Teil seiner angekündigten Zwischenkriegstrilogie vorgelegt. Darin montiert er ein fesselndes Zeitpanorama. Flott und eingängig erzählt, findet unser Kritiker.
Frankreich am Übergang der 20er- zu den 30er-Jahren. Eine reiche Bankiersfamilie steht nach dem Tod des Patriarchen Marcel Péricourt vor der Auflösung. Die Tochter Madeleine soll das Imperium übernehmen, wird vom einstigen Vertrauten ihres Vaters jedoch in heimtückischer Weise um fast ihr gesamtes Vermögen gebracht. Sie muss sogar aus dem prächtigen Stadtpalais ausziehen, gemeinsam mit ihrem Sohn Paul, der im Rollstuhl sitzt, seitdem er sich am Tag der Beerdigung des Bankiers aus dem Fenster gestürzt hat. Der Absturz ist komplett – finanziell und moralisch.
Die verwöhnte Tochter aus reichem Hause schafft es jedoch, das Heft zu wenden. Sie nimmt ihre Angelegenheiten in die eigene Hand und entwickelt ein ungewöhnliches Talent zur Rache. Nach und nach gelingt es ihr, sowohl den betrügerischen Vermögensverwalter, eine hinterhältige Freundin als auch den einstigen Hauslehrer ihres Sohnes, der ihn sexuell missbraucht hat, zu bestrafen. Das war der Grund für Pauls versuchten Selbstmord.
Weltwirtschaftskrise und rechte Tendenzen
Im zweiten Band einer von ihm sogenannten Zwischenkriegstrilogie skizziert Pierre Lemaitre eine französische Gesellschaft im Niedergang. Das Buch ist eine Fortsetzung der Romans "Wir sehen uns dort oben", in dem der Autor die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs beschrieben hatte. Dafür hatte er den Prix Goncourt bekommen. Am dritten Teil arbeitet er noch.
Lemaitre greift auch jetzt wieder historische Ereignisse und Figuren auf. Er montiert sie zu einem fesselnden Zeitpanorama, in dem die Weltwirtschaftskrise droht und rechte Tendenzen sich verstärken, etwa in Gestalt korrupter Journalisten, die sich ihre politische Gesinnung erkaufen lassen – wie zahlreiche andere Figuren und Ereignisse inspiriert von realen Vorbildern.
Der Aufstieg der Nationalsozialisten kündigt sich an durch einen Auftritt der berühmten Operndiva Solange Gallinato in Berlin im September 1933. Bei dem trägt sie die Komposition eines verfemten jüdischen Komponisten vor.
In der Tradition von Dumas und de Balzac
Der Roman liest sich nicht nur wegen der Krimihandlung und des historischen Gewands so spannend, sondern vor allem, weil Lemaitre seiner Sprache treu geblieben ist, die die Charaktere und ihre Motivationen ebenso packend skizziert, wie es Alexandre Dumas, auf dessen Vorbild sich Lemaitre im Nachwort explizit bezieht, oder Honoré de Balzac im 19. Jahrhundert getan haben.
Auch bei Lemaitre tummeln sich Emporkömmlinge und reiche Erben, wird von Schulden und Aktien fabuliert, werden Glanz und Elend der Bourgeoisie und des dekadenten Adels vor der herrschaftlichen Kulisse der besseren Viertel von Paris verhandelt.
Spannung und Beschreibung mit Retro-Chic
Man kann Pierre Lemaitre vorwerfen, dass er den Stil der alten Meister zu sehr imitiert und allzu "retro" schreibt. Sprachlich ist das Buch alles andere als innovativ. Aber dem Autor gelingt es, die Spannung eines Krimis in die Beschreibung einer Epoche des Umbruchs zu implantieren.
Zahlreiche Elemente lassen an heutige Phänomene denken, etwa eine flächendeckende Steuerhinterziehung, in der Politiker und Wirtschaftsbosse verwickelt sind – unter aktiver Mithilfe von Schweizer Banken. Steuerflucht und Proteste gegen die Abschaffung der Vermögensteuer sind Themen, die auch die französische Gesellschaft der Gegenwart denken lassen. "Die Farben des Feuers" ist gelegentlich etwas verschlungen, aber flott und eingängig erzählt – ein packendes Zeitpanorama.