Pierre Loti: "Mein Bruder Yves"
Aus dem Französischen übersetzt von Robert Prölß. Nachwort von Wolfram Setz
Männerschwarm Verlag, Bibliothek Rosa Winkel, Berlin 2020
312 Seiten, 20 Euro
Innige Zuneigung über Klassengrenzen hinweg
06:16 Minuten
Bei seiner Reise um die Welt trifft ein Marineoffizier auf einen Matrosen: Er geht mit ihm eine innige Freundschaft ein, befreit ihn immer wieder aus Notlagen. Eine erotische Beziehung aber deutet Pierre Loti in "Mein Bruder Yves" allenfalls an.
"Groß, schlank wie eine Antike, mit muskulösen Armen, dem Hals und den Schultern eines Athleten, machte seine Erscheinung im Ganzen den Eindruck stiller, doch selbstbewusster Kraft".
Zu der homosexuellen Liebesgeschichte, die die Beschreibung gleich zu Beginn von Pierre Lotis Roman "Mein Bruder Yves" vermuten lässt, kommt es nicht. Zu mehr als brüderlicher Vertrautheit lassen sich dessen Protagonisten aber nicht hinreißen.
Exotistischer Blick auf den Orient
Der 1850 als Julien Viaud geborene Autor zählt zur naturalistischen Literatur. Als Marineoffizier reiste er rund um die Welt. Mit den Romanen, in denen er seine Erlebnisse verarbeitete, begründete das Mitglied der Académie Francaise den exotistischen Blick auf den Orient.
Die Romane "Mein Bruder Yves" und "Die Islandfischer" nehmen im Werk Lotis eine Sonderstellung ein. Nur diese spielen nämlich in der Heimat ihres Verfassers.
Der frühere von beiden beschreibt die Freundschaft eines französischen Offiziers zu dem jungen Matrosen Yves Kermadec. Bei einer gemeinsamen Reise in dessen bretonische Heimat verspricht dieser Ich-Erzähler Yves' alter Mutter, "solange er lebt, über ihn zu wachen, als ob er mein Bruder wäre".
Wunderbare Wiederentdeckung
Mehr als einmal muss er ihn aus Notlagen befreien. Gefangen in einem Teufelskreis aus Armut, Jähzorn und Trunksucht landet Yves immer wieder in der Gosse oder in den Eisen der Schiffsgefängnisse.
Während vieler gemeinsamer Einsätze entwickelt sich im Laufe von acht Jahren eine tiefe Zuneigung. Die auch dann noch andauert, als Yves heiratet, Vater und schließlich an Land sesshaft wird.
Der 1883 erstmals in Frankreich erschienene Roman in der deutschen Übersetzung von Robert Prölß von 1901 ist eine wunderbare Wiederentdeckung. Dass er in dem auf homoerotische Literatur spezialisierten Verlages Männerschwarm neu aufgelegt wird, mag verwundern.
Es gibt keinen gesicherten Beleg, dass Pierre Loti tatsächlich homosexuell war. Dass er mit dem Roman ein homoerotisches Interesse maskierte, spiegelt sich freilich darin, dass er seinen realen Freund Pierre Le Cor, der das Vorbild für die Romanfigur Yves abgab, auf einer Zeichnung als nackten Druiden vor keltischer Landschaft zeichnete.
Eros der Zuwendung
Der Kern des Romans liegt aber in einer Art Eros wechselseitiger Zuwendung – über alle Klassenschranken. Weil der Ich-Erzähler seinen "Bruder" Yves nie fallen lässt, wandelt sich dieses frühe Beispiel einer toxischen Männlichkeit in einen zivilisierten Zeitgenossen. Während die Begegnung mit dem einfachen Wesen des Matrosen wiederum den Offizier ändert.
"Mein Bruder Yves" ist eine faszinierende Milieuzeichnung des armen, ländlichen Frankreichs am Ende des 19. Jahrhunderts. Zugleich ist der Roman eine melancholische Hommage an "die alte Bretagne, die nun abstirbt": Das Land der Kelten mit seinen granitenen Kapellen, Strohdächern und düsteren Landschaften.
Subtile Psychologie der Protagonisten
Die Stärke des Romans liegt in der subtilen Psychologie seiner Protagonisten. Der jähe Wechsel Yves' etwa zwischen einem Menschen, der dem "Dämon des Alkohols" erliegt und dem Mann, der in das "Lächeln eines Kindes" zurückfällt.
Und wenn Loti seinen Protagonisten über den "purpurfarbenen Fingerhut" schwärmen lässt, "dessen Rispen wie rote Raketen emporstiegen und die bretonischen Silenen, welche auf all dieses frische Grün ihre kleinen Karminsterne streuten", zeigt er sich als Autor, der noch einer Obsession erliegt: dem Eros der Natur.