Pilsen

Die Bierstadt kann auch Kultur

Werbung für die Kulturhauptstadt 2015 in Pilsen, Plzen.
Pilsen - Motto der Kulturhauptstadt 2015 © imago
Von Olga Hochweis und Adolf Stock |
Lange Zeit galt Pilsen vor allem als die Stadt des Bieres und der Schwerindustrie. Als europäische Kulturhauptstadt 2015 will sich die Stadt öffnen für andere Facetten ihrer Identität. Zum Beispiel für ihre literarische Tradition.
Bedřich Smetana erinnert sich an Pilsen, die Stadt seiner Jugend. Ein literarischer Spaziergang durch die europäische Kulturhauptstadt 2015 nimmt seinen Anfang staatstragend, mit der tschechischen Nationalhymne. Sie trumpft nicht auf, sondern ist voller Poesie. Eine Hymne mit Volksliedcharakter.
Andrea Königsmarková – im Hauptberuf Literaturwissenschaftlerin – singt die tschechische Nationalhymne. „Kde domov můj – wo meine Heimat ist". Geschrieben hat den Text der tschechische Dramatiker Josef Kajetán Tyl. Er starb 1856 in Pilsen, als er hier mit seiner Wanderbühne Station gemacht hatte. Das Theater in Pilsen trägt heute seinen Namen. Der noch junge Rainer Maria Rilke, ebenfalls in Böhmen geboren, hat dem großen Patrioten Tyl ein Gedicht gewidmet:
Da also hat der arme Tyl
sein Lied «Kde domov můj» geschrieben.
In Wahrheit: Wen die Musen lieben,
dem gibt das Leben nicht zuviel.
Ein Stübchen - nicht zu klein dem Flug
des Geistes; nicht zu groß zur Ruhe. -
Ein Stuhl, als Schreibtisch eine Truhe,
ein Bett, ein Holzkreuz und ein Krug.
Doch wär er nicht für tausend Louis
von Böhmen fort. Mit jeder Fiber
hing er daran. - «Ich bleibe lieber,»
hätt er gesagt, «kde domov můj»."
Das Rilke-Gedicht ist ein Reflex auf Tyls „Zimmerchen", dessen Nachbau auf einer böhmischen ethnographischen Ausstellung 1895 in Prag zu sehen war. Rilke erwies sich als Freund der Tschechen, denn die Ausstellung wurde von national gesinnten Deutschen gemieden.
Verantwortlich für das Kulturhauptstadt-Programm: der Sohn des Oscar-Preisträgers Miloš Forman
Wie einst der „arme Tyl" macht auch Petr Forman heutzutage eine Form von Wandertheater. Mit seinem Zwillingsbruder Matěj hat der Schauspieler, Künstler und Puppenspieler eine Artisten-Kompagnie gegründet, die viele Länder bereist. Nun macht der Sohn des Filmemachers und Oscar-Preisträgers Miloš Forman längere Station in Pilsen. Er ist verantwortlich für das künstlerische Programm der Kulturhauptstadt 2015. „Open up" lautet ihr offizielles Motto – es bezieht sich auf die Bierstadt Pilsen, die sich auch kulturell öffnen will.
„Ich habe mir diesen Slogan nicht ausgedacht – aber er passt sehr gut zu der Idee, die ich verfolge. In Pilsen gibt es eben dieses Symbol des Bieres, das ist die Stadt des Bieres. Das ist nah dran an dem, was die Menschen hier wirklich mögen – ich übrigens auch: das Bier. Aber wir sind ein bisschen verschlossen, was unseren geistigen Horizont angeht, etwas konservativ... Das sagen die Leute auch von sich selbst sehr oft hier: ‚ich bin konservativ'. Natürlich kann ich ihnen schlecht vorschreiben, sich zu öffnen. Aber ich will ihnen Angebote machen, die vielleicht Stück für Stück eine Öffnung mit sich bringen. Das ist der einzige Weg."
Eine üppige Familiensaga, die an die "Buddenbrooks" erinnert
Petr Kučera; „Herzlich Willkommen in Pilsen! Jetzt stehen wir vor einem Haus, wo die berühmte Prosaikerin Gertrud Fussenegger lebte. Sie besuchte das Mädchengymnasium in Pilsen. Hier machte sie Abitur im Jahre 1930, und in diesem Haus beobachtete sie die böhmisch-tschechisch-sprachigen Diener und Hausmädchen, und sie hat auch ein bisschen gelitten später – das lesen wir in den Tagebüchern –, da sie eigentlich kein Tschechisch sprach."
Zu Fuß gehen wir mit Petr Kučera und seiner Kollegin Andrea Königsmarková durch die Stadt. Petr Kučera unterrichtet Germanistik und Bohemistik an der Universität Pilsen. Und er beschäftigt sich mit deutschen und tschechischen Autoren, deren Leben mit Pilsen verbunden ist. Wie das der Schriftstellerin Gertrud Fussenegger.
„Geboren wurde ich in Pilsen, im Haus meiner Großeltern, demselben, das ich in einem meiner Bücher als das Haus der Familie Bourdanin beschrieben habe; in einer Wohnung also, die vollgestopft war mit einem Wust altmodischer Möbelstücke, Gipsfiguren, Ahnenbildern und heroischer Erinnerungen, mit falschgehenden Uhren, halbblinden Siegeln und laubgesägtem Ziergerümpel."
1979 ist Gertrud Fusseneggers Autobiografie unter dem Titel „Ein Spiegelbild mit Feuersäule" erschienen. Auch ihr Roman „Das Haus der dunklen Krüge" von 1951 spielt in Pilsen. Es ist eine üppige Familiensaga, die an die Buddenbrooks von Thomas Mann erinnert, auch wenn – nicht nur geographisch – Welten liegen zwischen der böhmischen Provinzstadt und der stolzen Hansestadt Lübeck:
Es ist an Stadt und Land nicht viel Bemerkenswertes im Sinne der Poesie: ein flachwelliges Hügelgelände, recht fruchtbar und ergiebig; eine Stadt, tüchtig und planvoll erbaut, ziemlich alt, aber beileibe keine strahlende Sehenswürdigkeit: In der Mitte ein großer viereckiger Marktplatz, Ring genannt, in rechten Winkeln ziehen die Straßen von ihm, da und dort eine Gasse in der Quere, in der Mitte des Marktes die Kirche mit dem sehr hohen Turm; die Kirchenhalle aus der gotischen Zeit, aber auch sie ohne besonderen Aufwand oder großes Genie erbaut, mit einer rundbäckigen und bäurisch blickenden Madonna auf dem Hochaltar."
Wo das erste tschechisch-sprachige Buch gedruckt wurde
Rund um die St.-Bartholomäus-Kathedrale finden sich die reichen Bürgerhäuser der Stadt.
Andrea Königsmarková: „Hier an der Ecke befand sich das sagenumwobenste Haus in Pilsen. Sie haben eine Sage von den Pilsener Alchemisten. Sicher ist es auch im Zusammenhang mit dem Kaiser Rudolf, dass es so populär war, diese Thematik der Alchemisten und Suche nach Gold und so weiter. ... Die Gründe der Häuser sind überwiegend aus der Renaissancezeit. Das kann man auch ganz schön an dem Rathaus sehen. Oder hier direkt neben dem Rathaus ist das Kaiserhaus, aber auch viele Portale sind aus der Renaissancezeit."
Die Häuser am Ring künden von großen Kapiteln der Vergangenheit. 1468 wurde in Pilsen das erste tschechisch-sprachige Buch gedruckt, die Trojanische Chronik – in einer Druckerei, die bis 1533 immerhin die einzige böhmische im Königreich war. Für ein knappes Jahr war Pilsen sogar die Hauptstadt dieses Königreichs, als Rudolf II. 1599 vor der Pest in Prag hierher flüchten musste. Doch sein Aufenthalt in Pilsen war viel zu kurz, um Heimatgefühle zu entwickeln. Ein stets wiederkehrendes Muster, auch für Literaten.
Gertrud Fussenegger beschreibt Pilsen als einen grundsoliden Ort, der aber nicht als Heimat dient. Die Stadt ist ihr kein sicherer Hafen, sondern bleibt Hintergrund. Weit wichtiger als der reale Ort sind die soziale Herkunft und die Sprache. Ein Deutschtum, das sich gegenüber der tschechischen Bevölkerung und den in Pilsen ansässigen Juden stolz und selbstbewusst zeigt. Alles von Bedeutung ist in Fusseneggers Augen österreichisch-deutsch.
In ihrem Roman „Das Haus der dunklen Krüge" wird noch einmal eine Welt beschworen, die es noch gab, als Gertrud Fussenegger 1912 geboren wurde. Eine vermeintlich heile Welt, die sie in ihrer Literatur verklärt.
"Grande Dame und alte Sau": die Schriftstellerin Gertrud Fussenegger
Zwei Jahre später werden die Menschen „wie Vieh auf die Schlachtfelder des 1.Weltkriegs geführt". So hat es Hašeks Švejk formuliert. 1918 bedeutet für die Tschechen nicht nur das Ende ihrer Unterdrückung, sondern auch den langersehnten Beginn ihrer Unabhängigkeit, mit der Gründung des ersten eigenen Staates, der Tschechoslowakei.
Petr Kučera: „Die meisten Deutschsprachigen flohen nach 1918 nach Wien, das waren meistens die österreichischen Beamten, und sie waren hier nur dienstlich. Sie hatten keine innere Beziehung zu Pilsen und zu Böhmen, und sie kehrten zurück nach Wien."
Nach dem Ersten Weltkrieg verlässt Gertrud Fussenegger Pilsen und zieht mit ihren Eltern nach Vorarlberg und Tirol. Als ihre Mutter gestorben ist, kommt sie zurück nach Pilsen, lebte für einige Jahre bei ihren Tanten, um das deutschsprachige Gymnasium zu besuchen, wo sie 1930 ihre Matura ablegt.
Gertrud Fussenegger wird Schriftstellerin. Sie hat in ihrem langen Leben mehr als 60 Bücher geschrieben, darunter historische Werke, Erzählungen und eine stattliche Anzahl Gesellschaftsromane. Doch ohne die Stadt Pilsen lässt sich weder ihr Werk noch ihre fatale Nähe zum Nationalsozialismus verstehen. Der Literaturwissenschaftler Petr Kučera:
„Vielleicht wissen Sie, dass Gertrud Fussenegger eine kontroverse Persönlichkeit ist. Sie erhielt zwar 1992 von dem Oberbürgermeister von Pilsen einen Preis, aber die meisten Tschechen, die überhaupt diesen Namen kennen, bezeichnen sie als die Nazi-Aktivistin. Das ist die alte Nazi-Schriftstellerin für uns. Eigentlich ist das ein bisschen komplizierter. Sie war zwar Mitglied der österreichischen NSDAP, sie hat auch einen Hymnus an Adolf Hitler geschrieben, aber nach dem Zweiten Weltkrieg war sie bemüht, diese Episode zu überwinden, und jetzt gilt sie als eine humanistisch orientierte Schriftstellerin. Es gibt immer Streitigkeiten um das Werk von Gertrud Fussenegger."
Als sich 2012 ihr Geburtstag zum 100. Mal jährte, titelte die Wiener Zeitung: „Grande Dame und alte Sau". Gertrud Fussenegger spaltet bis heute die Gemüter. Unbestritten bleibt, dass sie eine exzellente Erzählerin ist, mit einer genauen Beobachtungsgabe und poetischem Feingefühl.
Stadtchronistin mit fataler Nähe zum Nationalsozialismus
Als Chronistin für die Stadt Pilsen ist Gertrud Fussenegger wichtig, denn sie erzählt von den tiefgreifenden Veränderungen des letzten Jahrhunderts und in den Zwischenkriegsjahren.
Meine Umgebung: Deutsche und Juden, Juden als Deutsche, Deutsche weil Juden. Unsere Schule halb privat, halb öffentlich. Stiefkind der staatlichen Behörde. Die Schülerinnen, zur Hälfte mosaischer Konfession. Unsere Lehrer zu einem Drittel Juden. Im Vorstand des deutschen Kulturvereins: Juden. Der deutsche Tanzmeister: ein Jude. Der deutsche Buchhändler konnte sich nur halten, weil er von der Kulturgemeinde unterstützt wurde. So sitzen Deutsche und Juden in einem Boot. Noch sitzen sie in einem Boot.
Zuerst kommt Jerusalem, danach Budapest und dann Pilsen. An der Sady pětatřicátníků, einer der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt, steht die drittgrößte Synagoge der Welt.
Ende des 19. Jahrhunderts wird die große Synagoge erbaut. Sie hat die Nazi-Herrschaft nur überlebt, weil eine Sprengung des Gebäudes auch ein anliegendes deutsches Kulturhaus in Mitleidenschaft gezogen hätte. Ursprünglich sollte die Synagoge noch viel größer werden. Es gab Pläne, sie im gotischen Stil zu bauen, was der Pilsener Stadtrat zu verhindern wusste. Man wollte die Identität der christlichen Bevölkerung nicht gefährden. Die St.-Bartholomäus-Kathedrale sollte keine Konkurrenz bekommen. So kommt es zu einer Synagoge im romanisch-maurischen Stil.
Zurück auf der Straße, geht es mit Andrea Königsmarková weiter durch die Stadt:
„Hier sehen wir das Theater, das wurde nach dem Vorbild des Nationaltheaters in Prag gebaut."
Das ‚Große Theater' ist ein Neorenaissancebau mit Jugendstil-Elementen, der 1902 eröffnet wurde. Benannt nach Josef Kajetán Tyl, dem Verfasser der tschechischen Nationalhymne, die für die Tschechen Volksliedcharakter hat. Im Smetana-Park, in Sichtweite des Theaters, spielt die Kapelle des 35. Infanterieregiments aus Pilsen.
„Sie Liebe meiner Jahre, Sie waren meine ganze Welt", heißt es im Text. Ein Liebeslied. Einige Zuhörer singen mit. Peter Kučera kommt noch einmal auf Tyl und andere seiner Werke zurück.
„Josef Kajetán Tyl schrieb vor allem historische Dramen und Märchen. Die Märchen sind sehr lyrisch, nicht besonders dramatisch, aber trotzdem sehr beliebt. Er war eigentlich kein Pilsener, aber mit Pilsen ist er mit dem Tod verbunden, und deswegen heißt auch das Theater nach ihm so."
Karel Klostermann: ein Deutscher, der auch auf Tschechisch schrieb
Keine Durchgangsstation, sondern langjährige Heimat wird Pilsen für Karel Klostermann, geboren 1848 als Carl Faustin Klostermann in einer deutschsprachigen Familie aus dem Böhmerwald. Ein Medizinstudium in Wien bricht Carl, ältestes von zehn Kindern eines Arztes, nach zehn Semestern ab. Der journalistisch interessierte junge Mann kommt als 25-Jähriger nach Pilsen, als sogenannter Supplent – also nicht festangestellter Lehrer auf Probe – am deutschen Realgymnasium. Klostermann, der zehn Sprachen beherrscht, unterrichtet hier Französisch und Deutsch. Und er bleibt an dieser Schule beschäftigt bis zu seiner Pensionierung, wird hoch geehrter Stadtrat und Ehrenbürger von Pilsen.
„Er war eigentlich kein Tscheche, aber er hat tschechisch gesprochen und auch tschechisch geschrieben. Seine Feuilletons hat er in den Zeitungen veröffentlicht und dann in dem ersten Buch die ‚Böhmerwaldskizzen' versammelt. Aber das Buch hatte damals keinen Erfolg. Deswegen begann er, auf Tschechisch zu schreiben. Und auf Tschechisch war er paradoxerweise sehr erfolgreich."
Als Karel Klostermann 1923 mit 75 Jahren stirbt, hinterlässt er dreißig auf Tschechisch verfasste Bücher, naturalistische und realistische Romane und Erzählungen überwiegend aus dem Leben der kleinen Leute: von Holzhauern und Glasmachern, aber auch von Wilderern und Viehdieben. Es sind Bücher, für die der Deutsche gleich fünfmal den Preis der Tschechischen Akademie erhält.
Im Epilog zum zweiten Teil der „Böhmerwaldskizzen" schreibt er 1890 mit besorgtem Blick auf nationalistische und ausgrenzende Tendenzen der Deutschböhmen:
Ich sehe nicht ein, warum man nur dann deutsch sein und sein deutsches Stammvolk lieben könnte, wenn man zugleich seine slavischen Nachbarn hasst und verdächtigt. (...) Also, nochmals sei es laut gesagt: die Liebe zu meinem deutschen Stammvolk, an dessen geistiger Arbeit ich mit Begeisterung partizipiere, hindert mich durchaus nicht, meine slavischen Mitbrüder und Heimatgenossen mit gleicher Freundschaft zu umfassen und ihnen in jeder Hinsicht alles Erdenkliche Gute zu wünschen.
Für religiöse Toleranz und friedliches Miteinander
Petr Kučera: „Karl Klostermann gehört neben Adalbert Stifter und Maximilian Schmidt zu den bedeutendsten Autoren des Böhmerwaldes. Und vielleicht war er nicht so beliebt als deutschsprachiger Autor von den Feuilletons, weil er ziemlich fremde Ideen durchgesetzt hat: das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen, die religiöse Toleranz, eine entgegenkommende Einstellung zu den Juden, das war damals alles ziemlich unakzeptabel. Und auch eine ökologische Einstellung zur Natur. Also die Natur, der Böhmerwald, das war ein Wesen, kein Raum für die Exploration, kein Wirtschaftsraum, sondern wirklich ein Lebewesen sozusagen. Eine mystische Figur. Heute ist er auch bei den deutschen Lesern sehr beliebt, deshalb erscheinen die Bücher auch auf Deutsch."
Karel Klostermann bleibt in Pilsen eine Einzelfigur. Ein Salon für deutschsprachige Literaten existiert hier nicht. Einen literarischen Zirkel gibt es nur im benachbarten Prag. Zu ihm gehört Oskar Baum, der 1883 in Pilsen geboren wird, wo er auch seine Jugend verbringt, bevor er die Stadt in Richtung Wien und Prag verlässt.
„Oskar Baum, der jüdische Prosaiker, der zum Prager Literaturkreis gehört wie Felix Weltsch oder Franz Kafka, Max Brod, Johannes Urzidil, machte hier sein Abitur, aber seit zwölf Jahren war er blind. Also, die Schönheit der Welt hat er hier in Pilsen und in Westböhmen erkannt. Und die wichtigsten Romane von Oskar Baum behandeln die Thematik der blinden Menschen, das war die große Innovation in der modernistischen Prosa der Zwischenkriegszeit, die Gefühle und Erinnerungen und Vorstellungen der blinden Menschen zu beschreiben... Also normalerweise wird Oskar Baum nur in dem Prager Kontext erwähnt, obwohl er bis 18 Jahre hier in Pilsen gelebt hat."
Um die Jahrhundertwende verlässt Oskar Baum seine Geburtsstadt. Karel Klostermann hat zu diesem Zeitpunkt bereits rund drei Jahrzehnte in seiner Wahlheimat Pilsen verbracht. Aber die Stadt hat auch in seiner Literatur kaum Spuren hinterlassen. Nur ein einziges Mal fällt der Name Pilsen in Klostermanns „Böhmerwaldskizzen". Da geht es um das dortige „berühmte Salzmann´sche Bier". „Gebenedeiten Andenkens", wie sich der Ich-Erzähler wehmütig und etwas neidisch angesichts des „etwas wärmlichen und nicht übermäßig moussierenden" Bier-Angebots im Böhmerwald erinnert.
In Bier-Gott Gambrinus' Reich
Wer an Pilsen denkt, denkt an Bier. Das war zu Zeiten von Karel Klostermann nicht anders als heute. Vor Ort wird schnell klar, dass das Bier für Pilsen mehr als nur ein Klischee ist. Die Brauerei beherrscht ein stattliches Areal der inneren Stadt. Knapp neun Millionen Hektoliter Pilsener Urquell verlassen jährlich die Brauerei. Nicht nur wirtschaftlich, auch mental spielt das Bier in der Stadt eine bedeutende Rolle, und wenn überhaupt, findet sich hier ein beständiger Halt für die brüchige Pilsener Seele.
Gott Gambrinus ist ein behaglicher Gott; in seinem Dunstkreis gedeihen keine Revolutionen, keine Umstürze und geistige Heldentaten. Wer gerne Bier trinkt, wird friedlich-dumpf und still-behäbig. So blieb auch diese Stadt friedfertig, auf stilles Wachstum bedacht.
Auch die Famile Bourdanin kommt aus einer alten Brau-Dynastie, die in dem Roman „Das Haus der dunklen Krüge" von Gertrud Fussenegger eine zentrale Rolle spielt.
In vielen kleinen Braustuben, so war es der Brauch, wurde von den Bürgern, die dazu bemächtigt, also brauberechtigt waren, der kräftige Malzsaft gesotten. Gassen und Straßen, Höfe und Häuser dufteten säuerlich nach Hefe. 1842 kommt der Brauer Josef Groll aus Vilshofen nach Pilsen. Dort kreiert er das Pilsener Bier. Die Mutter aller Biere, jedenfalls jener Gerstensäfte, die einen hohen Hopfenanteil haben und mit dem Namen Pils in Verbindung stehen.
„Ein Geheimnis ist der rosa Hopfen", sagt die noch junge Frau, während sie die Besuchergruppe durch das weitläufige Brauereigelände führt: die vielen blank geputzten Kupferkessel, die riesige Abfüllanlage und die unendlichen Keller und Katakomben, wo das Bier in riesigen Holzfässern gelagert wurde, bis es in glänzenden Stahlkesseln verschwand, die kein lohnendes Objekt der Besichtigung mehr sind.
Rothopfen kommt aus der Gegend rund um die böhmische Stadt Saaz. Er bürgt für Qualität und die goldgelbe Farbe des Pilsener Biers. Pilsener Urquell gehört seit 1999 zu South African Breweries, einem Konzern, der 2002 von SAB Miller aus den USA übernommen wurde, dem zweitgrößten Bierkonzern der Welt. Doch der Standort Pilsen wird sorgsam gepflegt, denn die hier verwurzelte Tradition lässt sich nicht durch ein X-beliebiges Marketing-Konzept ersetzen.
Die dunklen Jahre des Kommunismus
Andrea Königsmarková: "Darunter, das ist die Americká Straße, da befindet sich ein Denkmal zur Erinnerung an die amerikanische Armee, die im Jahre 1945 die Stadt befreit hat. Es waren die Amerikaner, die Pilsen befreit haben, ja."
Unser Weg durch Pilsen führt zur Sady pětatřicátníků. Andrea Königsmarková erinnert an eine historische Tatsache. In Pilsen durfte man sie lange Jahre nicht aussprechen. Bis 1989 pflegt man in der kommunistischen Tschechoslowakei den Mythos einer Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee. Heute erinnern viele Fotografien im Rathaus und nicht zuletzt dieses Denkmal im Zentrum der Stadt daran, wie Pilsen 1945 von der US-Armee befreit wurde, als junge Frauen mit den Amerikanern Swing tanzen.
Drei Jahre später ist es mit dem Swingtanzen vorbei. Der Februarputsch 1948 läutet die dunklen Jahre des Kommunismus ein. Es folgen die Verstaatlichung von Betrieben, die Enteignung privater Unternehmer, Verhaftungen, antisemitische Verfolgung, deren Tiefpunkt die Slánský-Prozesse mit der Hinrichtung jüdischer Funktionäre ist. Die politische Liberalisierung unter Dubček öffnet ein Fenster zur Freiheit und lässt die 60er-Jahre für kurze Zeit zu einer künstlerischen Blütezeit werden. In Pilsen gründet Josef Hrubý im Juni 1963 die Gruppe „Červen 63".
Er knüpft Kontakte zu Dichtern jenseits der Landesgrenze, zu Volker Braun oder Reiner Kunze in der DDR, aber auch zu Ilse Aichinger und Günter Eich, die nur wenige Kilometer entfernt im Bayerischen Wald wohnen. Nach Ende des Prager Frühlings erhält Hrubý 1968, wie manche seiner Kollegen, Publikationsverbot. Und er verliert seine Stelle als Leiter der Pilsener Stadtbibliothek. „Den Kopf voll Safran" heißt eine Auswahl seiner Gedichte, die in der Übersetzung von Waltraud Seidlhofer 2006 in der deutschen Edition Lichtung erschienen sind.
Leichtfüßige Momentaufnahmen: die Gedichte Josef Hrubýs
"Von neuem

verzeih ich habe keine Zeit
wiederum scheuert mir jemand die Seele
wiederum nimmt mich jemand fest
wiederum guckt jemand durch den Türspion
und von neuem urteilen sie
lebenslänglich

Das haben Gedichte gern
lebenslänglich
das gefällt ihnen"
„Ich schreibe ein Gedicht manchmal in 5 Minuten, aber dazu sind 60 Jahre zuvor nötig gewesen" wird Josef Hrubý im Nachwort zu seinem Gedichtband „Netze" zitiert, der 1999 bei der Berliner "Corvinus Presse" auf Deutsch erschienen ist. Heute ist Hrubý 82 Jahre alt, ein distinguierter älterer Herr, Träger verschiedener tschechischer Literaturpreise und lange Jahre Mitglied des westböhmischen PEN-Clubs.
Wie Karel Klostermann ist Josef Hrubý ein Kind des Böhmerwalds. Geboren 1932 in Černětice, aufgewachsen in großer Freiheit mit einer Großmutter, die dem Kind einschärft, „im Böhmerwald müsse er jeden Tag auf ein Gespenstlicht neugierig sein", geht Hrubý der Welt mit „geöffnetem Körper", neugierig und offen entgegen. Die kindliche Freiheit in der Natur hat sein Werk geprägt, die Orte der frühen Jahre trägt er bis heute in sich. Bis zu seinem 18. Lebensjahr hatte Hrubý bereits 4000 Gedichte geschrieben, doch erst zehn Jahre später erscheint ein erster Gedichtband.
Orte als Folien für innere Bewegungen
Selten beschreiben Hrubýs Gedichte einen konkreten Ort, auch wenn die Kreidefelsen von Rügen, die Abruzzen oder Regensburg auftauchen. Sie bleiben die Folie für innere Bewegungen; sind zutiefst subjektive Momentaufnahmen eines lyrischen Ichs und seines Gegenübers.
Das gilt auch für das Gedicht „Franta" – mit deutlichen Wegmarkierungen aus Pilsen. Es ist Franta Fabian gewidmet, mit dem Hrubý in Pilsen die erwähnte Gruppe „Červen 63" gegründet hat.
„Franta

Er zeichnete eine Mappe mit lyrischen Stellen
zeichnete ein
zwei Erlen eine Allee Linden Brunnen
das Wehr auf dem Fluss
die weiße Tramvaj
das Gasthaus zum Horn
die Stadt-Straße
das Tor der Sokol-Turnhalle
den Zusammenfluß von Ùslava und Radbuza
Gemüsegärten
Tennisplätze und die zwei
die auseinandergehen
sie zum Haus am Platz
er zum Altan hinter der Schule"
Verwehte Spuren der Brüche und Aufbrüche Pilsens
Es scheint mit Pilsen und der Literatur ein bisschen, wie in diesem Gedicht von Josef Hrubý angedeutet ist: Die Poetisierung der Stadt bleibt Stückwerk. Und doch sind in Pilsen sowohl die leichtfüßigen Gedichte von Josef Hrubý entstanden wie auch Karel Klostermanns beseelte „Böhmerwaldskizzen". Und auch Teile der berühmten „Briefe an Olga" von Václav Havel, der Anfang der 80er-Jahre im Gefängnis von Pilsen-Bory saß, haben auf diese fragmentierte Weise mit Pilsen zu tun. Kein Ort der Heimat, der den romantischen Vorstellungen eines genius loci entspricht, sondern eine Fülle unterschiedlicher Identitäten. Verwehte Spuren der Brüche und Aufbrüche einer Stadt. „Open up" – das bleibt ein Langzeit-Projekt für Pilsen. Davon ist Petr Forman, künstlerischer Leiter der Kulturhauptstadt 2015, überzeugt.
„Auch nach 25 Jahren entwickeln sich die Dinge meiner Meinung nach doch immer noch sehr langsam ... Man sieht natürlich viele Unterschiede – vieles, was sich hier verändert hat. Wer Pilsen noch von früher kennt, weiß, dass die Stadt dunkel und kaputt war. Also was den physischen, den optischen Zustand betrifft, geht es voran. Pilsen ist da sehr erfolgreich und hat große Fortschritte gemacht, aber in unseren Köpfen, da entwickeln sich die Dinge doch sehr langsam."
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