Pioniere der NS-Aufarbeitung
Die bundesdeutsche NS-Aufarbeitungsgeschichte kam schwer in Gang. 1959 nannten Studenten in der Karlsruher Ausstellung "Ungesühnte Nazi-Justiz" erstmals Namen von Funktionsträgern, die trotz Nazi-Verbrechen weiter im Amt waren. Wie groß der Tabubruch damals war, ist heute kaum noch vorstellbar.
Wer hat das Beschweigen der NS-Verbrechen nach 1945 gebrochen? Die 68er? War Adenauers große Umarmung der NS-Täter realpolitisch alternativlos? Können wir stolz sein auf unsere Aufarbeitungsleistung? Auf diese Fragen gibt es heute im vorherrschenden öffentlichen Bewusstsein klare Antworten: Ja, die 68er; ja, alternativlos; ja, nach unrühmlichen Anfängen können wir heute auch ein bisschen stolz sein.
Wer sich damit nichtzufrieden gibt, wer genauer wissen und verstehen will, wie sich die Bundesrepublik nach der NS-Katastrophe entwickelt hat, dem sei das Buch von Gottfried Oy und Christoph Schneider ans Herz gelegt. Es ist ein aufschlussreiches Buch, das nicht mit großem Geschrei auf den Buchmarkt drängt.
Das Buch enthält drei Teile, die aufeinander aufbauen: ein Interview, einen wissenschaftlichen Aufsatz und einen Essay. Im Vordergrund steht das Interview mit Reinhard Strecker, einem Pionier der NS-Aufarbeitung. Die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz", die er zusammen mit einer Gruppe von Studenten 1959 erstmals in Karlsruhe zeigte, trug maßgeblich dazu bei, dass das Schweigen über die NS-Verbrechen und -Verbrecher gebrochen wurde. Denn die Ausstellung wagte, Täter beim Namen zu nennen, die wieder in Amt und Würden waren. Die Buchautoren haben mit Strecker ein Interview geführt, das ein eindrucksvolles Sittengemälde der bundesdeutschen 50er- und 60er-Jahre zeichnet. Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, was ein Tabubrecher um 1960 erlebte.
Im zweiten Teil schließt Gottfried Oy an die persönliche Geschichte Streckers an und fragt: Verdanken wir der 68er-Studentenbewegung, dass das eisige Schweigen gebrochen wurde? Oy gelingt es, das in der Öffentlichkeit vorherrschende schiefe Bild zurechtzurücken. Strecker war Teil der Neuen Linken, die um 1960 eindrucksvolle Beiträge geleistet hat, die NS-Zeit in ihren ganzen Dimensionen zu verstehen.
Im Laufe der 60er-Jahre jedoch, als aus den kleinen Anfängen der Neuen Linken die große Studentenbewegung wurde, ging dies verloren. Der Kampf um die Weltrevolution löste die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ab. Das große Schweigen wurde nicht von den rebellierenden Studenten gebrochen, sondern von ihren Vorläufern.
Oy beschreibt, wie zunächst die alte - sozialdemokratisch-gewerkschaftliche und die kommunistische - Linke an der Aufarbeitung scheiterte, weil die nicht in die Tagespolitik passte. Die Neue Linke schien es besser zu machen und scheiterte dann ebenfalls - auf andere Weise, aber aus vergleichbaren Gründen.
Im dritten Teil weitet Christoph Schneider in einem Essay noch einmal den Blick auf die ganze Entnazifizierungs- und Aufarbeitungsgeschichte. Er macht deutlich, dass die Renazifizierung der westdeutschen Gesellschaft nach 1949 noch viel schlimmer war als heute gemeinhin angenommen. Er zitiert Planungen in der US-Administration ab 1943, einen demokratischen Neuaufbau Deutschlands nach dem Krieg ganz anders anzugehen, als Adenauer dies tat. So war eine Alternative zu Adenauers Integrationsstrategie zumindest denkbar. Vor allem aber fragt Schneider nach den Konsequenzen, die die Rückführung der NS-Täter in die Machtpositionen hatte. Seine Antworten auf diese Frage lassen die verbreitete deutsche Aufarbeitungs-Selbstzufriedenheit in einem anderen Licht erscheinen.
Historisch interessierten Lesern ist das Buch sehr zu empfehlen. Mit der Konkretion der persönlichen Geschichte eines Aufarbeitungspioniers und der Reflexion der bundesdeutschen Entwicklung ist es klug aufgebaut, mit den Erläuterungen von Namen, Begriffen und Hintergründen ist es auch verständlich für alle, die die historischen Details nicht kennen. Was fehlt, ist - neben einem Register - Bildmaterial. Leider bekommt man nur auf dem Titelbild eine Ahnung davon, wie trocken die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" aufgemacht war, die trotzdem so viel Aufsehen erregte.
Besprochen von Winfried Sträter
Wer sich damit nichtzufrieden gibt, wer genauer wissen und verstehen will, wie sich die Bundesrepublik nach der NS-Katastrophe entwickelt hat, dem sei das Buch von Gottfried Oy und Christoph Schneider ans Herz gelegt. Es ist ein aufschlussreiches Buch, das nicht mit großem Geschrei auf den Buchmarkt drängt.
Das Buch enthält drei Teile, die aufeinander aufbauen: ein Interview, einen wissenschaftlichen Aufsatz und einen Essay. Im Vordergrund steht das Interview mit Reinhard Strecker, einem Pionier der NS-Aufarbeitung. Die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz", die er zusammen mit einer Gruppe von Studenten 1959 erstmals in Karlsruhe zeigte, trug maßgeblich dazu bei, dass das Schweigen über die NS-Verbrechen und -Verbrecher gebrochen wurde. Denn die Ausstellung wagte, Täter beim Namen zu nennen, die wieder in Amt und Würden waren. Die Buchautoren haben mit Strecker ein Interview geführt, das ein eindrucksvolles Sittengemälde der bundesdeutschen 50er- und 60er-Jahre zeichnet. Heute kann man sich kaum mehr vorstellen, was ein Tabubrecher um 1960 erlebte.
Im zweiten Teil schließt Gottfried Oy an die persönliche Geschichte Streckers an und fragt: Verdanken wir der 68er-Studentenbewegung, dass das eisige Schweigen gebrochen wurde? Oy gelingt es, das in der Öffentlichkeit vorherrschende schiefe Bild zurechtzurücken. Strecker war Teil der Neuen Linken, die um 1960 eindrucksvolle Beiträge geleistet hat, die NS-Zeit in ihren ganzen Dimensionen zu verstehen.
Im Laufe der 60er-Jahre jedoch, als aus den kleinen Anfängen der Neuen Linken die große Studentenbewegung wurde, ging dies verloren. Der Kampf um die Weltrevolution löste die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ab. Das große Schweigen wurde nicht von den rebellierenden Studenten gebrochen, sondern von ihren Vorläufern.
Oy beschreibt, wie zunächst die alte - sozialdemokratisch-gewerkschaftliche und die kommunistische - Linke an der Aufarbeitung scheiterte, weil die nicht in die Tagespolitik passte. Die Neue Linke schien es besser zu machen und scheiterte dann ebenfalls - auf andere Weise, aber aus vergleichbaren Gründen.
Im dritten Teil weitet Christoph Schneider in einem Essay noch einmal den Blick auf die ganze Entnazifizierungs- und Aufarbeitungsgeschichte. Er macht deutlich, dass die Renazifizierung der westdeutschen Gesellschaft nach 1949 noch viel schlimmer war als heute gemeinhin angenommen. Er zitiert Planungen in der US-Administration ab 1943, einen demokratischen Neuaufbau Deutschlands nach dem Krieg ganz anders anzugehen, als Adenauer dies tat. So war eine Alternative zu Adenauers Integrationsstrategie zumindest denkbar. Vor allem aber fragt Schneider nach den Konsequenzen, die die Rückführung der NS-Täter in die Machtpositionen hatte. Seine Antworten auf diese Frage lassen die verbreitete deutsche Aufarbeitungs-Selbstzufriedenheit in einem anderen Licht erscheinen.
Historisch interessierten Lesern ist das Buch sehr zu empfehlen. Mit der Konkretion der persönlichen Geschichte eines Aufarbeitungspioniers und der Reflexion der bundesdeutschen Entwicklung ist es klug aufgebaut, mit den Erläuterungen von Namen, Begriffen und Hintergründen ist es auch verständlich für alle, die die historischen Details nicht kennen. Was fehlt, ist - neben einem Register - Bildmaterial. Leider bekommt man nur auf dem Titelbild eine Ahnung davon, wie trocken die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" aufgemacht war, die trotzdem so viel Aufsehen erregte.
Besprochen von Winfried Sträter
Gottfried Oy, Christoph Schneider: Die Schärfe der Konkretion - Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2013
250 Seiten, 24,90 Euro
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2013
250 Seiten, 24,90 Euro