Piraten und Personenkult

Von Hans-Joachim Veen |
Sie wird gern kritisiert - die repräsentative Demokratie, die gewählten Abgeordneten das Mandat übergibt, für den Bürger zu entscheiden, und die Parteien zu Foren politischer Debatten macht. Sie wird kritisiert, weil sich Spitzenpolitiker von der Basis entfernen und das Volk sich seinerseits von den Parteien abwendet.
Deshalb sollte die Demokratie direkter werden – durch Volksentscheide oder Einflussnahme per Internet. Die Piraten wie auch der Personenkult seien dabei, einer breiten politischen Diskussion das Wasser abzugraben – zugunsten einer reinen Interessenpolitik, meint dagegen der Politologe Hans-Joachim Veen in seinem Politischen Feuilleton.

Was haben Piraten und Personenkult überhaupt miteinander zu tun? An sich nichts, aber sie beschreiben zwei gegensätzliche Großtrends, die die Demokratieentwicklung in Deutschland essentiell beeinträchtigen können.

Bei den Piraten, die mehr Bewegung als Partei sind, ist das eigentlich Originelle und politisch Brisante die Forderung nach totaler, permanenter und umfassender Partizipation, die sie mit dem Internet ermöglichen wollen. Das Internet soll die technischen Voraussetzungen dafür schaffen, dass jeder einzelne jeder Zeit über jedes Thema mittels ihrer Abstimmungssoftware "Liquid Feedback" entscheiden kann.

So soll es zu einer Verflüssigung der Demokratie kommen, die die Parteien, aber auch die Parlamente am Ende überflüssig macht. Doch wie diese liquide Praxis funktionieren soll, steht in den Sternen. Alle müssen sich beteiligen, online dabei sein. Tatsächlich ist es gegenwärtig nur eine sehr kleine Internetelite, auch nur eine kleine Minderheit der Piraten, denen es mitnichten um ernsthafte Politik geht.

Die Methode ist das Ziel. Sie verheißt Enthierarchisierung, Transparenz und Partizipation total. Doch bei genauerem Hinsehen geht es um klassische Interessenvertretung für Internetnutzer, allerdings einer Nutzung, die alle Lebensbereiche erfassen, die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem verschwinden lassen und die Massen im Internet mobilisieren soll. Genauso fängt, auch wenn ich dies keinem Piraten persönlich unterstelle, totalitäre Bewegung an.

Der Personenkult in den etablierten Parteien ist die andere große Herausforderung für die demokratische Willensbildung. Die CDU wird inzwischen fast uneingeschränkt von der Kanzlerin beherrscht, die SPD von einer Troika dreier Herren mit spezifischen Schwächen gelähmt, drei oder vier konkurrierende Altachtundsechziger dominieren die Grünen und wollen nicht weichen. Und bei FDP und Linkspartei geht es ebenfalls nur noch um Köpfe, die zugegebenermaßen auch Richtungen repräsentieren.

Als plebiszitärer Cäsarismus wurde diese Fehlentwicklung der Demokratie bereits kritisiert, weil dabei die demokratischen Institutionen, Parteien, aber auch Parlamente und das, was sie bewirken sollen, politische Willensbildung und Entscheidungsfindung herabgesetzt, ja, entbehrlich werden. Und dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis der eingeschliffene Cäsarismus fließend in ein autoritäres Regime übergeht, zur "Post-Demokratie" degeneriert.

Die politische Willensbildung muss real, für alle einsehbar und diskursiv bleiben, sie kann nicht das Ergebnis einer digitalen Partizipationsoftware sein. Sie darf aber ebenso wenig von Herrschaftsansprüchen dominiert werden, für die es nur noch um Gefolgschaft und nicht mehr um politischen Diskurs geht.

Der Bürger, der ehrenamtlich Engagierte kommt in den beiden Extremen praktisch nicht mehr vor, ebenso wenig die Parteien als legitime Orte der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung, die sie einmal waren und die sie nach dem Willen des Grundgesetzes auch sein sollen: legitimierende Instanzen einer freiheitlichen und bürgerschaftlichen Demokratie.

Auf der einen Seite wird mehr Partizipation gefordert, auf der anderen werden Orts- und Kreisverbände, einst Machtzentren der Volksparteien, ausgetrocknet. Was für ein Widerspruch!

Ist es ein Trost, zu wissen, dass viele, die den Piraten heute ihre Stimme geben, dieses eher spaßeshalber tun oder aus Verärgerung und Protest gegenüber müde gewordenen Parteien, die ihren Verfassungsauftrag immer weniger wahrnehmen wollen oder können? Die Wiederbelebung der Parteien tut Not, und sie ist alle Anstrengungen der Demokraten wert.

Hans-Joachim Veen, geboren 1944 in Straßburg,
ist ein deutscher Politikwissenschaftler und seit 1994 Honorarprofessor an der Universität Trier. Er studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Geschichte an der Universität Hamburg und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort promovierte er als wissenschaftlicher Assistent von Wilhelm Hennis.

Er arbeitete viele Jahre als Forschungsdirektor in der Konrad-Adenauer-Stiftung (1983-1999) und machte sich einen Namen als Wahl- und Parteienforscher und in der wissenschaftlichen Politikberatung. Ab 2000 leitete er das Projekt "Demokratie- und Parteienentwicklung in Osteuropa", mit dem die Konrad-Adenauer-Stiftung Parteien in jungen Demokratien fördert. Seit 2002 ist er Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Ettersberg in Weimar. Die Stiftung ist der vergleichenden Erforschung europäischer Diktaturen im 20. Jahrhundert und ihrer demokratischen Transformation gewidmet.

Außerdem ist er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) (seit 2008) und moderiert den Geschichtsverbund Thüringen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (seit 2009).

Mehr im Politischen Feuilleton von Hans-Joachim Veen auf dradio.de:

Die Parteien vernachlässigen die Kommunalpolitik!

Oberflächlich und unreflektiert - Die konservative Kritik an der CDU
Hans-Joachim Veen
Hans-Joachim Veen© Carlos Morales-Merino
Mehr zum Thema