Das kurze Jahr der Anarchie im DDR-Fernsehen
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"Kanal X" ging am Tag vor der DDR-Volkskammerwahl im März 1990 auf Sendung. Der Piratenfernsehsender aus Leipzig sprach über Themen, die von Parteiseite verschwiegen worden waren - wie Umweltzerstörung, bröckelnde Bausubstanz oder die freie Kulturszene.
"Vorsicht. Sie sind jetzt auf Sendung bei 'Kanal X'. Es kann gefährlich werden. Auch für Sie. Noch können Sie abschalten."
Eine Warnung mit Augenzwinkern. Am 17. März 1990, demTag vor der Volkskammerwahl, geht der erste und einzige Piratenfernsehsender der DDR auf Sendung. Besetzt wird eine bisher ungenutzte Frequenz im Raum Leipzig.
Die Vorgeschichte begann im November 1989 mit einer Ausstellung westdeutscher Videokünstlerinnen und -künstler in Leipzig. Einer von ihnen war Ingo Günther aus Düsseldorf. "Wir hatten uns dort kennengelernt und haben so ein bisschen über die Situation hier gesprochen und die Informationsdefizite, die es hier gibt", berichtete später der Leipziger Jörg Seyde.
Die beiden entschlossen sich, als Piraten auf Sendung zu gehen. Sie aktivierten ihr Umfeld und fanden Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Leipzig.
Sony spendete Kamera- und Schnitttechnik
Aus Westdeutschland kam der Kölner Videokünstler und Wahlleipziger Norbert Meissner dazu. Seine Eltern waren vor dem Mauerbau aus der DDR geflohen, er selbst hatte Kontakt zu Verwandten und Freunden in der DDR gehalten. Jetzt ging es erst mal darum, dass die Leipziger die für sie neue Technik bedienen konnten.
"Wir hatten ja das Problem, dass die Leute in der DDR nur in Adlershof mit Videotechnik ausgebildet wurden."
In Berlin-Adlershof saß die Hauptproduktionsstätte des DDR-Fernsehens.
Die Westdeutschen Meissner und Günther kümmerten sich auch um die Beschaffung der nötigen Technik. Eigenes und gespendetes Equipment wurde nach Leipzig geschafft. Sogar Sony verschenkte auf Anfrage eine Kamera samt Schnittplatz – im Wert von mehreren Tausend D-Mark – ein kleines Vermögen. "Kanal X" war trotzdem ein Ost-West-Projekt auf Augenhöhe, erinnerte sich Meissner später. "Wir wurden da eigentlich völlig akzeptiert. Abgesehen von mir waren ja eigentlich auch alle mehr oder weniger von dort. Da waren das offene Türen."
Nachrichten, Videokunst und Gewinnspiele
"Alles dreht sich um Leipzig, wir drehen mit", hieß es auf "Kanal X". Vor allem Menschen aus Leipzig waren die Akteurinnen und Akteure vor und hinter der Kamera. Sie befüllten den "Kanal X" mit lokalen und internationalen Nachrichten, Videokunst und Gewinnspielen. Auf dem Plan standen auch Themen, über die bisher in den parteilich kontrollierten Medien nicht offen gesprochen werden konnte – etwa Umweltzerstörung, der Verfall der städtischen Bausubstanz, Prostitution, die freie Kulturszene.
"Deswegen waren unsere Umfragen immer sehr beliebt. Zum Beispiel die Umbenennung von Straßen, Plätzen oder die Einführung der D-Mark, die Wiedervereinigung – also zu diesen wichtigen Themen hatten wir immer so Straßenumfragen gemacht und diese Sachen dann auch ungefiltert gesendet", sagt Meissner.
Die Piratinnen und Piraten schufen einen Freiraum im Äther – wenn auch aus technischen Gründen das Sendegebiet auf den Leipziger Süden und einen Teil des Zentrums begrenzt war. Die Leipziger Öffentlichkeit konnte nun auch über die Fernsehbildschirme mit sich selbst kommunizieren und eigene Themen setzen – Themen, die heute noch aktuell sind, etwa die Forderung nach einem sozialen Stadtumbau.
Sendeantenne auf ehemaligem SED-Stadtleitungs-Haus
Die Ereignisse überschlugen sich im Vereinigungsjahr 1990, und auch im "Kanal X" sahen viele die Entwicklungen kritisch, erinnert sich Meissner.
"Auf der einen Seite haben wir natürlich diese DDR kritisiert in der Form, was daran schöngefärbt wurde im Nachhinein. Aber auf der anderen Seite – der Westen ist auch nicht das, was er den Leuten am Anfang erschienen ist. Zum Beispiel diese Umstellungen in den Behörden, diese ganzen Arbeitslosen, die dann plötzlich auftauchten."
Die Sendeantenne stand auf dem Dach eines physischen Freiraumes: Die SED räumte das Haus ihrer Stadtleitung in Leipzig-Connewitz auf Druck des Runden Tisches. Verschiedene Initiativen der Bürgerinnen- und Bürgerbewegungen zogen ein und nannten es nun das Haus der Demokratie. Ähnliches geschah in Berlin, Rostock, Halle, Potsdam und anderen Städten. Die Zivilgesellschaft hatte in einer friedlichen Revolution die Verwaltungszentren der alten Macht erobert.
"Jedes Mal, wenn man hier vorbeigefahren ist, war da so eine Distanz. Und jetzt plötzlich ist man drin", erinnert sich Günter Jähnig. Der von ihm mitgegründete Behindertenverband sitzt immer noch im ehemaligen Parteigebäude.
"Das war auch ein Gefühl des Triumphes, dass dieses System quasi überwunden werden konnte und dass man jetzt mitgestalten kann. Was aufbauen kann auf Zuruf. Ich denke mal, das ist natürlich eine Phase, die ist in einem Leben bestimmt einmalig. Manches war chaotisch. Sicherlich sehr viel sogar. Man musste sich ja erst mal finden. Man musste Strukturen schaffen."
Improvisiertes Programm
Dass unter diesem Dach auch ein Piratensender gegen Mediengesetze verstieß, war kein Geheimnis. Und für Jähnig auch kein Problem – schließlich war so vieles durch Staat und Partei verboten gewesen. "Wenn wir auf die Straße gegangen sind, war das ja in denen ihren Augen ja genauso illegal. Wir waren ja Rowdies. Und dieses Problem hier mit dem Sender, also für mich war das jetzt gar kein Problem. Da habe ich gar nicht drüber nachgedacht."
Gesendet wurde kein regelmäßiges Programm. Teils wurden vorproduzierte Videokassetten abgespielt, oder es fanden Livesendungen statt. Spontaner Besuch im Sendestudio – immer mal wieder und gerne gesehen.
"Moderator: 'Erst mal vielen Dank, das ist ganz toll, dass Sie hierher gekommen sind. Wohnen Sie hier in der Nähe?' Gast: 'Naja, ne Viertelstunde von hier.' Moderator: 'Wie haben Sie das erfahren?' Gast: 'Stand in der Zeitung gestern.' Moderator: 'Ach so. Na, das haben wir ganz, ganz heimlich reingebracht.'"
Lokal und überregional gut vernetzt
Die Piratinnen und Piraten waren lokal und überregional gut vernetzt in der Medienlandschaft. Die Berliner "taz" berichtete genauso über sie wie "Spiegel TV" oder das japanische Fernsehen. Mit dem vorhandenen technischen Equipment wurden auch Werbespots für DDR-Produkte sowie Beiträge für das bundesdeutsche Fernsehen produziert. So konnte die freie Sendeproduktion teils gegenfinanziert werden.
Für die Macherinnen und Macher von "Kanal X" bedeutete die Solidarität im Haus der Demokratie auch einen Schutzraum für ihre eigenen Findungsprozesse. Nicht zuletzt war der Piratensender auch ein Experimentierfeld für innerbetriebliche Demokratie, sagt Norbert Meissner. "Also basisdemokratisch ja, aber man muss, wenn man etwas erreichen will, trotzdem jemanden haben, der entscheidet, das geht, das geht nicht."
Es sind dieselben Prozesse und Fragen, die auch heute noch viele Basisinitiativen durchlaufen.
Ein Jahr lang, bis April 1991, gab es den lokalen Leipziger "Kanal X". Dann verschwanden die rechtlichen Grauzonen und mit der Umsetzung des Medienrechts durch die Bundespost drohten plötzlich Freiheitsstrafen. Und eine Legalisierung von "Kanal X" scheiterte.