Erste Retrospektive des russischen Radikalkünstlers
Tanz, Theater und Musik aus den skandinavischen Ländern und dem Baltikum zeigt das "Nordwind"-Festival auf Kampnagel in Hamburg. Arbeiten aus Russland stehen im Zentrum. Darunter die erste Ausstellung des politischen Aktionskünstlers Pjotr Pawlesnki in Westeuropa.
Das Video zeigt eine brennende Tür. Davor steht ein junger, hagerer Mann, in den Händen ein Benzinkanister. Es ist Pjotr Pawlenski, der vor gut zwei Wochen die Tür des russischen Geheimdienstes in Moskau anzündete.
Knapp eine Minute später wird er festgenommen und abgeführt. Nun sitzt er in Untersuchungshaft. Und so wird seine Mitstreiterin und Lebensgefährtin Oksana Shalygina zu seinem Sprachrohr:
"Er greift aktuelle gesellschaftliche Probleme auf und entwickelt daraus in dem politischen Kontext, den wir gerade haben, künstlerische Aktionen."
Seine Aktionen zielen vor allem auf den immer repressiver agierenden Staatsapparat.
Kurator Jens Dietrich:
"Der Staat hat in den letzten Jahren in Russland versucht, Eingriffe auf viele verschiedene Bereiche des Lebens stärker zu nehmen. Unter anderem auf die Kunst. Und es gibt verschiedene Prozesse, die gegen Künstler in den letzten Jahren in Russland angestrengt worden sind. Und es führt einfach dazu, dass viele Künstler Angst haben. ... Und das führt zur Selbstzensur. ... Und im Gegenzug gibt es dann eben andere Künstler, die ihre Freiheit beschnitten fühlen, und die deswegen ganz stark dagegen an gehen."
Zu ihnen gehört der heute 31-jährige Pawlenski. Gegen staatliche Einschüchterung, Polizeigewalt und die Gleichgültigkeit der Bevölkerung entwickelt er besonders drastische, oft an die Schmerzgrenze gehende Bilder.
"Die erste Aktion entstand als Reaktion auf den Prozess gegen die Band Pussy Riot. Das war ein Angriff auf die Kunst. Und Pjotr wollte sich dazu äußern. Er wusste: Wenn er einfach nur ein Transparent hochhält, würden die Sicherheitskräfte kommen und seine Dokumente verlangen. Er wollte aber auf keinen Fall mit ihnen sprechen. Deshalb nähte er sich den Mund zu. So hat er sie in eine Sackgasse gezwungen."
Mit festgenageltem Hodensack nackt vor dem Kreml
2012 setzte er sich in eisiger Kälte nackt auf die Mauer einer berüchtigten psychiatrischen Klinik in Moskau und schnitt sich ein Ohrläppchen ab. 2013 hockte er sich nackt vor den Kreml und ...
"Diese Aktion, wo er seinen Hodensack auf den Roten Platz genagelt hat, ist eben auch dieses Gefühl von: Man steckt fest. Man wird an den Eiern genommen und kann sich einfach nicht mehr bewegen. ... Und das wurde in der russischen Bevölkerung, auch in den Justizorganen, ganz deutlich verstanden."
Pawlenskis Aktionen provozieren, verstören, verunsichern. Denn sein nackter Körper und dessen Gefährdung und Verletzung erscheint als Metapher für die Gesellschaft. Er ist Symbol des "Normalbürgers", der einem autoritären Staatsapparat angeblich ohnmächtig gegenübersteht.
"Die Aktionen von Pawlenski sind einfach punktgenau, treffen in ihrer Drastik und in ihrer Stärke eben ein Gefühl, was in Russland existiert, was aber auch in der Direktheit und Einfachheit die Menschen weltweit anspricht."
Die Ausstellung zeigt Videos der Aktionen, außerdem Fotografien, Materialien, die die Hintergründe erläutern sowie Gerichtsprotokolle. Bisher wurde Pawlenski nach jeder Aktion verhaftet und angeklagt. 14 Mal erklärten Richter ihn für verrückt. 14 Mal hoben medizinische Gutachten die Beurteilung auf, und Pawlenski wurde aus dem Gefängnis entlassen.
Gerichtsverhandlungen und Medienreaktionen nutzt Pawlenski als Verstärker seiner Kunst. So schuf er zum Beispiel aus Gerichtsprotokollen ein absurdes Theaterstück voll irrwitziger Dialoge.
"Es gibt wohl niemanden, der gleichgültig reagiert"
Und immer wieder rüttelt er die Öffentlichkeit auf mit seinen Aktionen:
Es geht alles ganz schnell: Sechs Männer legen den nackt in eine Rolle Stacheldraht gewickelten Künstler auf den Bürgersteig einer vielbefahrenen Moskauer Hauptstraße.
Passanten gucken und gehen weiter. Andere bleiben stehen. Einige blicken entsetzt. Viele zücken ihr Handy.
Oksana Shalygina:
"Es gibt wohl niemanden, der gleichgültig reagiert. Und Kritik findet er positiv: Sie ist für die Menschen eine Möglichkeit, das Gesehene aufzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Natürlich gibt es bei uns Leute, die sagen, wir haben keinerlei Probleme. Aber Pjotr führt sie in seinen Aktionen vor. Und sie provozieren Nachdenken, einen Dialog – und darum geht es ihm."
Das Nordwind-Festival stellt noch weitere russische Künstler und Künstlerinnen vor, die sich mit Theaterstücken und Bildender Kunst kritisch einmischen in das, was sie umgibt: Die die Verflechtung von Neofaschisten und Geheimdienst aufdecken, Homophobie und soziale Ungerechtigkeit kritisieren oder den Umgang mit Asylanten. Mutig thematisieren sie Missstände, die einem verdammt bekannt vorkommen.