Plädoyer für das diesseitige Leben

Rezensiert von Ulrike Ackermann |
Der in Washington lebende Brite Christopher Hitchens hat mit "Der Herr ist kein Hirte" eine erfrischende Polemik über den unheilvollen Einfluss der Religionen vorgelegt. Mutig verteidigt der streitlustige Essayist als säkularer Humanist und Atheist die allseits verteufelten Ungläubigen.
"Die Auseinandersetzung mit dem Glauben ist das Fundament und der Ursprung aller Auseinandersetzungen, weil sie am Anfang - aber durchaus nicht am Ende - aller Dispute über Philosophie, Naturwissenschaften, Geschichte und die menschliche Natur steht. Sie ist der Anfang - aber durchaus nicht das Ende - aller Auseinandersetzungen über das rechte Leben und die gerechte Stadt.

Der religiöse Glaube ist, eben weil wir noch so unzureichend entwickelt sind, unausrottbar. Er wird nie aussterben, zumindest nicht, solange wir unsere Angst vor dem Tod, vor der Dunkelheit, vor dem Unbekannten und voreinander nicht überwunden haben."

Mit dieser realistischen Einschätzung beginnt der in Washington lebende Brite Christopher Hitchens seine erfrischende Polemik über den unheilvollen Einfluss der Religionen. Der Herr, so sein Fazit, ist kein Hirte und die Religion vergiftet die Welt. Der streitlustige Essayist und Literaturkritiker spricht aus eigener, vielfältiger religiöser Erfahrung: als Anglikaner besuchte er in seiner Jugend eine Methodistenschule, mit seiner ersten Heirat wurde er Mitglied der griechisch-orthodoxen Kirche und seine zweite Verehelichung nahm ein Rabbi vor.

In einer Zeit, in der im Namen des Islam terroristische Kriege gegen den ungläubigen Westen geführt werden, der weltweite Gottesstaat angestrebt wird, junge Männer aus gutem westeuropäischen Hause konvertieren und sich ins Paradies bomben wollen, und zugleich der Papst und seine Botschaften sich größter Beliebtheit erfreuen, kommt dieses Plädoyer für das diesseitige Leben gerade recht. Mutig verteidigt Hitchens als säkularer Humanist und Atheist die allseits verteufelten Ungläubigen:

"Unserer Überzeugung nach kann man ohne Religion ein moralisch einwandfreies Leben führen. Und wie wir wissen, haben sich umgekehrt zahllose Menschen von der Religion dazu verleiten lassen, sich keinen Deut besser zu betragen als andere, sondern Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die selbst einem Zuhälter oder einem Völkermörder noch ein Stirnrunzeln entlocken würden."

Der Herr - ob man ihn Gott, Jahwe oder Allah nennt, ob man seine Offenbarungen in der Bibel, der Thora oder dem Koran sucht, ist unter den gegebenen Umständen vieles, aber er ist kein Hirte. Denn:

"Die Religion redet über die Glückseligkeit im Jenseits, will aber die Macht im Diesseits. Das ist nicht anders zu erwarten - immerhin wurde sie von Menschen geschaffen. Die Religion ist gewalttätig, irrational und intolerant, steht im Bund mit Rassismus, Stammesdünkel und Bigotterie, lehnt in ihrer Ignoranz die freie Forschung ab, verachtet Frauen und züchtigt Kinder. Die organisierte Religion hätte allen Grund für ein schlechtes Gewissen."

Aber die Sehnsucht nach einem letztem Sinn und nach Erhabenheit angesichts der vermeintlichen Sinnleere und Profanität der bürgerlich-kapitalistischen Moderne mündet immer wieder in die Frage: Kann es denn überhaupt eine gesellschaftliche Ordnung ohne Erlösungsversprechen, Transzendenz und Utopien geben?

Der Mensch brauche doch Orientierung in der Kälte der offenen Gesellschaft, gepeinigt vom harten, kapitalistischen Wettbewerb der Interessen und einer Rationalität, die bar jeder Herzenswärme den Einzelnen sich selbst überlasse. Dem hält Hitchens entgegen:

"Viele Religionen kommen heute schmeichlerisch lächelnd mit ausgebreiteten Armen auf uns zu wie schmierige Händler auf einem Basar. Im Wettbewerb mit anderen Marktschreiern versprechen sie uns Trost, Solidarität und Läuterung.

Aber wir dürfen daran erinnern, wie barbarisch sie sich aufgeführt haben, als sie noch stark waren und den Menschen ein Angebot machten, das sie nicht ablehnen konnten. Wer vergessen hat, wie das geschehen sein muss, kann sich einfach die Staaten und Gesellschaften ansehen, in denen die Geistlichkeit noch über die Macht verfügt, ihre Bedingungen zu diktieren.

In modernen Gesellschaften sind noch Spuren davon erkennbar, ... .etwa in Bemühungen von Seiten der Religion, sich Steuerfreiheit zu verschaffen oder es den Menschen gesetzlich zu verbieten, ihre allmächtige und allwissende Gottheit oder auch nur deren Propheten zu verunglimpfen."

Der Wunsch nach wärmenden Gemeinschaften, nach Bindung und identitätsstiftenden Kollektiven geht ja inzwischen auch in Europa und Amerika einher mit einer Renaissance der Religionen, auch wenn davon bisher die Staatskirchen am wenigsten profitieren und die Volksreligiösität Aufwind erhält.

Die Individualisierung der Religion zeigt sich heute in multiplen religiösen Identitäten, in denen der Einzelne mit Fragmenten etwa aus Zen-Buddismus, Suffismus, der Esoterik, aus christlich-jüdischen und regionalen Traditionen seine Privatreligion zusammensetzt, ohne sich an den Widersprüchen zu stören. Die westliche Religionsfreiheit garantiert nicht zuletzt die Wahlmöglichkeiten dieses Patchworks.

Doch die neue Öffnung gegenüber dem Religiösen und Semireligiösen, die Wiederkehr der Gottesgläubigkeit beschränkt sich - und das ist beunruhigend! - nicht auf Kirchenhäuser und das Private, sondern manifestiert sich zunehmend im öffentlichen Raum. Nicht nur die Zunahme der Kopftücher und Burkas auf europäischen Straßen zeigt, dass die Religion längst mehr geworden ist als eine Privatsache und dies auch erstaunlich breit akzeptiert wird.

Immer dreister treten Kreationisten auf, die in der Evolutionstheorie den Teufel am Werk sehen und sie aus dem Biologieunterricht zugunsten der göttlichen Schöpfungslehre verbannen wollen. Doch gerade die Trennung von Religion, Staat und Gesellschaft zählt zu unseren kostbaren Errungenschaften der Aufklärung und der westlichen Demokratie, die wir vehement verteidigen sollten! Hitchens mahnt deshalb:

"Alle Religionen geben sich große Mühe, Zweifler zum Schweigen zu bringen oder hinzurichten ... .Es ist bereits geraume Zeit her, seit sich der Judaismus und das Christentum offen der Folter und der Zensur bedienten."

Der Islam dagegen hat nicht nur von Anfang an alle Zweifler zu ewigem Höllenfeuer verdammt, sondern er pocht in fast allen Herrschaftsgebieten bis heute auf dieses Recht und proklamiert noch immer, dass eben jene Herrschaftsgebiete mit kriegerischen Mitteln ausgedehnt werden können und müssen. Jeder Versuch, die Behauptungen des Islam anzuzweifeln oder auch nur zu hinterfragen, wird umgehend mit rigoroser Repression beantwortet."

Im Islam sieht Hitchens denn auch die größte Gefahr für die Errungenschaften unserer Demokratien. Angesichts dieser Herausforderung und weil sich die menschliche Zivilisation nicht immer gradlinig und fortschreitend zum Besseren entwickelt, ruft er dazu auf, sich jenen Händen zu entwinden, die uns zu den Katakomben, den muffigen Altären und der schuldbeladenen Sucht nach Unterwerfung und Unterwürfigkeit zurückzerren wollen. Eine neue Aufklärung ist angesagt!"

Christopher Hitchens: Der Herr ist kein Hirte. Wie die Religion die Welt vergiftet
Karl Blessing Verlag, München 2007
Christopher Hitchens: "Der Herr ist kein Hirte" (Coverausschnitt)
Christopher Hitchens: "Der Herr ist kein Hirte" (Coverausschnitt)© Blessing Verlag