Plädoyer für den Wettbewerb

Rezensiert von Christoph Keese |
Der CDU-Politiker hat mit seinem neuen Buch eine Streitschrift für den Kapitalismus geschrieben. Seine Arbeit ist eine ruhige, besonnene Antwort auf gebildete Kapitalismuskritiker. Im Mittelpunkt steht die Gretchenfrage nach der Gerechtigkeit.
Ist der Kapitalismus am Ende? Hat die freie Marktwirtschaft ihre Leistungsgrenze erreicht? Sollte der Staat die Volkswirtschaft künftig direkt lenken? Im Zuge der Finanzkrise ist eine neue Debatte über die Grundlagen unserer Wirtschaftsverfassung entbrannt. Die Vertrauenskrise stellt alte Gewissheiten in Frage.

Als Friedrich Merz, einst Wirtschaftsgewissen und Fraktionsvorsitzender der CDU, heute Anwalt und einfacher Bundestagsgeordneter in seiner erklärtermaßen letzten Wahlperiode, – als also Friedrich Merz vor Jahresfrist beschloss, nach langem Schweigen wieder an die Öffentlichkeit zu treten, mit einer Streitschrift für den Kapitalismus, da konnte er nicht ahnen, dass seine Buchvorstellung in eine rabenschwarze Zeit fallen würde. Just als die Banken vor dem Bankrott standen und der Staat zur Rettung eilen musste, kam Merz mit seiner Forderung "Mehr Kapitalismus wagen" hervor, so der Titel des Buchs.

Man liest ein solches Werk unter dem Eindruck einer drohenden Weltwirtschaftskrise naturgemäß anders als sonst und sucht es nach Unzeitgemäßem, Übergewissem und Unreflektiertem ab. Man ertappt den Autor bei jeder Flüchtigkeit. Springt er vorschnell zu optimistischen Schlüssen? Verteidigt er, was nicht zu verteidigen ist? Das Buch unterliegt einem Stresstest nicht unähnlich den Märkten, von denen es handelt.

Diesen Stresstest besteht Merz mit Anstand. Er hat eine nachdenkliche Arbeit vorlegt, geschrieben nicht im Stil seiner gepfefferten Bundestagsreden, sondern als ruhige, besonnene Antwort auf gebildete Kapitalismuskritiker. Im Mittelpunkt steht die Gretchenfrage nach der Gerechtigkeit: Wie gerecht ist der Kapitalismus?

Beantworten kann man das nur mit einer exakten Definiton. Merz dankt im Vorwort seinem Sohn Philippe, einem Philosophiestudenten, für den Zugang zum politischen Denken der Antike. Platon wird sein Kronzeuge.

"Gerechtigkeit ist bei Platon immer zuerst eine Herausforderung, vor der jeder einzelne Mensch steht. Die personale Gerechtigkeit des Einzelnen bildet die Voraussetzung für alles wohlgeordnete und gerechte Zusammenleben."

Nur wenn der Einzelne sein Leben in die eigene Hand nimmt, sofern er die Kraft und das Talent dazu besitzt, kann die Gemeinschaft jenen helfen, die dies nicht können. Merz schreibt:

"Der Sozialstaat ist nicht dafür da, dass jeder das Gleiche bekommt, sondern dass jeder genug bekommt in Zeiten, in denen er sich nicht mehr zu helfen weiß."

Umgekehrt aber steht der Staat in der Pflicht, gerade so stark einzugreifen, dass der Einzelne sich seines Lebens und Auskommens sicher sein kann, denn seine Freiheit wäre unter Bedingungen ständiger Existenzangst nicht mehr viel wert. Um das Aushöhlen der individuellen Freiheit zu verhindern, tritt der Staat als Stifter grundlegender Sicherheiten auf:

"Ökonomisch ausgedrückt: Auf der Makroebene müssen die Voraussetzungen für Freiheit und Gerechtigkeit geschaffen sein, damit sie auf der Mikroebene nicht zu Restposten werden."

Von beiden Seiten droht also Gefahr, von der völligen Regellosigkeit wie von der totalen Staatskontrolle. Wird die Balance gefunden, ist die Gesellschaft gerecht, was der Einzelne durch wachsenden Wohlstand, sinnvolle Arbeit und Gewährung von Entfaltungsmöglichkeiten für seine Talente zu spüren bekommt.

"Der Kapitalismus wird gezähmt und in geordnete Bahnen gelenkt. Der Eigennutz und der gesamtgesellschaftliche Nutzen stehen sich nicht mehr gegenüber. Das menschliche Gewinnstreben wird in den Dienst des gemeinsamen Nutzens gestellt."

Merz schreibt klar, logisch, unaufdringlich und undogmatisch, im Ergebnis sind seine Schlussfolgerungen einleuchtend bis zwingend. Mit Rückgriff auf Erhard, Röpke und Müller-Armack, die Vordenker der Nachkriegs-Wirtschaftsordnung, gelingt ihm eine erstaunliche präzise Definition von Kapitalismus und sozialer Marktwirtschaft.

"Soziale Marktwirtschaft ist Kapitalismus mit funktionsfähiger Wettbewerbsordnung. Und im Wettbewerb liegt die soziale Dimension, da erst durch Wettbewerb Machtpositionen in Frage gestellt werden, Marktpreise entstehen und jeder Chancen zum Aufstieg bekommt."

Allerdings nimmt Merz sich zuviel vor. Neben dem allgemeinen Teil widmet ein spezieller Teil sich der Anwendung des Prinzips Marktwirtschaft auf Kapitalmarkt, Arbeitsmarkt, Management, Sozialversicherung und Bildungssystem, also auf fast alle wichtigen Subsysteme der Gesellschaft.

Merz schreibt zwei Bücher in einem. Jede Seite, die er zum Durchdeklinieren der Politikfelder braucht, fehlt beim Vertiefen der Grundsatzfragen. Beides geht auf 200 Seiten kaum. Als Beispiel: In der Gerechtigkeitsfrage führt Merz nur Platon aus, schon John Rawls findet Erwähnung nur am Rande. Es wäre lehrreich gewesen, die gesamte Ideengeschichte der Gerechtigkeit von Merz interpretiert zu bekommen, seine Gegner hätte er damit umso schlagender getroffen.

Vertiefung verdient hätte auch die Analyse des Vertrauensverlusts in die Marktwirtschaft. Woher rührt er? Merz begründet ihn vor allem mit dem aggressiven Auftreten linker Populisten, die dem Bürger ihr Gift ins Ohr träufeln. Das allein aber kann es nicht sein.

Für das Unbehagen im Kapitalismus muss es zahlreiche weitere, hoch komplexe und tief verborgene Ursachen in der kollektiven Psyche geben, anders ist nicht zu erklären, warum ausgerechnet jenes System bei zwei Dritteln der Bürger in Misskredit geraten ist, das uns geschichtlich einmaligen Wohlstand gebracht hat. Merz zupft an diesem Faden, zieht aber nicht beharrlich genug daran.

Mehr erfahren möchte man auch darüber, wie die Idee des Wettbewerbs politisch durchzusetzen wäre, wenn eine stetig wachsende Millionenschar von Wählern durch Subventionen und Transferzahlungen des Staates in wirtschaftliche Unmündigkeit gebracht worden ist. Anders ausgedrückt: Wie organisiert man weniger Staat, wenn schon bald die Mehrheit ihr Auskommen von ihm bezieht? Das ist die Preisfrage liberaler Politik in den nächsten Jahrzehnten. Merz beantwortet sie mit dem Ruf nach entschlossen handelnden Politikern, das aber allein wird nicht reichen – ein durchdachter Vorschlag für Anreizsysteme zu mehr Selbstverantwortung wäre reizvoll gewesen.

Letztes Beispiel für eine Frage, die man gern ausführlicher untersucht gesehen hätte: Wie ist den systemimmanenten Gierausbrüchen auf den Märkten mit liberalen Mitteln Einhalt zu gebieten? Dies wird die wichtigste Herausforderung der Politik in den nächsten Monaten sein. Merz schreibt mit Blick auf die Finanzkrise:

"Es liegt nichts Verwerfliches darin, dass sich die Kapitalmärkte von den Gütermärkten abgekoppelt haben und mittlerweile auf der Welt mindestens 50 Mal so viele Geldtransaktionen stattfinden wie reale Warengeschäfte."

Diese These kann so nicht stimmen. Nahezu alle Banken der Welt wären vor wenigen Tagen fast Bankrott gegangen, weil die Geldtransaktionen um so vieles größer waren als die Warengeschäfte und niemand mehr die Kraft besaß, diese Luftscheine zu bezahlen. Es kann nicht sein, dass jede beliebig kleine Realwirtschaft jede beliebig große Menge von Derivaten verträgt. Statt eines Absatzes hätte allein dieses Unterthema ein Kapitel verdient.

Friedrich Merz ist als Politiker, Rhetor und Intellektueller eine Ausnahmeerscheinung. Man wünscht sich von ihm in Folge dieser gelungenen Arbeit ein großes Buch zur Theorie von Freiheit und Kapitalismus unter den Bedingungen globaler Märkte, mit Blick auf die deutschen Besonderheiten wie Überalterung, Rohstoffarmut und dem Wunsch nach starkem sozialem Ausgleich. "Mehr Kapitalismus wagen" ist ein Präludium zu einem weiter greifenden Werk, das man diesem Autor zutraut.


Friedrich Merz: Kapitalismus wagen - Wege zu einer gerechten Gesellschaft
Piper Verlag, München 2008
Cover: "Friedrich Merz: Mehr Kapitalismus wagen"
Cover: "Friedrich Merz: Mehr Kapitalismus wagen"© Piper Verlag