Plädoyer für ein Höchstmaß an Freiheit

Was ist der Sinn des Lebens? Welchen Wert haben Menschenrechte? Darf die Freiheit durch das Verbot, den Holocaust zu leugnen, angetastet werden? Solche grundlegenden, ja "Letzte Fragen", stellt Thomas Nagel in seiner Aufsatzsammlung. Der Philosoph spricht sich dafür aus, sich mit einem Minimalkatalog an Einschränkungen zu begnügen.
Letzte Fragen gehen einer Sache auf den Grund. Thomas Nagel bewegen sowohl Grund-Fragen der Metaphysik als auch solche der politischen Philosophie. Das heißt, in den sechzehn Aufsätzen, die dieses Buch umfasst, wird sowohl über den Urgrund der Welt und den Sinn des Lebens philosophiert als auch darüber, was eine moderne Demokratie unter einem "Menschenrecht" zu verstehen hat. Oder welche Verhaltensweisen einer Person man begründet als "pervers" bezeichnen darf.

Außergewöhnlich ist vor allem Nagels Manier, analytisches und metaphysisch-dialektisches Denken miteinander zu verbinden, zwei Spielarten der akademischen Philosophie, die sich lange Zeit offen bekriegt haben. Zwischen ihren Anhängern herrscht noch heute oft resignierte Sprachlosigkeit. Wer Nagels Buch in die Hand nimmt, wird diesen Umstand sogleich bedauern. Denn wie fruchtbringend eine Allianz beider Denkarten sein kann, beweisen die vorliegenden Texte.

In Nagels Buch findet sich zum Beispiel ein Aufsatz mit dem Titel "Das Absurde", eine feine Lektion Metaphysik in nach-metaphysischen Zeiten. Der Autor führt uns klar vor Augen, dass die meisten von uns mit großer Ernsthaftigkeit in und an einem Leben arbeiten, dessen objektiven Sinn zu ermitteln, die Kraft unseres Denkens übersteigt.

Eine wahrhaft absurde Situation, befindet Thomas Nagel. Aber kein Grund zu verzweifeln. Schon eher zum Lachen. Und Grund genug, den (angeblichen) Anforderungen des Lebens mit gelassener Ironie zu begegnen.

Thomas Nagel hat deutsche Vorfahren. Ist es ein Zufall, dass dieser Text an die deutschen Romantiker erinnert, an Friedrich Schlegel Aufsätze über das Ironische?

Herausgeber Michael Gebauer hat seiner Neuausgabe von Nagels Schriften einen jüngeren Essay des Philosophen beigefügt, Titel: "Menschenrechte und Öffentlichkeit". Wenn der Begriff "Menschenrechte" fällt, denken wir gewöhnlich an Folter und Amnesty International. Nagel hat andere Themen. Solche, die so manchem Leser provokant erscheinen dürften. Ihm geht es um die "kleinen Rechte des bürgerlichen Lebens", wie er schreibt. Zum Beispiel um das Recht, Pornovideos auszuleihen. (Was in den USA offensichtlich mancherorts unter Strafe steht.) Oder um das Recht, den Holocaust zu leugnen.

Nagel stellt Überlegungen an, ob es sich in diesen Fällen nicht auch um Grundrechte in einer Demokratie handeln könnte und argumentiert wie folgt: Das grundlegende Menschenrecht in einem demokratischen Staatswesen ist die Freiheit, nach eigener Fasson glücklich zu werden: zu sagen, was man denkt und zu leben, wie man möchte - falls damit nicht die Freiheit anderer massiv beschädigt wird. Wenn diese Bedingung gewährleistet ist, hat die Moral einer Hure genauso viel zu gelten wie die Moral einer Nonne.

Eine entwickelte Demokratie, so Nagel, kommt mit einem Minimal-Katalog an Verboten aus, und diese Verbote müssen präzise begründet werden. Nach Auffassung des Autors gibt es in den westlichen Demokratien eine Menge Beschneidungen persönlicher Rechte, die bestimmte Interessengruppen lanciert haben, und zwar mit irrationalen Argumenten. "Wer die politische Macht hat, ist geneigt, andere nach seiner Pfeife tanzen zu lassen", schreibt Nagel, und appelliert an die Wachsamkeit der Demokraten.

Den Holocaust zu leugnen, fällt für den Juden Thomas Nagel unter das Recht auf freie Meinungsäußerung. Der Autor erklärt, ein Staatswesen, das eine solch abstruse Behauptung wie die, es hätte Auschwitz nicht gegeben, unter Strafe stellt, erweist sowohl den Juden als auch der Demokratie einen Bärendienst. Es degradiert eine historische Tatsache, die durch Fakten und Zeitzeugen hinreichend belegt ist, zu einem ideologischen Glaubensartikel, dem zu widersprechen per Gesetz verboten werden muss.

Eine solche Verfahrensweise, so Nagel, erinnere an das Gebaren totalitärer Regime. Seiner Meinung nach kräftigt es den Meinungsbildungsprozess einer demokratischen Öffentlichkeit, wenn man unliebsame oder gar verrückte Ansichten von Minderheiten gewähren lässt. Verbote sind sparsam zu gebrauchen, denn jedes Verbot befördert auch das Verbotene. Nagel ist überzeugt: Wer den Holocaust zu leugnen unter Strafe stellt, steigert die Lust an der Provokation.

Darüber, wie Nagel seine Thesen jeweils begründet, lässt sich trefflich streiten. Unstrittig hingegen ist seine Urteilskraft: die Klarheit seiner Sprache und seiner Argumentation. Ein Buch voller kostbarer Lektionen in Sachen demokratisches Denken mit philosophischer Tiefenschärfe.

Rezensiert von Susanne Mack

Thomas Nagel: Letzte Fragen
Herausgegeben von Michael Gebauer
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2008
410 Seiten, 16,90 Euro