Christian Schüle, 44, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta), den Essay "Wie wir sterben lernen" (Pattloch Verlag). Gerade erschienen: "Was ist Gerechtigkeit heute?" (Droemer-Knaur)
Kuschen in der Komfortzone?
Sind wir Deutschen ein Volk saturierter Bürger? Der Publizist und Philosoph Christian Schüle meint: Ja! Er fordert in seinem Politischen Feuilleton mehr Mut und Unerschrockenheit im Alltag und in den intellektuellen Debatten des Landes.
Wir Deutschen, hört man allenthalben, seien ein saturiertes Volk, selbstgefällig, ignorant, kaum aus der Reserve unseres Wohlfühlkapitalismus zu locken, eine Konsens-Gesellschaft mit ertaubtem Nervensystem für Rebellion und Widerstand. Die Kulturproduktion unserer Gegenwart gilt den Kritikern Deutschlands als Spiegel seiner nihilistischen Hasenfüßigkeit.
Der deutschsprachigen Literatur wird Konfektionswarenhaftigkeit vorgeworfen, auf dem Theater finde die breite Auseinandersetzung deutscher Autoren mit deutscher Gegenwart nicht statt. Man könnte anfügen: Und die gedruckten Medien haben weder Klasse noch Leidenschaft und das Fernsehen setzt nur noch auf Quizshow, Casting, Kochen, Kicken, Krimi und Quote.
Sind wir tatsächlich ein Volk, das es sich allzu gemütlich in seiner behaglichen Arroganz eingerichtet hat, ja, das sich von einer haltungslosen Kanzlerin zumerkeln lässt?
Angst und Bange vor dem Scheitern
Richtig ist durchaus, dass wir, die Deutschen, aus Angst und Bange vor dem Scheitern, vor Verlust, vor roten Zahlen, Schwäche und Misserfolg kaum etwas wagen, nichts riskieren, nichts probieren. Richtig ist, dass uns für eine Revolte jene Tabus abhanden gekommen sind, die dafür zu brechen wären. Richtig ist, dass Ideologien und Dogmen fehlen, die man mit Getöse attackieren könnte. Richtig ist, dass die Marktwirtschaft für die große Mehrheit der Bürger den Leidensdruck minimiert und zu einem weitgehend bekömmlichen Dasein geführt hat. Und richtig ist, dass der wilde Pluralismus der Lebenswelten permanent zu Differenz, Kompromiss und Ausgleich zwingt.
Protest, wie in den 70er-Jahren etwa der Punk und seine kulturprägende Rebellion gegen überkommene Kunst- und Stilformen, ist kaum mehr möglich, weil Protest heute in die Leere der grundsätzlichen Gleichgültigkeit einer weitgehend entprogrammatisierten Gegenwart läuft. Provokationen aber setzen verletzbare Wertvorstellungen voraus, und in der spätmodernen Funktionsgesellschaft gibt es bekanntlich nichts Heiliges mehr, weil alles gleichwertig und also gleich wertlos ist ist.
Was Deutschland fehlt, ist nicht Revolutions-Gequatsche oder Revolte-Kitsch, sondern ein Mahnruf für Kühnheit.
Die Philosophen schweigen öffentlich
Deshalb haben wir allen Grund, den großen Verlust zu beklagen, der innerhalb der letzten Monate durch die Tode Frank Schirrmachers, Ulrich Becks und Richard von Weizsäckers entstanden ist. Mit dem Feuilletonisten, dem Soziologen und dem Staatsmann ging etwas dahin, das in Deutschland selten war, selten ist und immer seltener zu werden droht: Mut zum großen Stil, Mut zur öffentlichen Intervention und vor allem: Mut zur intellektuellen Unerschrockenheit.
Mit allen Dreien verlieren wir eine Geisteshaltung des konstruktiven Einspruchs in einer Zeit lärmender Empörung um ihrer selbst willen, da die Philosophen öffentlich schweigen und das Betriebssystem der Banalität einen totalen Boulevard durch Kultur, Politik und das Debatten-Reservat planiert hat.
Der Mut zur gepflegten Polemik, zur niveauvollen Anmaßung, zur ergebnisoffenen Vision ist eine in unserem Land deswegen so seltene Eigenschaft, weil 'der Deutsche' ja stets den Vorwurf des Größenwahns zu fürchten hat, wenn er sich einmal aus der Deckung seiner Komfortzone wagt, ja, weil jede Form des Elitären sogleich unter Verdacht auf Abwertung des Nicht-Elitären steht, mehr noch: weil hierzulande Streit mit Beleidigung und Scheitern mit Niederlage gleichgesetzt wird.
Gesunde Demokratie braucht Streit
Ach, würden wir doch nicht so pubertär und leichtfertig von einem "kommenden Aufstand" schwafeln, sondern stets und früh das Selbstdenken und das Unbequeme fördern, würden wir doch in Redaktionen, Verlagen, Unternehmen, Parteien und Politik die Neugier anstacheln und den großen Wurf adeln, statt seine Versuche sofort zu zerpflücken!
Das Übergeordnete, Langfristig-Wirkende, ohne Zweifel über den Tag hinaus Gültige verspricht bekanntlich weder kurzfristige Rendite noch wohlfeile Wähler-Gunst, aber durch den Mut zur Kühnheit formatieren sich im Streit um die besten Argumente jene nachhaltigen Alternativen, ohne die eine gesunde Demokratie in der Tat niemals auskommt.