Plädoyer gegen Gehorsamspädagogik
"Lob der Disziplin" und "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" sind große Bestseller geworden. Der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann kritisiert an den Werken, dass sie zu einseitig auf Gehorsam abzielten. Damit behindere man Intelligenz, Entfaltung und Freiheit des Kindes. Er plädiert für mehr Gelassenheit, Geduld und Liebe im Umgang mit Kindern. Dann lösten sich viele Konflikte ganz ohne Tränen.
Joachim Scholl: Erziehung heißt Führung und Erziehung ist ohne Autorität nicht denkbar. So hat es der Pädagoge Bernhard Bueb hier im Deutschlandradio Kultur formuliert. Der ehemalige Leiter der Internatsschule Salem hat vor zwei Jahren mit seinem "Lob der Disziplin" ein viel diskutiertes Buch geschrieben, ebenso wie der Kinderpsychiater Michael Winterhoff unter dem Titel "Warum unsere Kinder Tyrannen werden". Beide Bücher sind Bestseller geworden, habe eine breite pädagogische Debatte über das bockige Kind hervorgerufen. Im Studio begrüße ich nun den Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann. Guten Tag!
Wolfgang Bergmann: Guten Tag!
Scholl: In Kürze erscheint Ihr Buch, Herr Bergmann, "Wie unsere Kinder keine Tyrannen werden", eine direkte Anspielung auf den Band Ihres Kollegen Winterhoff, eine Antwort auf seine Thesen und auch auf jene des Bernhard Bueb - Disziplin, Gehorsam, Strenge. Was hat Sie daran so erbost?
Bergmann: Mich haben zwei Dinge erbost: Das eine ist die Thesen, die hier vorgetragen werden, die Überlegungen auch, was für Eltern nützlich ist. Herr Gott, das ist uralt! Ich habe vor jetzt fast 20 Jahren ein Buch geschrieben, "Gute Autorität". Damals erschraken alle, mindestens alle Pädagogen, Lehrer und dergleichen noch, wenn sie das Wort Autorität nur hörten, und sagten, boah, der traut sich was, Autorität. Ich war schon immer dafür, dass Erwachsene Kindern gegenüber Autorität sind. Aber das Buch heißt "Gute Autorität", gut heißt beschützende Autorität. Bei meinen Vorträgen vor Eltern sage ich immer, Kinder wollen nicht gleichberechtigt sein, das war ein Irrtum der Vergangenheit, Kinder wollen beschützt werden.
Aber diese Disziplin-Pädagogen, Herr Bueb in besonderer Weise und Herr Winterhoff mit einer ganz merkwürdigen Konfusion und einer ganz eigenartigen Begründung, beide gehen ausschließlich auf Gehorsam, ausschließlich auf "das Kind muss an Normen gebunden werden". So zerstört man eine schöne, freie Kindheit. Man behindert auch die Intelligenz, die Entfaltung, das soziale Mitgefühl, insgesamt die Freiheit eines Kindes, das macht mich zornig. Und wenn ich nachher Zeit habe, will ich gerne noch zwei, drei Zitate etwa von Herrn Bueb hinzufügen. Da verstehen die Zuschauer auch, was mich da so zornig macht.
Scholl: Dass die Bücher sich so immens verkauft haben auch jetzt, also von Herrn Bueb und von Herrn Winterhoff, zeigt ja auch, dass anscheinend unter Eltern ein Klima herrscht, das mehr Disziplin, mehr Gehorsam verlangt. Dafür muss es ja Ursachen geben. Wie erklären Sie sich das?
Bergmann: Zunächst mal bin ich gar nicht sicher, dass es Eltern sind, die diese Bücher kaufen. Beide Bücher sind in einem völlig unmöglichen Deutsch geschrieben, da muss man schon sehr, sehr lese-erfahren sein, dass man die Sätze überhaupt bis zum Ende verfolgen kann. Nein, es sind eher die frustrierten Lehrer. Es sind auch die ältere Generation, die empört ist über moderne Kindheit. Die stürzen sich darauf, die kaufen das.
Die Eltern haben selber haben ganz andere Sorgen. Für die ist interessant die Frage, wie kriegt mein Kind die Schule hin, wie kriege ich es so auf die Reihe, dass ich nicht dauernd ein maulendes oder depressives Kind habe. Die Probleme der Kindheit, die leugnet ja keiner. Und das ist die Antwort auf Ihre Frage.
Kinder haben zunehmend Probleme, die sogenannte ADS, das ist also das Zappelphilipp-Syndrom. Die Kinder können sich nicht konzentrieren, sie können nicht still sitzen. Das ist ein großes Problem für die Kinder selber. Die kleinen Mädchen haben immer mehr Angst, dass sie mit ihrem Körper nicht klarkommen, Selbstverletzung der kleinen Mädchen, all das habe ich in meiner Praxis.
Darauf müssen wir Antworten finden, aber doch nicht dieses etwas Tumbe "da muss man mal dazwischen hauen, da muss man mal strafen und kontrollieren, dann wird das schon". Das führt die Eltern auf die falsche Ebene, das richtet die Hölle in den Familien an und macht die Kindheit der Kinder endgültig kaputt. Da wird man zornig, und das bin ich auch.
Scholl: Eine zentrale These von Michael Winterhoff ist eine Art fataler Symbiose von Eltern und Kind, eine Form falscher Gleichberechtigung, die zu einem frühkindlichen Narzissmus führe. Wir haben hier im Deutschlandradio Kultur natürlich auch mit Michael Winterhoff gesprochen. Hören wir mal, wie er das erklärt:
"Frühkindlicher Narzissmus bedeutet, dass das Kind noch nicht einmal unterscheiden kann zwischen Gegenstand und Mensch. Sie müssen das ja so sehen, das Gehirn ist angelegt, aber die Entdeckung, wie man nachher Gegenstände sieht oder einen Mensch sieht, hat ja etwas mit Erfahrung zu tun. Und im Rahmen der psychischen Verschmelzung der Symbiose verhalten sich heute Eltern oft wie Gegenstände, das heißt, sie lassen sich von den kleinen Kindern, ohne dass es ihnen bewusst wäre, permanent steuern und bestimmen. Und damit ist es noch nicht einmal möglich diesen Kindern, festzustellen, dass Menschen Menschen sind."
Scholl: Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff im Deutschlandradio Kultur. Und wir sind hier im Gespräch mit dem Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann, der die Ansichten seines Kollegen hart kritisiert. Wie würden Sie also, Herr Bergmann, die richtige Beziehung von Eltern zum Kind beschreiben?
Bergmann: Ja, zunächst mal kann ich solche Sätze nicht unkommentiert stehen lassen. Wir haben hier keine Fachdiskussion, ich will das auch nicht eingehen, aber wie Herr Winterhoff das Wort Symbiose benutzt, dann hat er das Wort Psychenverschmelzung, darunter kann sich wer weiß was jemand vorstellen. Ich kann mir nichts drunter vorstellen. Wie er diese Begriffe verwendet, ist rein fachlich falsch. Das ist erst mal festzuhalten und für die Eltern als Warnung aufzunehmen: Seid vorsichtig mit solchen Leuten, sie wissen teilweise nicht, was sie sagen.
Der zweite Punkt, dass ein Kind einen Menschen nicht als Menschen erkennt - er schreibt das in dem Buch auch, dass ein Kind nicht unterscheiden kann zwischen einem Stuhl und der Oma, die auf dem Stuhl sitzt. So ein Kind ist mir in meiner ganzen langen Praxis nicht ein einziges Mal über den Weg gelaufen. Das ist doch offensichtlicher Quatsch!
Was er da beobachtet hat, das ist allerdings richtig. Das haben vor ihm aber schon ganz viele andere auch geschrieben, nicht zuletzt Uwe Rogge mit seinem Buch "Kinder brauchen Grenzen" und auch dann noch hochwertigere Bücher. Was er beobachtet hat, ist, die Eltern stellen das Kind ins Zentrum ihrer Familie, ins Zentrum des Lebens. Das Kind muss ein ganz tolles Kind sein. Zu mir kommen die auch in die Praxis und haben da ein völlig verstörtes Kind und fragen, wollten wir nur mal testen lassen, ob unser Kind vielleicht hochbegabt ist. Da gucke ich auf den Kleinen und sage, nein, die Sorge müssen Sie sich nicht machen, das ist nicht das Problem dieses Kindes.
Eltern behaften die Kinder mit ihrem elterlichen Narzissmus. Das Kind muss zeigen, was für eine tolle Familie das ist. Das macht den Kindern Angst, das bringt die Kinder unter Leistungszwänge. Die Kinder lernen zu rivalisieren, sich mit anderen Kindern zu vergleichen, bevor sie gelernt haben, ein freies, soziales Spiel und Miteinander mit gleichaltrigen Kindern zu erleben. Das ist eine richtige Beobachtung. Ich habe das in einem Buch vor etwa sieben Jahren ausführlich über viele Seiten beschrieben.
Das ist eine richtige Beobachtung, aber die Analyse von Herrn Winterhoff streift sozusagen die Lächerlichkeit. So ist es natürlich überhaupt nicht. Es gibt keine Psychenverschmelzung, der Begriff Symbiose ist falsch gebraucht. Ich könne das jetzt noch lange Zeit fortführen, tue ich nicht, weil ich höflich bin ...
Scholl: Herr Bergmann, das haben wir jetzt verstanden, aber "Wie unsere Kinder keine Tyrannen werden", so haben Sie Ihr Buch genannt. Sie schildern darin sozusagen paradigmatische Situationen, wenn der kleine Trotzkopf mal wieder partout nicht will. Also zum Beispiel der klassische Konflikt: Mama hat einen Termin, will mit dem Kind weggehen, Kind spielt aber noch. Frage: Kommst du jetzt endlich? Antwort: Nein, will nicht. Und dann geht's los, das Drama. Wie lösen Sie es, Herr Bergmann?
Bergmann: Das muss man ganz wichtig sagen, dieses Buch hat etwa 160 Seiten, davon sind über 100 Seiten alltägliche Situationen - Trotzanfall im Supermarkt, das Kind will unbedingt eine Süßigkeit, das Kind kommt zu spät, Mama und Papa warten. Wie reagiert man, ohne gleich auf den Tisch zu hauen, ohne dass es Tränen gibt, ohne dass der schöne Samstagnachmittag in der Eisdiele verdorben ist? Nehmen wir dieses Beispiel: Das Kind spielt, Mama sagt, nein, wir müssen einkaufen gehen. Dann haben sich viele Eltern angewöhnt, dass ihr Einkaufen Gehen jetzt viel wichtiger ist und dass man das Spiel einfach unterbrechen darf. Da muss man den Eltern mal sagen, jetzt überlegt doch mal: Erstens, wenn ich mal einhalte, ist es wirklich so wichtig, dass ich jetzt sofort einkaufe? Vielleicht in einer halben Stunde, wäre das nicht auch früh genug? Da hat man ein bisschen ein entspannteres Leben. Wir können uns von unseren Kindern belehren lassen.
Das Zweite: Gerade die jungen Eltern legen unendlich Wert drauf, das Kind soll sich kreativ entwickeln, das Kind soll psychomotorisch und weiß der Himmel was gefördert werden. Nichts fördert die Intelligenz, die Kreativität, auch das soziale Mitempfinden eines Kindes so sehr wie das Spiel. Muss ich also das Spiel stören? Könnte Mama nicht auch so antworten - es kann übrigens auch Papa sein, ist vollkommen schnurz - könnte Mama nicht so antworten, dass sie mal schaut geduldig: Was spielt mein Kind da eigentlich? Sagen wir mal, so ein Dreijähriger hat seine ganz kleine Fantasiewelt aufgebaut. Jetzt schaut sie drauf, und jeder Mutter geht da ein bisschen das Herz auf, dieses kleine Wesen, was der alles hervorbringen kann.
Und da kann man sich denken, na ja, dann gehen wir halt in einer halben Stunde einkaufen. Vielleicht telefoniere ich mal mit einer Freundin, die ich schon fast vergessen hatte. Und da kommt so ein bisschen Freiheit, wissen Sie, so ein bisschen Offenheit in das Leben. Mama telefoniert mit der Freundin, vielleicht wird es ein spannendes Gespräch. Und da kann es in der Tat passieren, dass dem Kleinen sein Spiel langweilig geworden ist, er kommt rein, plaudert mitten ins Telefongespräch rein, Mama, wann gehen wir denn endlich, mir ist langweilig. Und dann, aber erst dann, hat die Mutter absolut das Recht zu sagen: Wenn ich telefoniere, hast du Pause, geh spielen!
Scholl: Wäre das so ein Moment, wo auch der dreifache Vater Bergmann dann mal laut würde?
Bergmann: Nee, nee, ich werde da überhaupt nicht laut. Ich habe drei Kinder, ich habe meine Kinder nicht ein einziges Mal bestraft. Man muss Kinder nicht bestrafen. Kinder wollen ihren Eltern gehorchen. Warum? Weil die Eltern sind die Orientierung, sind ihr Halt und der Schutz ihres Lebens, Kinder wollen sich nicht dagegen auflehnen. Dann ist schon etwas schief gelaufen.
Dieses kleine Beispiel, es gibt unzählige, viele andere, zeigt, man kann solche Konflikte ohne Tränen lösen, ohne Streit, ohne dass man gleich aufbraust. Man muss nur ein bisschen Gelassenheit, Geduld und ganz viel Liebe für seine Kinder haben. Wo die Liebe verloren ist, ist alles verloren. Da hilft dann kein Therapeut und erst recht kein Disziplin-Pädagoge à la Winterhoff.
Scholl: Deutschlands bekanntester Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann widerspricht der neuen Gehorsamspädagogik, "Wie unsere Kinder keine Tyrannen werden" heißt sein Buch. Es erscheint in Kürze im Beltz-Verlag. Herr Bergmann, schönen Dank für das Gespräch!
Bergmann: Gern.
Wolfgang Bergmann: Guten Tag!
Scholl: In Kürze erscheint Ihr Buch, Herr Bergmann, "Wie unsere Kinder keine Tyrannen werden", eine direkte Anspielung auf den Band Ihres Kollegen Winterhoff, eine Antwort auf seine Thesen und auch auf jene des Bernhard Bueb - Disziplin, Gehorsam, Strenge. Was hat Sie daran so erbost?
Bergmann: Mich haben zwei Dinge erbost: Das eine ist die Thesen, die hier vorgetragen werden, die Überlegungen auch, was für Eltern nützlich ist. Herr Gott, das ist uralt! Ich habe vor jetzt fast 20 Jahren ein Buch geschrieben, "Gute Autorität". Damals erschraken alle, mindestens alle Pädagogen, Lehrer und dergleichen noch, wenn sie das Wort Autorität nur hörten, und sagten, boah, der traut sich was, Autorität. Ich war schon immer dafür, dass Erwachsene Kindern gegenüber Autorität sind. Aber das Buch heißt "Gute Autorität", gut heißt beschützende Autorität. Bei meinen Vorträgen vor Eltern sage ich immer, Kinder wollen nicht gleichberechtigt sein, das war ein Irrtum der Vergangenheit, Kinder wollen beschützt werden.
Aber diese Disziplin-Pädagogen, Herr Bueb in besonderer Weise und Herr Winterhoff mit einer ganz merkwürdigen Konfusion und einer ganz eigenartigen Begründung, beide gehen ausschließlich auf Gehorsam, ausschließlich auf "das Kind muss an Normen gebunden werden". So zerstört man eine schöne, freie Kindheit. Man behindert auch die Intelligenz, die Entfaltung, das soziale Mitgefühl, insgesamt die Freiheit eines Kindes, das macht mich zornig. Und wenn ich nachher Zeit habe, will ich gerne noch zwei, drei Zitate etwa von Herrn Bueb hinzufügen. Da verstehen die Zuschauer auch, was mich da so zornig macht.
Scholl: Dass die Bücher sich so immens verkauft haben auch jetzt, also von Herrn Bueb und von Herrn Winterhoff, zeigt ja auch, dass anscheinend unter Eltern ein Klima herrscht, das mehr Disziplin, mehr Gehorsam verlangt. Dafür muss es ja Ursachen geben. Wie erklären Sie sich das?
Bergmann: Zunächst mal bin ich gar nicht sicher, dass es Eltern sind, die diese Bücher kaufen. Beide Bücher sind in einem völlig unmöglichen Deutsch geschrieben, da muss man schon sehr, sehr lese-erfahren sein, dass man die Sätze überhaupt bis zum Ende verfolgen kann. Nein, es sind eher die frustrierten Lehrer. Es sind auch die ältere Generation, die empört ist über moderne Kindheit. Die stürzen sich darauf, die kaufen das.
Die Eltern haben selber haben ganz andere Sorgen. Für die ist interessant die Frage, wie kriegt mein Kind die Schule hin, wie kriege ich es so auf die Reihe, dass ich nicht dauernd ein maulendes oder depressives Kind habe. Die Probleme der Kindheit, die leugnet ja keiner. Und das ist die Antwort auf Ihre Frage.
Kinder haben zunehmend Probleme, die sogenannte ADS, das ist also das Zappelphilipp-Syndrom. Die Kinder können sich nicht konzentrieren, sie können nicht still sitzen. Das ist ein großes Problem für die Kinder selber. Die kleinen Mädchen haben immer mehr Angst, dass sie mit ihrem Körper nicht klarkommen, Selbstverletzung der kleinen Mädchen, all das habe ich in meiner Praxis.
Darauf müssen wir Antworten finden, aber doch nicht dieses etwas Tumbe "da muss man mal dazwischen hauen, da muss man mal strafen und kontrollieren, dann wird das schon". Das führt die Eltern auf die falsche Ebene, das richtet die Hölle in den Familien an und macht die Kindheit der Kinder endgültig kaputt. Da wird man zornig, und das bin ich auch.
Scholl: Eine zentrale These von Michael Winterhoff ist eine Art fataler Symbiose von Eltern und Kind, eine Form falscher Gleichberechtigung, die zu einem frühkindlichen Narzissmus führe. Wir haben hier im Deutschlandradio Kultur natürlich auch mit Michael Winterhoff gesprochen. Hören wir mal, wie er das erklärt:
"Frühkindlicher Narzissmus bedeutet, dass das Kind noch nicht einmal unterscheiden kann zwischen Gegenstand und Mensch. Sie müssen das ja so sehen, das Gehirn ist angelegt, aber die Entdeckung, wie man nachher Gegenstände sieht oder einen Mensch sieht, hat ja etwas mit Erfahrung zu tun. Und im Rahmen der psychischen Verschmelzung der Symbiose verhalten sich heute Eltern oft wie Gegenstände, das heißt, sie lassen sich von den kleinen Kindern, ohne dass es ihnen bewusst wäre, permanent steuern und bestimmen. Und damit ist es noch nicht einmal möglich diesen Kindern, festzustellen, dass Menschen Menschen sind."
Scholl: Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff im Deutschlandradio Kultur. Und wir sind hier im Gespräch mit dem Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann, der die Ansichten seines Kollegen hart kritisiert. Wie würden Sie also, Herr Bergmann, die richtige Beziehung von Eltern zum Kind beschreiben?
Bergmann: Ja, zunächst mal kann ich solche Sätze nicht unkommentiert stehen lassen. Wir haben hier keine Fachdiskussion, ich will das auch nicht eingehen, aber wie Herr Winterhoff das Wort Symbiose benutzt, dann hat er das Wort Psychenverschmelzung, darunter kann sich wer weiß was jemand vorstellen. Ich kann mir nichts drunter vorstellen. Wie er diese Begriffe verwendet, ist rein fachlich falsch. Das ist erst mal festzuhalten und für die Eltern als Warnung aufzunehmen: Seid vorsichtig mit solchen Leuten, sie wissen teilweise nicht, was sie sagen.
Der zweite Punkt, dass ein Kind einen Menschen nicht als Menschen erkennt - er schreibt das in dem Buch auch, dass ein Kind nicht unterscheiden kann zwischen einem Stuhl und der Oma, die auf dem Stuhl sitzt. So ein Kind ist mir in meiner ganzen langen Praxis nicht ein einziges Mal über den Weg gelaufen. Das ist doch offensichtlicher Quatsch!
Was er da beobachtet hat, das ist allerdings richtig. Das haben vor ihm aber schon ganz viele andere auch geschrieben, nicht zuletzt Uwe Rogge mit seinem Buch "Kinder brauchen Grenzen" und auch dann noch hochwertigere Bücher. Was er beobachtet hat, ist, die Eltern stellen das Kind ins Zentrum ihrer Familie, ins Zentrum des Lebens. Das Kind muss ein ganz tolles Kind sein. Zu mir kommen die auch in die Praxis und haben da ein völlig verstörtes Kind und fragen, wollten wir nur mal testen lassen, ob unser Kind vielleicht hochbegabt ist. Da gucke ich auf den Kleinen und sage, nein, die Sorge müssen Sie sich nicht machen, das ist nicht das Problem dieses Kindes.
Eltern behaften die Kinder mit ihrem elterlichen Narzissmus. Das Kind muss zeigen, was für eine tolle Familie das ist. Das macht den Kindern Angst, das bringt die Kinder unter Leistungszwänge. Die Kinder lernen zu rivalisieren, sich mit anderen Kindern zu vergleichen, bevor sie gelernt haben, ein freies, soziales Spiel und Miteinander mit gleichaltrigen Kindern zu erleben. Das ist eine richtige Beobachtung. Ich habe das in einem Buch vor etwa sieben Jahren ausführlich über viele Seiten beschrieben.
Das ist eine richtige Beobachtung, aber die Analyse von Herrn Winterhoff streift sozusagen die Lächerlichkeit. So ist es natürlich überhaupt nicht. Es gibt keine Psychenverschmelzung, der Begriff Symbiose ist falsch gebraucht. Ich könne das jetzt noch lange Zeit fortführen, tue ich nicht, weil ich höflich bin ...
Scholl: Herr Bergmann, das haben wir jetzt verstanden, aber "Wie unsere Kinder keine Tyrannen werden", so haben Sie Ihr Buch genannt. Sie schildern darin sozusagen paradigmatische Situationen, wenn der kleine Trotzkopf mal wieder partout nicht will. Also zum Beispiel der klassische Konflikt: Mama hat einen Termin, will mit dem Kind weggehen, Kind spielt aber noch. Frage: Kommst du jetzt endlich? Antwort: Nein, will nicht. Und dann geht's los, das Drama. Wie lösen Sie es, Herr Bergmann?
Bergmann: Das muss man ganz wichtig sagen, dieses Buch hat etwa 160 Seiten, davon sind über 100 Seiten alltägliche Situationen - Trotzanfall im Supermarkt, das Kind will unbedingt eine Süßigkeit, das Kind kommt zu spät, Mama und Papa warten. Wie reagiert man, ohne gleich auf den Tisch zu hauen, ohne dass es Tränen gibt, ohne dass der schöne Samstagnachmittag in der Eisdiele verdorben ist? Nehmen wir dieses Beispiel: Das Kind spielt, Mama sagt, nein, wir müssen einkaufen gehen. Dann haben sich viele Eltern angewöhnt, dass ihr Einkaufen Gehen jetzt viel wichtiger ist und dass man das Spiel einfach unterbrechen darf. Da muss man den Eltern mal sagen, jetzt überlegt doch mal: Erstens, wenn ich mal einhalte, ist es wirklich so wichtig, dass ich jetzt sofort einkaufe? Vielleicht in einer halben Stunde, wäre das nicht auch früh genug? Da hat man ein bisschen ein entspannteres Leben. Wir können uns von unseren Kindern belehren lassen.
Das Zweite: Gerade die jungen Eltern legen unendlich Wert drauf, das Kind soll sich kreativ entwickeln, das Kind soll psychomotorisch und weiß der Himmel was gefördert werden. Nichts fördert die Intelligenz, die Kreativität, auch das soziale Mitempfinden eines Kindes so sehr wie das Spiel. Muss ich also das Spiel stören? Könnte Mama nicht auch so antworten - es kann übrigens auch Papa sein, ist vollkommen schnurz - könnte Mama nicht so antworten, dass sie mal schaut geduldig: Was spielt mein Kind da eigentlich? Sagen wir mal, so ein Dreijähriger hat seine ganz kleine Fantasiewelt aufgebaut. Jetzt schaut sie drauf, und jeder Mutter geht da ein bisschen das Herz auf, dieses kleine Wesen, was der alles hervorbringen kann.
Und da kann man sich denken, na ja, dann gehen wir halt in einer halben Stunde einkaufen. Vielleicht telefoniere ich mal mit einer Freundin, die ich schon fast vergessen hatte. Und da kommt so ein bisschen Freiheit, wissen Sie, so ein bisschen Offenheit in das Leben. Mama telefoniert mit der Freundin, vielleicht wird es ein spannendes Gespräch. Und da kann es in der Tat passieren, dass dem Kleinen sein Spiel langweilig geworden ist, er kommt rein, plaudert mitten ins Telefongespräch rein, Mama, wann gehen wir denn endlich, mir ist langweilig. Und dann, aber erst dann, hat die Mutter absolut das Recht zu sagen: Wenn ich telefoniere, hast du Pause, geh spielen!
Scholl: Wäre das so ein Moment, wo auch der dreifache Vater Bergmann dann mal laut würde?
Bergmann: Nee, nee, ich werde da überhaupt nicht laut. Ich habe drei Kinder, ich habe meine Kinder nicht ein einziges Mal bestraft. Man muss Kinder nicht bestrafen. Kinder wollen ihren Eltern gehorchen. Warum? Weil die Eltern sind die Orientierung, sind ihr Halt und der Schutz ihres Lebens, Kinder wollen sich nicht dagegen auflehnen. Dann ist schon etwas schief gelaufen.
Dieses kleine Beispiel, es gibt unzählige, viele andere, zeigt, man kann solche Konflikte ohne Tränen lösen, ohne Streit, ohne dass man gleich aufbraust. Man muss nur ein bisschen Gelassenheit, Geduld und ganz viel Liebe für seine Kinder haben. Wo die Liebe verloren ist, ist alles verloren. Da hilft dann kein Therapeut und erst recht kein Disziplin-Pädagoge à la Winterhoff.
Scholl: Deutschlands bekanntester Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann widerspricht der neuen Gehorsamspädagogik, "Wie unsere Kinder keine Tyrannen werden" heißt sein Buch. Es erscheint in Kürze im Beltz-Verlag. Herr Bergmann, schönen Dank für das Gespräch!
Bergmann: Gern.