Der Dokumentarfilm "Alices Buch - Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten" ist bis zum 11. November in der Arte-Mediathek abrufbar und am 13. Oktober um 22:20 Uhr auf Arte zu sehen.
Plagiate im Dritten Reich
Statt Alice Urbach hieß der Autor nach 1938 Rudolf Rösch: Texte, Fotos und Rezepte - alles wurde plagiiert. © imago / teutopress
Als Hitler das Kochbuch meiner Oma stahl
30:24 Minuten
"So kocht man in Wien!" oder "Deutsche Stilkunst": Auf gut gehende Sachbücher jüdischer Autoren wollten die Nationalsozialisten nicht verzichten. "Arische" Autoren übernahmen die Werke fast unverändert. Bis heute kämpfen die Opfer dieser Plagiate um ihre Rechte.
"Ich habe in einer deutschen Buchhandlung ein Buch gesehen, dessen Titel mich angezogen hat: ‚Stilkunst‘. Autor Ludwig Reiners", erinnert sich Stefan Stirnemann. Als der Lateinlehrer aus Chur vor 15 Jahren das Buch von Ludwig Reiners kauft, ahnt er nicht, dass er ein Plagiat in den Händen hält. Seit 1943, als das Buch erstmals erschien, gilt der Münchener Fabrikant und Schriftsteller Ludwig Reiners als Stilpapst der deutschen Sprache. Doch dem Lateinlehrer Stirnemann gefällt das Buch nicht, nachdem er es gelesen hat:
"Das war mir zu glatt. Dann habe ich irgendwo aufgeschnappt, dass Ludwig Reiners von einem jüdischen Autor abhängig sei - von Eduard Engel und seinem Buch ‚Deutsche Stilkunst‘."
Eduard Engel, 1851 in einer jüdischen Familie im polnischen Stolp geboren, war Sprach- und Literaturwissenschaftler, Verleger und Kritiker. Sein Buch "Deutsche Stilkunst" war 1911 erschienen – und wurde zu einem Bestseller. Bis 1931 wurden mehr als 60.000 Exemplare verkauft. Engel betrachtete das Buch als sein Lebenswerk. Doch als die Nazis an die Macht kamen, durfte Engels Buch nicht mehr erscheinen. Wie es dem hochbetagten Sprachwissenschaftler nach 1933 ging, kann man einem seiner Briefe entnehmen. Der Berliner Gelehrte Alexander Graf von Brockdorff hatte ihm offenbar seine Hilfe angeboten. Überliefert ist nur die Antwort von Eduard Engel an ihn im Jahr 1938:
"Hochverehrter Graf! Dank für Ihren gütigen Brief. Ich bin vor 54 Jahren aus dem Judentum ausgetreten, trotzdem sind meine Bücher verboten, und ich leide mit meiner Frau bitterste Not. Sie können mir nicht helfen, selbst wenn Sie wollten. Ich schuldete Ihnen diese Mitteilung, denn wahrscheinlich haben Sie nicht gewusst, dass ich jüdischer Herkunft bin. Verehrungsvoll, Engel."
Selbst der Titel wurde fast wörtlich übernommen
"15 Wochen nach diesem Brief ist er gestorben, am 23. November 1938, weit über 80 Jahre", sagt Stefan Stirnemann. "Seine Frau Anna starb 1947. Sie hatte noch gehofft, dass nach dem Kriegsende die Werke des Mannes wiedererscheinen konnten."
Was Anna Engel damals offenbar nicht wusste – das Buch ihres Mannes war 1943 unter einem anderen Autorennamen erschienen. Das NSDAP-Mitglied Ludwig Reiners hatte Engels "Deutsche Stilkunst" abgeschrieben und ein wenig umformuliert. Selbst der Titel wurde fast übernommen. Aus der "Deutschen Stilkunst" wurde schlicht "Stilkunst". Ludwig Reiners bediente sich großzügig an dem Werk des jüdischen Sprachkenners.
"Engel schreibt: ‚Goethe hat mehr als 50 Jahre nur diktiert und mochte zuletzt überhaupt nicht mehr anhalten, selbst schreiben‘. Bei Reiners lautet dieser Satz so: ‚Goethe hat alles diktiert, mochte zuletzt überhaupt nicht mehr anhalten schreiben und hatte keinen eigenen Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer‘."
Im Sinne der NS-Propaganda "arisiert"
Im Jahr 2014 verglich die Germanistin Heidi Reuschel von der Universität Bamberg mit einer speziellen Software einige Kapitel von Reiners und Engel. In den untersuchten Abschnitten fand die Wissenschaftlerin "Hunderte von Übereinstimmungen". In ihrer Dissertation "Tradition oder Plagiat?" stellt Reuschel fest: Reiners betrieb das Ideen- und Strukturplagiat. Und er "arisierte" das Buch im Sinne der NS-Propaganda, betont Stefan Stirnemann:
"Eduard Engel schrieb zu einem Problem der deutschen Wortstellung: ‚Wir dürfen nicht sagen noch schreiben: Ich habe gesehen meinen Freund, denn dies ist undeutsch‘. Daraus macht Reiners: ‚Aber nur bei längeren Sätzen können wir das Verb voranziehen. In Kürzeren klingt das Voranziehen wie Judendeutsch - ich habe gemacht ein feines Geschäft.‘ Reiners ersetzt also das Beispiel und er nimmt eine andere Wertung - Judendeutsch. Das bedeutet, Juden könnten nicht Deutsch und sind hinterlistige Geschäftemacher."
"Wir haben ein deutsches Theater, einen deutschen Film, eine deutsche Presse, ein deutsches Schrifttum, eine deutsche bildende Kunst, eine deutsche Musik und einen deutschen Rundfunk", verkündet Propagandaminister Josef Goebbels bei der Jahrestagung der Reichskulturkammer am 27. November 1936 in der Berliner Philharmonie:
"Der früher oft gegen uns vorgebrachte Einwand, es gäbe keine Möglichkeit, die Juden aus dem Kunst- und Kulturleben zu beseitigen, weil deren zu viele seien und wir die leeren Plätze nicht neu besetzen könnten, ist glänzend widerlegt worden!"
"Wenn man sich auf die Wahnvorstellungen überhaupt einlassen will, unter denen Goebbels offenbar gestanden hat, so muss man nüchtern feststellen, dass es den Nazis eben nicht möglich war, die leeren Plätze neu zu besetzen", sagt Stefan Stirnemann. "Die Vertriebenen mussten ihnen dabei helfen, in dem eben ihre Gedanken, ihre Lebensleistung einfach nicht mehr unter ihrem Namen weitergegeben wurde."
"Wenn man sich auf die Wahnvorstellungen überhaupt einlassen will, unter denen Goebbels offenbar gestanden hat, so muss man nüchtern feststellen, dass es den Nazis eben nicht möglich war, die leeren Plätze neu zu besetzen", sagt Stefan Stirnemann. "Die Vertriebenen mussten ihnen dabei helfen, in dem eben ihre Gedanken, ihre Lebensleistung einfach nicht mehr unter ihrem Namen weitergegeben wurde."
Skrupelloser Umgang mit jüdischem geistigen Eigentum
Die "Arisierung" in Fach- und Sachbuchverlagen gestaltete sich ab 1933 unterschiedlich. Während ein Ludwig Reiners beim Abschreiben immerhin umformulierte, gingen andere Autoren noch viel skrupelloser mit dem jüdischen geistigen Eigentum um. Name weg, ein paar jüdische Rezepte weg – fertig. So verfuhr der Münchener Ernst-Reinhardt-Verlag mit dem Kochbuch seiner jüdischen Autorin Alice Urbach "So kocht man in Wien!".
Die Enkelin der Autorin, Karina Urbach, die heute in Cambridge zu internationalen Beziehungen und zur Geschichte der Geheimdienste forscht, hat ihre Großmutter nie über das Erlebte während des Holocaust gefragt. Erst vor ein paar Jahren, lange nach dem Tod Alice Urbachs, begann sie, die Geschichte ihrer Großmutter zu rekonstruieren – und wurde damit zur ersten Historikerin, die sich dem Thema "Plagiat" im Holocaust" widmet.
Alice wird 1886 in Wien in eine bürgerliche jüdische Familie hineingeboren. Ihr Vater, ein reicher Textilfabrikant, war politisch sehr aktiv.
"Alice wuchs auf in einer Umgebung, die sehr intellektuell war", sagt Karina Urbach. "Sie war ein verträumtes Mädchen, eigentlich eine höhere Tochter, die sehr verwöhnt wurde, aber die im Grunde nichts Nützliches lernte. Und das musste sie dann kompensieren, als 1918 die Familie das ganze Geld verloren hatte, als sie plötzlich vor dem Nichts stand und zwei kleine Kinder hatte und einen vollkommen nutzlosen Ehemann."
Zur Rechteaufgabe gezwungen
Alice kann nur eins - kochen! Völlig verarmt, macht sie aus ihrer Begabung eine Einnahmequelle. Zu Beginn der 1920er-Jahre eröffnet Alice Urbach in Wien eine Kochschule für angehende Ehefrauen und wird mit ihren Rezepten für Tafelspitz oder Marillenknödel berühmt. 1935 veröffentlicht sie ihr ganzes Wissen in dem Kochbuch "So kocht man in Wien!". Ihr Herausgeber: der Münchener Ernst-Reinhardt-Verlag. Die 500 Seiten starke Enzyklopädie der Wiener Küche wird ein Bestseller, bis 1938 25.000mal verkauft. Doch nach dem sogenannten Anschluss Österreichs 1938 untersteht Alice Urbach als Jüdin den Nürnberger Rassegesetzen. Werke jüdischer Autorinnen und Autoren dürfen nicht mehr verlegt werden.
"Das passierte ihr jetzt auch, dass ihr Buch ‚arisiert‘ wurde und dass sie einen Vertrag unterschrieb, 1938, also kurz bevor sie flieht, in dem sie alle Rechte aufgibt für zwei weitere Bücher, die sie auch für den Ernst-Reinhardt-Verlag geschrieben hat. Also sie unterschrieb, für eine kleine Geldzahlung, die sie dringend brauchte, denn sie wollte ja nach England fliehen, gab sie alles auf."
Alice Urbach und ihren Söhnen gelingt die Flucht. Nach Kriegsende besucht sie Wien – und entdeckt in einer Buchhandlung ihr Kochbuch. Allerdings unter der Autorenschaft eines gewissen Rudolf Rösch. Doch es sind ihre Texte, ihre Rezepte, ihre Fotos. Alice Urbach wendet sich an den Verlag, sie will ihre Autorinnenrechte zurück, schreibt: Die Rechte an ihrem Buch seien ihr 1938 unter Druck genommen worden. Diese Arisierung solle jetzt beendet und rückgängig gemacht werden. Doch sie erreicht nichts. Auch als ihre Enkelin Karina Urbach sich viele Jahrzehnte später entschließt, ein Buch über ihre Großmutter und das Unrecht, das ihr angetan wurde, zu schreiben, bekommt sie vom Ernst-Reinhardt-Verlag in München eine Abfuhr mit derselben Begründung wie schon ihre Großmutter: Sämtliche Archivunterlagen seien in den Kriegswirren verschwunden.
"Mit diesen Lücken musste ich halt leben und habe dann eben darum herum recherchiert, habe geschaut, wie haben andere Verlage das gemacht? Und das hat sich jetzt erweitert zu einem sehr viel größeren Projekt, weil ich immer mehr Fälle finde, die genau wie Alice behandelt wurden."
Zum Beispiel Dr. Erna Meyer. Die Volkswirtin jüdischer Abstammung war eine wichtige Protagonistin im Diskurs um den "Neuen Haushalt" in der Weimarer Republik. Dabei ging es um Frauenemanzipierung. Mit ihrem Buch "Der neue Haushalt" suchte Erna Meyer nach praktischen Haushaltslösungen, um der modernen Frau der 1920er-Jahre unter der Doppelbelastung durch Arbeit und Familie ihr Leben zu erleichtern.
Ihr Wegweiser zur wirtschaftlichen Haushaltsführung war ein Renner. Basierend auf diesem Erfolg gründete Erna Meyer 1929 die Zeitschrift "Neue Hauswirtschaft" im Thienemann-Verlag. Die Münchner Kulturhistorikerin Laura Altmann forscht zusammen mit einer israelischen Kollegin über das Leben und Schaffen von Erna Meyer. Diese Zeitschrift sei ein Riesenerfolg gewesen, sagt Altmann:
"Denn da ging es einfach um das moderne Leben der neuen Frau, des neuen Menschen der Zwanzigerjahre. Darin wurden Architekturausstellung beschrieben, Architektur erklärt. Darin konnte man beispielsweise lesen über Gymnastik für Frauen über 40. Wie wichtig ist die Sommerruhe? Wie löse ich einen Kurzschluss? Wie lese ich einen Grundriss? Welche Rechte habe ich als Frau? Da gab's juristische Themen. Da gab es Architektur, Gesundheit, da gab es alles Mögliche."
Der Verlag mauert und öffnet sein Archiv nicht
Erna Meyer ist erfolgreich und berühmt, sogar die deutsche Boulevardpresse interessiert sich für ihr Leben. All das endet abrupt im Jahr 1933. Im Dezember wandert Erna Meyer nach Palästina aus. Sie kommt dort beinahe mittellos an. Die Forscherin Laura Altmann möchte herausfinden, was sie zu dieser schnellen Auswanderung zwang:
"Die einzige Erklärung, die wir haben – weitere Forschung war uns bislang nicht möglich –, ist, dass es um den Verlust ihrer Zeitschrift ging. Bis 1933 war Erna Meyer Herausgeberin und Gründerin der Zeitschrift. Und schon im Juni war sie nicht mehr die Herausgeberin. Das entnehme ich den Titelblättern ihrer Zeitschrift. Da stand der Name Lotte Weitbrecht, das war die Tochter des Verlegers. Meine Vermutung ist, dass sie diese Zeitschrift übernommen hat und Erna Meyer aus ihrer Position verdrängt hat. Genau weiß ich es allerdings nicht. Ich kann das nur sozusagen dem Impressum entnehmen. Weil ich keine Möglichkeit habe, mehr darüber im Verlagsarchiv nachzulesen."
Seit fünf Jahren bemüht sich die Kunsthistorikerin um den Zugang in das Archiv des Stuttgarter Thienemann-Esslinger Verlags, um Hintergründe dieser Vertreibung zu rekonstruieren. Der Verlag habe ihr zwar stets freundlich geantwortet, auch einige Cover von der Zeitschrift seien ihr zugeschickt worden, erzählt Altmann. Doch bei konkreten Fragen nach Verträgen oder Briefen beiße sie auf Granit:
"Die Begründungen sind unterschiedlich. Einmal, dass es nichts gibt. Dann bekomme ich die Begründung, dass das Archiv eigentlich nicht zugänglich ist."
Datenschutzgründe, sagt der Verlag
Auf die Nachfrage von Deutschlandfunk Kultur gibt der Thienemann Verlag folgende Begründung: "Da das Verlagshaus im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört wurde, sind viele Verlagsunterlagen verloren gegangen. Das noch bestehende Korrespondenzarchiv ist nicht so erschlossen, dass wir einzelne relevante Konvolute für Forschungszwecke zugänglich machen können. Wir bedauern das sehr."
"Das bedauere ich auch sehr, weil das ja meine Arbeit ist, ein Konvolut zu erschließen", so Laura Altmann. "Das ist ja nicht die Arbeit eines Verlags, sondern eher der Forschung, würde ich sagen. Ich kann das schon auch verstehen, denn es kann natürlich sein, das was zutage kommt, was sich nicht so schön liest. Aber dafür ist ja die Forschung da, dass wir sachlich darüber berichten und die Sachen aufdecken."
Laura Altmann wendet sich noch einmal an den Thienemann-Esslinger Verlag und bietet nun ihre fachliche Hilfe beim Sichten des Archivs an. Doch der Verlag bleibt bei seiner Entscheidung und argumentiert: "Da sich in diesem Archiv Verträge und Schriftwechsel zu unterschiedlichsten Vorgängen und mit vielen Autoren und Autorinnen finden, können wir Frau Altmann auch aus Datenschutzgründen nicht ohne Weiteres Zugang zu diesem Archiv geben."
Ein weiterer Fall: Knaurs Gesundheitslexikon
"Ich habe versucht anzufragen, gibt es noch Unterlagen, und da habe ich aber schon immer die Erfahrung gemacht, auch schon in den 90er-Jahren, auch bei anderen Verlagen: Entweder wird gesagt: ‚das ist im Krieg verloren gegangen‘ oder ‚wir haben kein Archiv, und wir wissen gar nicht, wo das ist‘. Von Droemer Knaur habe ich nie eine Antwort bekommen", sagt der Medizinhistoriker Peter Voswinkel. Sein Forschungsinteresse gilt Josef Löbel, dem jüdischen Arzt, Journalist und Autor des berühmten "Knaurs Gesundheitslexikon". Erschienen 1930 im Knaur Verlag unter Josef Löbel, war das Buch viele Jahrzehnte lang für den Verlag Droemer Knaur, wie er heute heißt, ein Bestseller und stand in vielen deutschen Haushalten im Bücherregal, sagt Peter Voswinkel.
"Es war wirklich sehr populär geschrieben, es waren jeweils kurze Artikel, mehr so im Plauderton, quer durch die ganze Medizin. Aber genau das kam damals unheimlich gut an. Und es gab das in verschiedenen Ausgaben – in Leinen und in Papier gebunden – es war ein großer Verkaufserfolg."
Peter Voswinkel stellt bei seinen Recherchen fest: Ab 1940 verschwindet der Name "Josef Löbel" von der Titelseite. Als neuer Herausgeber wird ein gewisser Peter Hiron angeführt. Als Peter Voswinkel die Löbel-Ausgabe mit der von Hiron vergleicht, stellt er fest: Der Inhalt ist zu 98 Prozent identisch. Peter Hiron hat nur ein paar Anpassungen im Sinne der NS- Ideologie durchgeführt.
"Zum Beispiel wurde ‚Homosexualität‘ gestrichen, aber auch andere Begriffe – ‚Psychoanalyse‘ und ‚Haftpsychose‘. Das war bei Löbel noch drin. All diese Begriffe, die verschwanden, wurden ersatzlos gestrichen. Aber ansonsten war das im Aufbau eigentlich fast identisch, das Gros der Artikel war alt. Und bezeichnenderweise änderte sich der Titel. Vorher war es eben ein "Gesundheitslexikon", und jetzt wurde es ein "Führer durch die Gesundheit".
"Zum Beispiel wurde ‚Homosexualität‘ gestrichen, aber auch andere Begriffe – ‚Psychoanalyse‘ und ‚Haftpsychose‘. Das war bei Löbel noch drin. All diese Begriffe, die verschwanden, wurden ersatzlos gestrichen. Aber ansonsten war das im Aufbau eigentlich fast identisch, das Gros der Artikel war alt. Und bezeichnenderweise änderte sich der Titel. Vorher war es eben ein "Gesundheitslexikon", und jetzt wurde es ein "Führer durch die Gesundheit".
"Der Name Walter Guttmann-Marle tauchte nie mehr auf"
1933 verlässt er Deutschland Richtung Wien. Bei seiner Recherche zu Josef Löbel half dem Medizinhistoriker Peter Voswinkel schließlich das Werk eines anderen beraubten jüdischen Arztes: Walter Guttmann-Marle. Von 1902 bis 1939 war unter seinem Namen das Werk "Die Medizinische Terminologie" mehr als 30-mal aufgelegt worden.
"Da hat sich dann eben nur ein deutschstämmiger oder eben ein reichsdeutscher Arzt auf das Titelblatt gesetzt und hat das Buch fortgeführt. Das war ein Arzt in Berlin, ein junger Mann in den 30er-Jahren, Herbert Volkmann. Diese Bücher sind auch nach dem Krieg dann weiter unter dem Namen Herbert Volkmann erschienen, der Name Walter Guttmann-Marle tauchte nie mehr auf. Und nun wollte ich natürlich unbedingt wissen, wer war denn nun dieser Herbert Volkmann, um den auch eventuell noch mal zur Rede zu stellen oder mich zu informieren."
Peter Voswinkel gelingt es Ende der 1990er-Jahre, den Sohn von Herbert Volkmann in München ausfindig zu machen. Sein Vater sei bereits seit 1970 tot, sagt der Sohn und erzählt, dass sein Vater viel publiziert habe, auch unter den Pseudonymen Peter Grunow und dem besagten Peter Hiron.
"Und da hat es bei mir geklingelt! Denn ich wusste über den Doktor Löbel, dass dessen Knauers Gesundheitslexikon von 1930 eben auch übernommen worden war von Peter Hiron."
"Und da hat es bei mir geklingelt! Denn ich wusste über den Doktor Löbel, dass dessen Knauers Gesundheitslexikon von 1930 eben auch übernommen worden war von Peter Hiron."
Während sich Herbert Volkmann seit 1940 bis zu seinem Tod über reichlich Tantiemen freuen kann, kämpfen die beiden beraubten jüdischen Ärzte ums Überleben. Am Ende geben beide auf. Walter Guttman-Marle begeht 1941 in Berlin Selbstmord. Josef Löbel, findet Peter Voswinkel nach langen Recherchen heraus, flieht nach dem Anschluss Österreichs mit seiner Frau aus Wien nach Prag. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei sitzt das Ehepaar ab März 1939 in der Falle.
"Und nachdem dann seine Frau abgeholt worden war nach Theresienstadt, da wurde er zunächst noch mal zurückgestellt, weil er eine Tuberkulose hatte. Er musste erst noch eine Kur machen, ist doch paradox eigentlich. Und als er dann von dieser Kur zurückkam, zwei Monate später, hatte er sich in Prag das Leben genommen."
Am 20. Mai 1942 wird Josef Löbel tot in seiner Wohnung in Prag aufgefunden. 2018 verfasst der Medizinhistoriker Peter Voswinkel sein Buch über "Dr. Josef Löbel. Franzensbad – Berlin". Er findet heraus, dass es kein NS-Gesetz gab, das die wissenschaftlichen Verlage gezwungen hätte, sich von ihren jüdischen Autorinnen und Autoren zu trennen. Das hätten die Verlage selbst bereitwillig getan, in "vorauseilendem Gehorsam", wie Voswinkel vermutet.
"Was ich viel verwerflicher finde, moralisch gesehen, dass man nach dem Krieg nicht den Mut hatte, diese Schuld einzugestehen. Das wurde alles unter den Teppich gekehrt. Und die haben dann wirklich versucht, das zu tabuisieren. Und man hat alles getan, auch die Erinnerung selber zu tilgen."
Auf unsere Nachfrage, ob der Verlag Droemer Knaur plane, seines einst beraubten jüdischen Autors zu gedenken, antwortet der Verlag:
"Unser Archiv lag 20 Jahre brach. Wir strukturieren es seit zwei Jahren um und stehen hier aber noch ganz am Anfang. Möglicherweise finden sich dort weiterführende Unterlagen (…) Wir gehen das Ganze aktiv an."
Beraubte jüdische Autorinnen und Autoren, profitierende NSDAP Mitglieder und Mitläufer – und ein renommierter Verlag, der sich jahrelang nicht mit seiner eigenen Geschichte in der NS-Zeit auseinandersetzen wollte. Genau das hat Janwillem van de Loo, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter am "Institut für Internationale Angelegenheiten", an der Universität Hamburg mit dem C.H Beck-Verlag erlebt.
"Der Verlag C. H. Beck hat während der NS-Zeit einen jüdischen juristischen Verlag in Berlin aufgekauft", sagt van de Loo. "Es lief damals unter ‚aufkaufen‘, aber es war natürlich nur wegen der Umstände des NS-Regimes denkbar, dass dieser jüdische Verlag verkaufte. Das war der Verlag von Otto Liebmann. Es war ein sehr erfolgreicher Verlag. Der hat unter anderem die deutsche Juristen-Zeitung rausgegeben und eine ganze Reihe von Kurzkommentaren."
Der "Kurzkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch" war die erfolgreichste Reihe des Otto- Liebmann-Verlags. Dieses 3216-seitige juristische Nachschlagewerk ist seit mehr als 80 Jahren ein Bestseller. Der Name des jüdischen Verlegers und Begründers Otto Liebmann verschwand 1933 vom Titelblatt. Seit 1939 und bis heute heißt der BGB-Kommentar "Palandt". Allerdings schrieb der angebliche Verfasser Otto Palandt, zu NS-Zeiten Präsident des Reichsjustizprüfungsamtes, zu dem Werk lediglich ein Vorwort im Sinne des NS-Regimes.
Ab sofort heißt der "Palandt" "Grüneberg"
Als Janwillem van de Loo während seines Jurastudiums erfährt, dass Otto Palandt in Wirklichkeit ein glühender Nazi war, ist er entsetzt – und handelt. Zusammen mit Kommilitonen gründet van de Loo 2016 die Initiative "Palandt umbenennen". Sie starten Petitionen und wenden sich an den C.H. Beck Verlag. Der Fall "Palandt" kommt an die Öffentlichkeit. Doch erst fünf Jahre später, am 27. Juli 2021, lenkt der C.H. Beck Verlag ein. Der Verlag kündigt an, den so genannten "Palandt" und andere "belastete" Werke umzubenennen. Der Verleger Hans Dieter Beck sagt dazu in der Pressemitteilung:
"Um Missverständnisse auszuschließen, haben wir uns nun dazu entschlossen, Werke mit Namensgebern, die in der NS-Zeit eine aktive Rolle gespielt haben, umzubenennen. In Zeiten von zunehmendem Antisemitismus ist es mir ein Anliegen, durch unsere Maßnahmen ein Zeichen zu setzen."
Ab sofort heißt der juristische Kommentar "Grüneberg", nach Christian Grüneberg, Richter am Bundesgerichtshof und einer der aktuellen Kommentatoren des Bürgerlichen Gesetzbuches. Für Janwillem van de Loo ist das keine gute Entscheidung:
"Der Verlag verpasst leider die Chance, an die Geschichte, an die jüdischen Wurzeln zu erinnern und wählt als neuen Namen aktuelle Herausgeber. Wir empfinden das als verpasste Chance und angesichts der Argumentation - man will was gegen Antisemitismus machen und eigentlich wollte man ja auch an die Geschichte erinnern – als wenig nachvollziehbar und auch nicht richtig überzeugend, muss ich sagen."
Nach jahrelangem Kampf lenkte der Verlag ein
Auf Nachfrage von Deutschlandfunk Kultur, warum sich der Verlag für den Namen "Grüneberg" und nicht etwa "Liebmann" entschieden habe, antwortet C.H. Beck:
"Wir haben verschiedene Möglichkeiten diskutiert. Die Umbenennungen haben wir dann zum Anlass genommen, um die Werke nach denjenigen Personen zu benennen, die das Werk inhaltlich entscheidend prägen. Im Fall des Palandt ist das Christian Grüneberg."
Karina Urbach kennt die abwehrende Haltung deutscher Verlage zu ihrer NS-Vergangenheit nur zu gut. Jahrelang kämpfte sie darum, die Unterlagen zur "Arisierung" des Kochbuchs ihrer Großmutter Alice Urbach aus dem Archiv des Ernst-Reinhardt-Verlags in München zu bekommen. Im Oktober 2020 veröffentlichte die Oxforder Historikerin dann im Ullstein-Verlag ein vielbeachtetes Buch, eine Art Andenken an ihre Großmutter unter dem Titel: "Das Buch Alice". Das Werk wurde mittlerweile in fünf Sprachen übersetzt. Sein Erfolg hat dazu geführt, dass der Ernst-Reinhardt-Verlag nun doch auf Karina Urbach zugegangen ist. In dem Verlagsarchiv hätten sich jetzt Dokumente zu der Autorenschaft ihrer Großmutter gefunden, ließ man sie Ende 2020 wissen – und dazu noch insgesamt 18 Briefe von Alice Urbach an den Verlagsinhaber in den 1950er-Jahren.
"Das sind wirklich sehr rührende Briefe, in denen sie sagt, dass sie ja versteht, dass es nicht seine Schuld war. Und dass er in der Nazizeit nicht anders handeln konnte mit dieser Arisierung. Aber dass sie sehr gerne jetzt doch die Rechte für ihr Buch wiederhaben will."
Eine limitierte Ausgabe des Originals als Wiedergutmachungsgeste
Eine Interviewanfrage hat der Münchner Ernst-Reinhardt-Verlag abgelehnt. In der schriftlichen Stellungnahme betont der Verlag:
"Alice Urbach hat nach dem Krieg darunter gelitten, dass ihr Werk nicht mehr in der Originalfassung mit ihrem Namen erschienen ist. Wir bewerten das damalige Verhalten des Verlages als moralisch nicht vertretbar."
Der Verlag hat sich bei Karina Urbach entschuldigt und die Rechte an dem Buch ihr und ihrer Cousine zurückgegeben. Darüber hinaus hat er den Originaltitel von Alice Urbachs Kochbuch in limitierter Ausgabe herausgebracht – als Geste der Wiedergutmachung.
Diese Wiedergutmachung wurde nach mehr als 80 Jahren auch dem Sprachwissenschaftler Eduard Engel zuteil, über dessen Schicksal wir zu Anfang berichtet haben. Vor fünf Jahren hat der Verlag "Die andere Bibliothek" sein Buch "Deutsche Stilkunst" neu aufgelegt – unter seinem Namen und in einer zweibändigen Ausgabe. Stefan Stirnemann, der sich lange für die Rehabilitierung von Eduard Engel eingesetzt hat, schreibt darin ein ausführliches Vorwort und geht vor allem auf die Plagiatsversuche durch Ludwig Reiners ein:
"Reiners zog in Engels Buch ein wie in eine arisierte Wohnung. Er veränderte manches, verschob Möbel, hängte Bilder um und brachte anderes Gut und Hausrat mit; er handelte im Geiste und unter dem Rechtsschutz der Nationalsozialisten."
Stefan Stirnemann und Karina Urbach haben lange gekämpft und am Ende gewonnen. Eduard Engel und Alice Urbach sind wieder Autoren ihrer Bücher. Bei Erna Meyer, Josef Löbel und Otto Liebmann lässt diese Wiedergutmachung noch auf sich warten. Vermutlich sind die aufgezeigten Fälle nur die Spitze des Eisbergs vom geistigen Raub an jüdischen Autoren. Wissenschaftler haben zunehmend Interesse an diesen Fällen. An der Universität Halle entsteht zurzeit eine Doktorarbeit mit dem Thema "Arisierung jüdischer juristischer Fachverlage in Deutschland".
Karina Urbach ist darum überzeugt: Bald werden weitere Fälle aufgedeckt.
"Es wird jetzt zu einer Lawine werden, nach einer Weile. Es ist immer noch mühsam, aber es wird jetzt sehr viel ins Rollen kommt. Da bin ich sicher", sagt sie.
"Es wird jetzt zu einer Lawine werden, nach einer Weile. Es ist immer noch mühsam, aber es wird jetzt sehr viel ins Rollen kommt. Da bin ich sicher", sagt sie.
"Als Hitler das Kochbuch meiner Oma stahl"
Ein Feature von Julia Smilga
Autorin: Julia Smilga
Es sprachen: Cornelia Schönwald und Olaf Ölstrom
Regie: Beatrix Ackers
Technische Realisation: Martin Eichberg
Redaktion: Susanne Arlt
Ein Feature von Julia Smilga
Autorin: Julia Smilga
Es sprachen: Cornelia Schönwald und Olaf Ölstrom
Regie: Beatrix Ackers
Technische Realisation: Martin Eichberg
Redaktion: Susanne Arlt