Plappern in der Zwischenwelt

Von Stefan Keim |
Sechs Menschen steigen aus dem Wasser, ziehen sich die Kleider aus und schwadronieren über Gott und die Welt. Das ist der Beginn von Roland Schimmelpfennigs neuem Stück "Calypso". Jürgen Goschs Inszenierung des etwas lang geratenen Textes hat einige starke Bilder, mitunter wird der Abend doch etwas lang.
Die Bühne steht unter Wasser, eine Stelle ist richtig tief. Die Schauspieler tauchen unter, einige Sekunden lang ist nichts mehr von ihnen zu sehen. Dann tauchen sie auf, prusten, spucken Wasser, japsen, krabbeln langsam an die Rampe. Dort ist ein wenig fester Boden für sie.

Roland Schimmelpfennig zeigt gern Menschen in extremen Situationen. In seinem neuen Stück "Calypso" erzählt er aber keine Geschichte wie in seinem Erfolgswerk "Die Frau von früher". Die sechs Menschen - zwei Paare mit je einem erwachsenen Kind - ziehen sich die nassen Kleider aus und plappern. Über Homöopathen und Makler, Verrat und Misstrauen, Krankheiten und den Tod - und darüber, dass bei einem der Paare die Peniswoche beginnt.

Was das genau bedeutet, wird nicht gelüftet. Die Stärke von Roland Schimmelpfennigs neuem Werk ist ohnehin, dass vieles in der Schwebe, ein Geheimnis bleibt. An den nackten Bühnenwänden des Hamburger Schauspielhauses spiegeln sich die kleinen Wellen des Wassers. Eine stumme Figur tritt auf, sitzt unbemerkt bei den anderen, isst, trinkt und tanzt mit ihnen. Es ist der verstorbene Ehemann der Hausherrin Marion, ein Geist. Die junge Tanja (Marie Leuenberger) bekommt plötzlich Ausschlag und cremt sich dick mit einer Salbe ein. Wie einbalsamiert sieht sie danach aus.

Der Fluss könnte auch der Styx sein. Vielleicht sind die sechs ertrunken, als ihr Boot bei einem Ausflug kenterte. Mag sein, sie sind tot und merken es nicht. Dann wären sie in einem Zwischenreich.

"Calypso" heißt das Stück, Roland Schimmelpfennig ist ein Meister der feinen Anspielungen. Calypso ist der Name des untergegangenen Bootes, so hießen Schiffe von der Antike bis zum Forschungskreuzer von Jacques Cousteau. Calypso heißt auch ein Mond, darauf wird im Stück ebenfalls angespielt. Der Musikstil kommt zwar im Text nicht vor, aber Regisseur Jürgen Gosch - ein Schimmelpfennig-Experte - hat ihn in seine Inszenierung aufgenommen.

Manchmal erstarren die Schauspieler zu lebenden Bildern. Dann zirpen und zischen sie entweder, oder sie singen den berühmten "Banana-Boat-Song", den Deutschland von Harry Belafonte kennt. Zu Beginn ist es ein schönes, schwebendes mehrstimmiges Arrangement. Aber weil alle - das steht als Regieanweisung im Text - hemmungslos Wein und Schnaps kippen, bleibt gegen Ende nur noch ein Lallen übrig.

Es ist - wie immer bei Gosch - eine liebevolle Aufführung mit explosiven Momenten und wundervollen Stimmungen. Aber manchmal wird der Abend auch sehr lang, was vor allem an Schimmelpfennigs formlosem, oft ausuferndem Text liegt. Eine Uraufführung darf nicht zu sehr kürzen, es täte dem Stück aber gut. Denn die Grundidee eines Gruppenbildes zwischen Lächerlichkeit und Lebensdurst, Plappern und Poesie ist gut, Schimmelpfennig scheint ein wenig an Tschechow anzuknüpfen, sogar ein Arzt ist dabei in dieser seltsam aus der Welt gefallenen Mittelstandsgesellschaft. Ähnlich wie in seinem Stück "Ambrosia" huldigt Schimmelpfennig einem Schwafelrausch, der viele luzide Momente hat, aber auch etwas spannungsarm ist.

Die hervorragenden Schauspieler kämpfen leidenschaftlich um den Text, Marion Breckwoldt als barocke Hausherrin, Markus John als ihr knuffelig weicher Ehemann, Klaus Rodewald als zynischer, von verborgener Angst zerfressener Arzt, Ute Hannig als seine leicht hysterische Ehefrau. Etwas schwächer gezeichnet sind schon im Text die jungen Figuren.

"Calypso" ist keins von Schimmelpfennigs wichtigen Stücken, aber schon in zwei Monaten gibt's die nächste Chance. Da hat in Zürich sein neues Werk "Hier und jetzt" Uraufführung, wieder in der Regie von Jürgen Gosch.