Christian Kohlross ist Kulturwissenschaftler, sowie als Einzel- und Paartherapeut tätig. Zuletzt als Buch von ihm erschienen ist: "Kollektiv-Neurotisch. Warum die westlichen Gesellschaften therapiebedürftig sind".
Corona und die seelischen Kosten der Moderne
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Corona hat unser Leben radikal verlangsamt. Nun zeigt sich ein kollektiv verdrängtes Unbehagen an der Kultur der Beschleunigung. Wie umgehen, mit aufkommenden Sinnfragen, Angst und Aggression? Das fragt sich der Kulturwissenschaftler Christian Kohlross.
Wir leben, das liegt auf der Hand, in ziemlich verrückten Zeiten. Aber in welchen Zeiten leben wir eigentlich?
Ein Anzeichen dafür, dass wir jedenfalls nicht mehr in der Moderne, auch nicht mehr in der Post- oder Spätmoderne leben, ist, dass die Idee der Mobilität nicht mehr ist, was sie war: Sie war nämlich ein, wenn nicht das bestimmende Kennzeichen der Moderne.
Immerzu unterwegs
An deren Anfang, der Zeit um 1500, beginnen europäische - ja, es sind fast ausnahmslos: Männer - damit, sich auf Reisen zu begeben und die Welt zu entdecken. Der Idee, wie dem Erleben der Mobilität, haftet seither die Aura des Aufbruchs zu neuen Welten an – eine Aura, ohne die es den Massentourismus des 20. Jahrhunderts vermutlich nie gegeben hätte.
Aber der moderne Mensch ist nicht nur als Reisender, er ist auch sonst immerzu unterwegs. Denn schon im reinen Unterwegssein liegt für ihn die Verheißung des Fortschritts.
Parallel zur Mobilisierung der äußeren Welt, vollzieht sich die Mobilmachung der Innenwelt des modernen Menschen. Nur als selbst-, als auto-mobiles, sich beständig optimierendes Wesen glaubt der Mensch der Moderne, den Anforderung einer auf rasantes Wachstum programmierten Ökonomie noch gerecht werden zu können.
Das Gebot mentaler und emotionaler Beweglichkeit gipfelt schließlich in der Zumutung, auch noch die entlegensten Standpunkte einnehmen zu können und sogleich, da ja alles relativ und nichts wirklich gewiss ist, wieder aufzugeben.
Zwangsentschleunigung und Sinnfrage
Diese Dynamisierung des äußeren und inneren Lebens hat aus der Moderne ein nervöses Zeitalter und aus dem modernen Menschen einen Getriebenen gemacht, der sich in seiner Automobilität nahezu alles leisten kann, nur eben: keine Antriebslosigkeit.
Nicht erst die Corona-bedingte Zwangsentschleunigung des Lebens hat jedoch eine Gegenbewegung entstehen lassen, die der Entbindung von Ort, Zeit und Standpunkt durch die Beschleunigung innerer und äußerer Mobilität eine neue Verbindlichkeit entgegensetzt.
Das Problem dabei: Die Mobilmachung und Beschleunigung des Lebens und Erlebens hat in modernen Gesellschaften eine emotional stabilisierende Funktion. Sie fungiert als Abwehr gegen den Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Bestehenden.
Sie hält Frustration und Überdruss am Zustand der Welt unter der Wahrnehmungsschwelle, kurz: Sie verhindert, dass die seelischen Kosten der hochmobilisierten Moderne bewusst erlebt – und gefühlt werden.
Unbehagen, Angst und Aggression
Wird das hoch beschleunigte Leben jedoch radikal verlangsamt oder kommt wie in Corona-Zeiten plötzlich zum Stillstand, kommt auch das kollektiv verdrängte Unbehagen an der Kultur der Beschleunigungsmoderne zu Bewusstsein – vor allem, und derzeit fast überall auf der Welt, in Gestalt von Angst und Aggression.
Wer ernsthaft an der Beendigung des atemlosen Zustands der Welt interessiert ist, wird deshalb nicht einfach auf Innehalten und Entschleunigung setzen können, er wird auch eine Vorstellung davon entwickeln müssen, wie das mit Angst und Aggression einhergehende Unbehagen an der Kultur nicht nur bekämpft und abgewehrt, sondern zugelassen werden kann.
Denn erst so besteht Aussicht darauf, die damit einhergehenden spannungsreichen Gefühlslagen zu verändern und schließlich sogar zu nutzen: als Ressourcen bei der Neugestaltung der Welt.
Wie das geschehen kann ist die Frage an ein Forschungsfeld, das es noch gar nicht gibt, das es aber, wenn ich recht sehe, dringend geben sollte.