Podiumsdiskussion

"Jeder demokratische Staat muss im Grundsatz säkular sein"

Es ist der 9. Mai 2011, der Unabhängigkeitstag in Israel und ein orthodoxer Jude mit Hut telefoniert und blickt dabei auf den Boden, im Hintergrund die israelische Flagge, bestehend aus Lichterketten in der alten Stadt Jerusalem. Sie feiern den 63. Geburtstag des Beginns eines jüdischen Staates.
Es ist der 9. Mai 2011, der Unabhängigkeitstag in Israel und ein orthodoxer Jude mit Hut telefoniert und blickt dabei auf den Boden, im Hintergrund die israelische Flagge, bestehend aus Lichterketten in der alten Stadt Jerusalem © imago/UPI Photo
Moderation: Sebastian Engelbrecht |
In der Bertelsmann-Repräsentanz Unter den Linden in Berlin fand diese Woche eine Podiumsdiskussion statt, die der Rolle der Religion in Deutschland und in Israel auf den Grund gehen wollte. Wir haben für Sie die Höhepunkte dieser Diskussion zusammengefasst.
Philipp Gessler: Am Montag fand in der Bertelsmann-Repräsentanz Unter den Linden in Berlin eine Podiumsdiskussion statt, die der Rolle der Religion in Deutschland und in Israel noch einmal auf den Grund gehen wollte. Es diskutierten Rabbiner Tuvia Ben-Chorin von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Professor Micha Brumlik vom Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, Ellen Ueberschär, die Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags sowie Professor Rainer Kampling vom Seminar für katholische Theologie der Freien Universität Berlin.
Moderiert hat die Diskussion Sebastian Engelbrecht vom Deutschlandradio. Wir haben für Sie die Höhepunkte dieser Diskussion zusammengefasst! Der Israel-Experte Stephan Vopel von der Bertelsmann Stiftung hat in den Abend eingeführt.
Stephan Vopel: Lassen Sie mich mit einer persönlichen Bemerkung beginnen! Es ist keineswegs selbstverständlich, denke ich, dass wir heute so miteinander sprechen können, Deutsche und Israelis. 70 Jahre nach dem Holocaust, 70 Jahre nach dem Kriegsende, 50 Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen ist es meiner Meinung nach ein kleines Wunder, wie gut, wie eng und in großen Teilen wie vertrauensvoll die Beziehungen zwischen Deutschland Israel und letztendlich die Beziehungen zwischen vielen Deutschen und vielen Israelis sind. Und das ist ein bisschen wie das halb volle oder halb leere Glas Wasser und ich glaube, wir werden immer wieder auch diese beiden Facetten nebeneinander abwiegen. Wir stehen aber hier auf einem keineswegs sicheren und unerschütterlichen Boden.
Wir stehen gemeinsam auf den Schichten der Vergangenheit, in all ihren Facetten. Und dass dieser Boden keineswegs immer gleichermaßen tragfähig ist, das wissen wir alle aus verschiedenen Diskussionen auch der jüngsten Zeit. Ich glaube, aus der heutigen Perspektive kann man gar nicht vorhersehen, wo Deutschland und Israel in 50 Jahren stehen. Aber wenn man die Entwicklung sich anschaut, dann wäre es schon etwas, wenn man wüsste, wo sie in fünf, zehn oder 15 Jahren stehen. So weit eine ganz kurze Einführung. Ich freue mich jetzt sehr, das Wort an den Intendanten des Deutschlandradios Dr. Willi Steul zu übergeben. Vielen Dank.
Willi Steul, Intendant Deutschlandradio
Willi Steul, Intendant Deutschlandradio© Deutschlandradio/Mediengestaltung
Willi Steul: Lieber Herr Vopel, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist mir eine ganz besondere Freude, dass ich Sie an diesem Abend hier begrüßen kann. Deutschlandradio widmet dem Thema "50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen" in diesem Jahr einen Programmschwerpunkt unter dem Titel "Faszination und Befremden". Wir haben im Januar damit begonnen und wir werden noch bis in den August hinein in allen unseren drei Programmen das deutsch-israelische Verhältnis betrachten und abbilden, auch mit Konzerten zum Beispiel, mit Zeitzeugen-Gesprächen, mit Features. Ich freue mich ganz besonders auf die deutsch-israelische Clubnacht live aus Berlin und Tel Aviv, das ist nicht ein Ereignis für meine Altersgruppe, aber ich habe vorhin gerade daran gedacht, eigentlich wäre schön, vielleicht schaffe ich es, in Tel Aviv mit den jungen Leuten zu feiern. Wir wollen die deutsch-israelischen Beziehungen gemeinsam betrachten, besser verstehen, weiterentwickeln und auch feiern.
Diese freundschaftlichen Beziehungen sind 70 Jahre nach dem Ende der Schoah keineswegs selbstverständlich. Obwohl wir nachgeborenen Deutschen daran keine unmittelbare Schuld tragen, so tragen wir doch die dauernde historische Schande unserer Nation und die aus dieser Schande entstehende Verantwortung für Gegenwart und Zukunft. Die Schändung hunderter jüdischer Gräber gestern im Elsass, die Ereignisse am Samstag in Kopenhagen, wo sich Mordanschläge auch gegen eine Synagoge und dort feiernde Menschen einer Bar-Mizwa richteten, dies muss uns alle beschämen. Religiöser Fundamentalismus und Fanatismus, aber auch die aggressive Negation der Religion, beides birgt politischen Sprengstoff. Es kommt heute mehr denn je darauf an, das Verhältnis von Religion und Staat so zu regeln, dass Religionen Frieden stiften können und nicht für Kriege benutzt werden. Und es kommt darauf an, dass eine Gesellschaft den Diskurs über Religion und Religionen mit Sensibilität und gegenseitigem Respekt führt. Das gilt für alle Länder dieser Welt, das gilt auch für Deutschland und Israel. Ich möchte aber auch ganz persönlich unterstreichen, dass ich die erklärte Solidarität mit Israel für einen ganz zentralen politischen Punkt, eine Aussage in der Geschichte der Bundesrepublik halte.
Auch Deutschlandradio steht ganz und gar dazu. Und jetzt will ich Ihnen den Moderator unserer heutigen Diskussion vorstellen: Dr. Sebastian Engelbrecht hat nicht nur ganz entscheidend unseren 50-Jahre-Schwerpunkt im Deutschlandradio und auch die Veranstaltungen hier zusammen mit der Bertelsmann Stiftung entwickelt, der Kollege Engelbrecht war auch fünf Jahre lang bis 2012 unser Korrespondent in Israel. Herr Engelbrecht, das Mikrofon gehört Ihnen!
Sebastian Engelbrecht: Ja, vielen Dank an den Intendanten von Deutschlandradio, Dr. Willi Steul, und vielen Dank an Sie alle, dass Sie gekommen sind an diesem Abend hier in der Bertelsmann-Repräsentanz in Berlin! "Heiliges Land und säkularer Staat, die Rolle der Religion in Israel und Deutschland", das ist unser Thema. Es geht um Gegensätze, wir haben es schon gehört, zwischen Israel und Deutschland. Israel ist ein Land, in dem Religion eine enorme Bedeutung hat, enorme symbolische, historische Bedeutung, ein Land, das aus demografischen Gründen immer religiöser wird. Und die Deutschen entledigen sich der Religion, indem sie aus der Kirche austreten, tun das Gegenteil. Die Säkularisierung schreitet in großen Schritten voran und es wächst zugleich die religiöse Vielfalt. Der Israeli unter uns, der Experte für diese Situation, die wir eben zusammengefasst gehört haben, ist Rabbiner Ben-Chorin. Welche Rolle spielt Religion in Israel, welche Funktion hat sie?
Tuvia Ben-Chorin: Was meinen Sie unter Religion? Wenn Sie von einer Religion sprechen, denken Sie natürlich in der westlichen Form! Wenn in Israel wir von einer Religion sprechen, müssen wir erst mal denken von einer Zivilisation, angefangen mit Abraham, die 4.000 Jahre alt ist. Und da ist natürlich Religion ein sehr wichtiges Element. Aber das heißt nicht, dass jeder religiös ist. Heißt nicht, jeder Pessach feiert, glaubt, dass Gott uns aus Ägypten herausgebracht hat. Aber jeder, der Pessach feiert, glaubt an die Freiheit des Menschen als eine Gruppensituation und nicht des europäischen Individualismus. Ist das jetzt Religion oder nicht Religion? Die Religion ist ein Teil der jüdischen Zivilisation. Und viele halten sich an diese Zivilisation. Sie müssen auch in Kauf nehmen, dass viele Leute in Israel noch nicht in den Prozess der Aufklärung reingekommen sind.
Engelbrecht: Braucht Israel ein anderes System aus Staat und Religion? Da würde ich gern mal Herrn Professor Brumlik vielleicht mal fragen: Von außen betrachtet, aus Deutschland, braucht Israel eine klarere Trennung von Staat und Kirche?
Micha Brumlik: Ja, das ist nicht nur ein israelisches Problem. Ich glaube, dass jeder demokratische Staat im Grundsatz säkular sein muss. Das heißt, dass die Gesetzgebung durch und durch säkular ist und dass sie nicht religiös gesteuert oder begründet sein kann.
Engelbrecht: Also, in Israel ist ein religiöses Recht heute in Kraft, so was Ähnliches wie die Scharia, könnte man sagen, nur dass es eben nicht die Scharia ist, sondern die Halacha, das jüdische Gesetz. Es gibt weltliche Gerichte und es gibt religiöse Gerichte und beide sind sozusagen eingesetzt vom Staat. Ellen Ueberschär, religiöses Recht, das ist ja bei uns total negativ behaftet. Müssen wir das so negativ sehen, wenn wir auf dieses religiöse Recht in Israel blicken? Hat das nicht auch sozusagen seinen Ort und eine Chance, die man einfach akzeptieren muss, wenn man von Deutschland aus darauf blickt?
Ellen Ueberschär: Ich fand das jetzt ganz gut, wie Sie es aufgenommen haben, zu sagen, das ist doch eigentlich ein bisschen wie Scharia! Weil Scharia hier ja immer so ein großes Schreckwort ist in Deutschland, aber faktisch ist es natürlich so: Wir haben zwar drei monotheistische Religionen, aber der ganz große Unterschied zwischen dem Islam und dem Judentum auf der einen Seite und dem Christentum auf der anderen Seite ist eben, dass wir kein Recht haben. Wir haben im Christentum kein religiöses Recht in diesem Sinne. Das macht natürlich einen Unterschied ums Ganze, dass wir – in Anführungszeichen – rechtlos sind. Traditionell im Grunde haben wir das römische Recht übernommen, aus einer ganz anderen Tradition her gesehen, und deswegen können wir als christlich verwurzelte Kultur oder säkularisierte Kultur im Grunde gar nicht nachempfinden ... Das sind zwei unterschiedliche Ebenen. Also, was bedeutet es eigentlich, religiöses Gesetz sozusagen im Staat Israel, ist es denn eigentlich so schlimm? Ich meine, würde sich das Gesetz reformieren? Ich frage mich immer, warum kann sich religiöses Recht nicht auch durch Auslegung, durch exegetische Weiterentwicklung verändern? Vor allen Dingen natürlich, was das Verhältnis von Männern und Frauen angeht.
Engelbrecht: Also ein Plädoyer gegen die komplette Laisierung Israels von außen, würde ich jetzt mal sagen.
Ueberschär: Absolut.
Engelbrecht: Herr Professor Kampling, stimmen Sie da ...
Brumlik: Das habe ich nicht verstanden, haben Sie gegen eine komplette Laisierung Israels argumentiert?
Ueberschär: Ich habe ...
Engelbrecht: Das war ja ein Plädoyer für das religiöse Recht, das war ja ...
Brumlik: Das will ich jetzt aber genauer wissen!
Ueberschär: Ich bin jedenfalls nicht für die Laisierung von Israel. Ich bin ja hier auch nicht dafür, dass wir einen laizistischen Staat haben!
Brumlik: Darum ging es aber nicht. Es ging jetzt zunächst darum, ob – in Ihren Worten gesprochen – es dort ein ziviles Personenstandsrecht geben soll.
Ueberschär: Na ja, es gibt ja zwei Möglichkeiten. Entweder die religiösen Gerichte reformieren sich in einer gewissen Weise und stellen Gleichheit zwischen Männern und Frauen her, warum soll das nicht gehen? Wenn das aber nicht geht, ...
Brumlik: Geht nicht.
Ueberschär: ... dann braucht Israel sicherlich auch ein ziviles Personenstandsrecht. Aber das steht mir jetzt nicht zu, das zu fordern.
Brumlik: Das orthodoxe Rabbinat wird dem nicht zustimmen auf absehbare Zeit.
Ueberschär: Man kann ja mal eine Idee äußern.
Engelbrecht: Es gäbe ja die Option – das ist eine gute Idee, wie ich finde, aber meine Meinung spielt weniger eine Rolle –, dass man das öffnet, das religiöse Recht, und sozusagen auch religiöse Gerichtshöfe von konservativen und reformierten jüdischen Gemeinden einführt. Aber ich wollte eigentlich die kompetentere Meinung von Professor Kampling dazu einholen!
Zu sehen ist die israelische Nationalfahne, die durch einen schwarz-rot-goldenen Farbverlauf überlagert wird
Zu sehen ist die israelische Nationalfahne, die durch einen schwarz-rot-goldenen Farbverlauf überlagert wird© Deutschlandradio
Kampling: Also, ich denke, zunächst müsste man noch mal daran erinnern, dass, als es eingeführt wurde in Israel, auch in Europa kaum irgendwo anders aussah. Also, denken wir an das englische Eherecht zu der Zeit! Und im Übrigen haben wir die italienische Lösung: So lange ist das noch nicht vorbei, dass in Italien die kirchliche Ehe ... Spanien auch, also ... Es ist doch immer zu bedenken, dass während der Schoah 90 Prozent der Rabbiner und der Rabbinerschüler umgebracht worden sind. Also 90 Prozent der religiösen Zukunft. Und dass man nun denen eine eigene Heimat gibt, ganz schwer nachvollziehbar vielleicht heute, aber in der damaligen Zeit doch nachvollziehbar. Und ich denke als Mitglied der römisch-katholischen Kirche – und wir haben viele Gesetze –, dass dieses Problem ziemlich einfach ist: Es gibt ein staatliches Gesetz und es gibt ein kirchliches Gesetz. Und Sie wissen, wie es ist, also: Man kann sich lustig scheiden lassen, das heißt aber nicht als Katholik, dass man damit noch zu den Sakramenten darf. Wir haben auch noch zwei verschiedene Rechtsformen und das muss die Lösung für Israel sein, wenn es denn möglich wäre. Allerdings kann ich nicht genau erkennen, dass jetzt sozusagen der Kontext oder geografische Kontext in Israel dazu angetan ist, diese Lösung jetzt anzustreben. Also, sozusagen eine europäisch-zivilisatorische Lösung scheint ja, dass die ganze Levante wieder viel stärker sich religiös definiert. Und warum sollte Israel da eine Ausnahme sein? Wünschenswert wäre natürlich tatsächlich ein staatliches Ehegesetz, aber da wollen wir auch dran denken, was das in Deutschland bedeutet hat, die Durchsetzung! Also, wir müssen auch immer daran denken, so lange ist das alles noch nicht her. Wir kennen doch alle die schönen Filme von Fellini! Also, die italienische Scheidung ist doch nun immer noch eine Kunstform!
Engelbrecht: Die streng Religiösen werden in Israel immer stärker. Wenn also diese bessere Trennung von Religion und Staat Wirklichkeit werden soll, sollte sich Israel dann nicht möglichst bald eine Verfassung geben – Israel hat ja keine Verfassung –, in der diese Trennung von Religion und Staat festgeschrieben wird, bevor diese Religiösen die Mehrheit stellen?
Ben-Chorin: Ihr alle erwartet von einem jungen Staat, weil Sie Juden als Europäer kennen, und vergessen, dass 70 Prozent der Leute, die in Israel leben, nie in einer Demokratie waren! Und wir sind jetzt in einem Melting Pot und es ist ein langer Prozess: Was ist eine jüdische Demokratie? Das ist die neue Herausforderung. Und da müssen wir nicht immer auf Antisemitismus warten und dann den Leuten sagen, kommt jetzt nach Israel! Weil, auf Antisemitismus eine Identität aufzubauen, auf etwas so Negatives ... Und das hat man eine lange Zeit gemacht! Da sehen wir jetzt die Früchte davon. Wir müssen viel positiver denken, das Judentum hat bestimmte Vorstellungen ... Zum Beispiel, wenn wir von Freiheit sprechen, ist das eine Sache, die von der Gruppe getragen wird. Nicht von Einzelnen, sondern von der Gruppe. Und hier müssen wir neue Wege finden – und darum gehöre ich der Reformbewegung an, die im Judentum nur 200 Jahre alt ist, aber in Israel besonders durch meinen Vater Schalom Ben-Churin und andere Leute angefangen worden ist –, diese Trennung von Staat und Halacha: Ja. Judentum und Staat: Nicht. Und hier ist etwas neues Kreatives. Und wenn ihr wirklich mitmachen wollt, weniger projizieren auf Israel, sondern innerlich mehr in die Diskussion hereinkommen!
Brumlik: Lieber Rabbiner Ben-Chorin, bei allem Respekt, da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Mit einem Begriff aus der sogenannten postkolonialen Debatte würde ich sagen, das ist Orientalismus, was Sie hier betreiben. Was heißt denn das, das ist eine nicht westliche Gesellschaft? Ein großer Teil der Juden ist vor 60 Jahren aus arabischen Ländern vertrieben worden, in dieser Zeit hätte man schon Zeit gehabt, Demokratie zu erwerben. Was ich vielleicht einräumen würde, wäre: Wir haben Gorbatschows Rache, also die russischen Juden, die seit 30 Jahren dort sind. Aber wenn wir so argumentieren, dann brauchen wir über Russland und über Ungarn überhaupt nicht mehr zu reden und uns zu wünschen, dass die demokratisch werden, glaube ich.
Engelbrecht: Ich will mal eine Zahl hier noch in den Raum werfen! Von den Grundschulkindern in Israel sind heute 30 Prozent Ultraorthodoxe und gehen nicht auf staatliche Schulen, sondern auf vom Staat anerkannte ultraorthodoxe Einrichtungen. Wir haben momentan zehn Prozent ultraorthodoxe Bevölkerung, also streng religiöse Bevölkerung ist vielleicht das bessere Wort, in Israel, 30 Prozent der Grundschulkinder. Ja, würde ich jetzt doch mit Professor Brumlik sagen: Alarmiert Sie das nicht für die Zukunft? Was ist denn dann die Zukunft der Reformgemeinden, wenn sich das so weiterentwickelt und wir bald über 50 Prozent Ultraorthodoxe in Israel haben?
Ben-Chorin: Nein, es alarmiert mich nicht. Natürlich ist das ein langer Kampf und es hat auch damit zu tun, dass viele Leute in Israel in einer Schtetl-Phobia leben. Wir suchen immer wieder Feinde rings herum, Sie sehen das jetzt auch im Wahlkampf: Netanjahu spricht nur vom Iran. Jetzt bei den passierten Sachen in Paris war er auch dabei, hat er den Leuten schön gewedelt, als ob er auch noch die Kampagne in Paris weiterführt und nicht nur in Israel. Wir haben solche Erscheinungen. Ich glaube, es wird zu einem bestimmten Gipfel kommen, wo dann eine Krise da ist. Es war auch eine Zeit von großem Säkularismus in Israel. Eine Sache ist klar: Wie der Staat gegründet worden ist, wo die Mehrheit dann wirklich säkulare Juden waren, haben sie alle gehofft, dass die Orthodoxen aussterben werden. Und die Orthodoxen haben gehofft, wir werden genug viele Kinder produzieren und die säkularen Juden werden verschwinden. In der Zwischenzeit haben wir diese Spannung. Alarmierend ist für mich, dass wir nicht genug in Israel über die gesellschaftlichen Probleme sprechen und dass ein Volk meint, dass es Sicherheit bekommt dadurch, dass es ein anderes Volk – in dem Fall die Palästinenser – kontrolliert und dadurch sich eine Sicherheit gewinnt. Das ist, was für mich viel mehr alarmierend ist als die Orthodoxie, weil das wirklich die Seelen von vielen jungen Menschen ruiniert. Ist das ein Zufall, dass über 15.000 Israelis heute in Berlin leben? Und das ist diese Reaktion.
Engelbrecht: Ellen Ueberschär, welche Funktion hat die Religion in Deutschland? Ganz anders als in Israel, was ist unsere Lage?
Ueberschär: Das kann man, glaube ich, nicht so in einem Satz beantworten. Also, ich meine, wer sich letzte Woche im Fernsehen oder auch live den Staatsakt für Richard von Weizsäcker gesehen hat, konnte schon den Eindruck gewinnen, dass wir eine sehr enge ... Ja, ich sage mal, was trägt eigentlich den Staat, was trägt die Gesellschaft? Dass wir da eine sehr enge Verbindung, ja, auch von militärischen, kirchlichen und staatspolitischen Linien haben. Auf der anderen Seite wissen wir auch, das wurde ja auch in den Kommentaren gesagt, hier geht die alte Bundesrepublik unter oder das ist sozusagen die Beisetzung, die das symbolisiert ... Und wahrscheinlich ist es auch so. Also, ich persönlich sträube mich immer noch ein bisschen dagegen zu sagen, das, was in Ostdeutschland jetzt der Fall ist, ist quasi ein Teil einer normalen Säkularisierung, weil wir wissen, dass es eben durch wirklichen Zwang und durch Druck auf Menschen erreicht worden ist. Und trotzdem habe ich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ... Ich habe viel über diese Frage nach dem "Charlie Hebdo"-Attentat nachgedacht, ich habe schon den Eindruck, dass der Einfluss der Kirchen in Deutschland dazu führt, dass wir, egal wie auch immer die jetzt noch strukturiert sind, aber wir haben Gemeinschaften in den Gemeinden, wer auch immer sich da trifft, die eine gewisse Stabilität in diese Gesellschaft bringen. In jedem Ort gibt es Kirchengemeinden, evangelische oder katholische oder beide oder freikirchliche oder was auch immer. Und das sind Möglichkeiten, auch über Ängste zu reden. Das sind solche Orte, an denen so ein Austausch stattfindet. Deshalb wandern die Ängste in Ostdeutschland natürlich eher auf die Straße. Auch die Islamophobie wandert auf die Straße, während sie in anderen Regionen stärker auch innerhalb dieser religiösen Gemeinden verhandelt wird und besprochen wird. Also, insofern glaube ich, dass die immer noch trotz der Säkularisierung und des Atheismus, dass die Kirchen in diesem Land die Funktion der Stabilisierung der Gesellschaft haben. Mal jetzt abgesehen von allem, von Diakonie und all diesen institutionellen Stabilisierungsmechanismen!
Engelbrecht: Und was tritt jetzt an die Stelle der Kirchen? Was tritt an die Leerstelle? Ist das also Pegida, ja?
Ueberschär: Ja gut, als Theologin sage ich mal, vor allem der Konsumismus! Ich meine, wir haben es einfach mit einer hedonistischen Kultur zu tun, wir werden es auch erleben, dass die Geschäfte irgendwann – das sehen wir ja jetzt schon so –, dass die Geschäfte auch am Sonntag offen haben, und dann geht man eben Autos angucken oder kaufen oder was auch immer. Also, das würde ich erst mal so als Erstes antworten.
Engelbrecht: Herr Professor Brumlik, Sie sind jetzt zum Apologeten des deutschen Staatskirchenrechts geworden, nicht wahr? Wie konnte es dazu kommen? Sie waren doch mal ein Linker!
Brumlik: Wenn Sie mich vor 20 Jahren gefragt hätten, wäre ich ein radikaler Laizist gewesen. Aber ich kann Frau Ueberschär mit einem funktionalistischen, soziologischen Argument nur zustimmen: Das deutsche Staatskirchenrecht führt dazu, dass der Nährboden für Fundamentalismen aller Art, wie wir das etwa in den USA finden, beinahe ausgetrocknet ist. Gibt es zwar hier auch, aber die haben nicht so gute Chancen. Das liegt also an mindestens zwei Punkten: Erstens daran, dass wiederum anders als etwa in den Vereinigten Staaten das professionelle Personal der Kirchen eben nicht in abgeschotteten kirchlichen Hochschulen studiert, sondern an säkularen Universitäten, und gezwungen ist, sich mit der weltlichen säkularen Wissenschaft auseinanderzusetzen. Zweitens gibt es ein einziges Fach, das nach dem Willen der Mütter und Väter des Grundgesetzes in unserer Verfassung festgeschrieben ist, nämlich der Religionsunterricht, der ordentliches Unterrichtsfach ist. Und der nun wiederum bietet die Chance, solche Probleme der Feindschaft zwischen den Religionen, von Glaubenszweifeln, Ängsten und so weiter zu behandeln. Das nun wiederum gibt es in unserem Nachbarland jenseits des Rheins überhaupt nicht. Da zeigt sich einfach, dass der laizistische Staat bei der Abarbeitung von Problemen, die durch Religion geschaffen werden, ich sage mal, schlechter aufgestellt ist.
Engelbrecht: Also sind wir schon so weit, Professor Kampling, dass wir mithilfe dieses alten Staatskirchenrechts von 1918, das das landesherrliche Kirchenregiment abgelöst hat, dass wir jetzt so etwas wie Gleichberechtigung, faktische Gleichberechtigung auch des Islam zum Beispiel in Deutschland erreicht haben?
Kampling: Es gäbe vielleicht die Möglichkeit zu überlegen, wie man gerade den islamischen Gemeinschaften gerechter werden könnte. Das ist natürlich ein Problem. Wir haben eben die Bildung, wir haben die große katholische Kirche, die große protestantische, die Freikirchen haben sich, soweit ich sehe, ja mehr oder weniger herausgezogen. Zurzeit ist das Problem – und das muss man auch bei den theologischen Zentren sagen –, dass der Gesprächspartner schwierig ist. Ich denke, es liegt nicht an unserem guten System, sondern eher, dass man das Gegenüber noch finden müsste, das dann diese Position wahrnimmt.
Engelbrecht: Lassen Sie uns mal einen Punkt machen an der Stelle und versuchen, die Beobachtungen, die wir gemacht haben einerseits auf israelischer Seite, andererseits auf deutscher Seite, ein bisschen miteinander in Verbindung zu bringen! Und ich will mal noch die Umfrage der Bertelsmann Stiftung zitieren: 55 Prozent der jüngeren Befragten unter 30 empfinden in Deutschland keinerlei Verantwortung gegenüber den Juden, mithin gegenüber dem Volk Israel. Und 65 Prozent der jüngeren Deutschen unter 40 wollen einen Schlussstrich unter die Geschichte des Holocausts ziehen. Darin zeigt sich für meine Begriffe eine starke Geschichtslosigkeit gerade der jungen Leute in diesem Volk, in Deutschland. Hängt das nicht zusammen mit der Entfremdung von der Religion, Professor Brumlik?
Brumlik: Ich glaube, nicht. Ich glaube, das ist einfach der Wunsch, man will endlich wieder normal und unbelastet sein. Ich glaube nicht, sozialwissenschaftlich gesprochen, dass man jetzt genau korrelieren könnte mit den Ausstiegsraten aus den Kirchen. Nein, ich glaube das nicht. Das ist ein nationales Problem, was mit der sogenannten deutschen Identität zu tun hat, und es ist meiner Überzeugung nach mit Sicherheit nicht die Folge einer schleichenden Säkularisierung. Denn ich bitte Sie, also, wenn wir in die 50er-Jahre gehen, da hätten Sie dieses "Schluss damit"-Syndrom, weil ja auch viele Leute noch ehemalige Nazis gewesen sind, da war das weitaus höher, als das heute der Fall ist. Und da war vermutlich die kirchliche Bindung trotzdem noch stärker. Also, ich sehe das nicht.
Engelbrecht: Herrscht da hier Einigkeit?
Ueberschär: Nee, nee!
Kampling: Nee, nee!
Ultra-orthodoxe Juden auf einem Friedhof auf dem Ölberg in Jerusalem, im Hintergrund der Felsendom.
Ultra-orthodoxe Juden auf einem Friedhof auf dem Ölberg in Jerusalem© imago / upi-Foto
Ueberschär: Also, das, was Herr Brumlik gerade sagt, das spricht gegen das Argument, aber das spricht auch viel dafür. Weil dieser Verlust von Wissen über die eigene Herkunft, von christlichen religiösen Traditionen, ich kann es wirklich sagen, ich bin in Strausberg aufgewachsen, was ein Vorort von Berlin ist, hier ja nicht weit. Wie jeder weiß oder viele wissen, ist das auch heute wieder ein militärisches Hauptquartier, war es zu DDR-Zeiten eben auch. In meiner Klasse alles nur Kinder von Offizieren und Generälen. Ich nur christlich. Wir in Erfurt auf Klassenfahrt, ja, was ist denn das hier? Aha, eine Kirche, okay. Rein in die Kirche, ja ... Null Wissen, überhaupt null! Null Wissen über irgendetwas. Ich meine, das sind die Leute, die jetzt bei Pegida auf der Straße stehen und einfach gar nicht wissen: Wo kommen wir eigentlich her, was für eine Kultur haben wir? Dass wir überhaupt irgendeine Verbindung haben mit dem Judentum, warum sollte uns Israel interessieren? Das ist eine ... Es gibt auf der anderen Seite auch negative Tendenzen, aber dieses völlige Abgeschnittensein von dir, von allen Wurzeln, das, finde ich, ist schon eine Tendenz, die nicht nur sozusagen in der DDR – da kenne ich es halt am besten – und ihren Folgen zu beobachten ist, sondern auch in anderen Bereichen, wie Herr Kampling es gesagt hat. Insofern, finde ich, ist an der These was dran. Gleichwohl stimmt es natürlich, in den 50er-Jahren war es anders.
Engelbrecht: Lassen Sie uns doch auch schon ein bisschen in die Zukunft blicken! Wir haben dieses Phänomen heute noch mal rekapituliert, dass wir immer mehr Nationalreligiöse haben, dass diese Gruppe unter den Siedlern vor allem immer stärker wird in Israel, dass wir immer mehr Ultraorthodoxe haben. Was heißt das jetzt für die Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen? Also, müssen wir uns das so vorstellen, dass künftig bei Staatsbesuchen Männer mit gehäkelter Kippa und schwarzen Hüten auftreten werden? Also, muss das nicht zwangsläufig sozusagen, weil es ein Kultur-Clash ist, zu einer Krise dieser Beziehungen auf lange Sicht hin führen?
Brumlik: Also, das glaube ich nicht. Sogar wenn der nächste, der übernächste israelische Premierminister ein Mann mit Schläfenlocken und schwarzem Hut wäre, könnte das kein Grund sein, die Beziehungen zu verschlechtern. Das Problem wird sich daran entscheiden: Wie hält man es in Deutschland mit den besetzten Gebieten? Das ist die Frage. Und da haben wir es nicht mit Männern mit schwarzen Hüten zu tun, sondern mit sehr alerten jungen, nationalreligiösen Männern mit gehäkelten Kippot, die auch ökonomisch in Start-up-Unternehmen und so weiter gut unterwegs sind, aber aus unterschiedlichen Gründen sagen, einen Palästinenserstaat wollen wir nicht. Und der Minister Naftali Bennett, der sagt ja auch ganz offen, das muss annektiert werden. Das wäre dann ein Akt, den die Bundesrepublik Deutschland schlicht und einfach, falls sie sich ans Völkerrecht hält, nicht akzeptieren kann, und dann wird Krise sein wenn das mal so sein wird. Wobei die Krise ja jetzt schon ist. Ich darf daran erinnern, dass es einzelne Urteilssprüche europäischer Gerichtshöfe gibt, wonach in der West Bank unter israelischem Label produzierte Waren nicht privilegiert in die EU eingeführt werden dürfen. Und es könnte sein, dass sich so ein Trend verstärkt. Das heißt, das Problem der diplomatischen Beziehungen sind eher die modern auftretenden Nationalreligiösen denn die Ultraorthodoxen.
Engelbrecht: Also, die Religion wird uns auch in Zukunft nicht trennen?
Kampling: Also, ich denke, dass man auch hier unterscheiden muss zwischen staatlichen Notwendigkeiten. Ich kann nicht erkennen, dass unsere Beziehungen zu Indien schlechter geworden sind. Ein bekennender Hindu, wie es bisher noch nie in der Regierung gegeben hat! Also, da hat, denke ich, jeder Staat Übung. Ich könnte mir auf kuriose Weise sogar vorstellen, dass das die Sympathien erhöht. Denn ein Problem des Judentums in Deutschland ist ja die Anatevkaisierung, also, dass man Juden so weit nett findet, wie sie dem Klischee entsprechen. Also ... À la "Anatevka". Das ist eine merkwürdige Gloriorisierung des orthodoxen Judentums gerade zu der Zeit. Und da wäre ich sehr vorsichtig. Das Problem ...
Engelbrecht: Aber Herr Kampling, die Studien von der Bertelsmann Stiftung sagen genau das Gegenteil: Je religiöser die Israelis sind, desto Deutschland-kritischer sind sie auch.
Kampling: Ja, aber ich denke jetzt, aus unserer Sicht gesehen würde so ein Staat dann sozusagen absolut als jüdischer durchgehen. Was ich denke, ist das Grundproblem, das mich angesprochen hat, aber ein anderes auch: Sind religiös-konservative Gruppierungen an der Macht, ob das nun in Indien oder in Israel wäre, haben wir Probleme mit den Menschenrechten! Das ist offensichtlich ein Gesetz und dann wird es Konflikte geben.
Engelbrecht: Ich bedanke mich herzlich für diese Diskussion, guten Abend!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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