Pöppendorf statt Palästina
Die meisten wollten nach Palästina, doch nur wenigen gestattete die britische Mandatsregierung die Einreise. So begannen jüdische Organisationen die illegale Einwanderung zu organisieren - auch in Lübeck, wo Benjamin Gruszka, genannt "Bolek", damit betraut war, jüdische Flüchtlinge zu sammeln und nach Palästina weiterzuleiten.
Eines der illegalen Einwandererschiffe war die "Exodus", die im Juni 1947 mit 4500 Menschen an Bord von den Briten vor der Küste Palästinas gekapert wurde. Die Passagiere wurden auf andere Schiffe verladen und landeten nach monatelanger Irrfahrt wieder in deutschen Lagern - in Lübeck, in Pöppendorf und Am Stau.
Von dem einst dichten Buchenwald sind nur einzelne uralte Exemplare geblieben und überwachsene Stümpfe hier und da. Stattdessen ragen heute die hageren Stämme von Duglasien in die Höhe. Und die ausladenden Zweige von Fichten dämpfen das Sonnenlicht.
Eine holprige Straße windet sich durch den Waldhusener Forst im Norden von Lübeck. Seit Jahrzehnten schon wird der Asphalt nur notdürftig geflickt, warum auch, hier ist nicht viel Verkehr.
Erhard Sacher: "Mein Name ist Sacher, Erhard ... ich bin hier in Lübeck-Pöppendorf geboren ... ganz in der Nähe hier, zwei Kilometer vom Waldhusener Forst entfernt ... "
Spaziergänger schätzen den Forst unweit des Flüsschens Trave. 20 Kilometer von hier mündet es in die Ostsee.
Sacher: "Ich kann mich an den großen Flüchtlingsstrom erinnern. Dass hier sehr viele Flüchtlinge gewohnt haben - dass ist das allgemein, woran man sich erinnert, nicht? Dieser Weg, der hier runter führt zum Wasser, da sind mehrere solche Latrinen gewesen...also auf deutsch gesagt die so genannten Donnerbalken...und die kann man auch heute noch, wenn man den Weg geht, links und rechts erkennen. "
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges säumen Holzbaracken den Pfad und Hunderte so genannter Nissen-Hütten - provisorische Konstruktionen aus Wellblech mit einem zum Halbrund geformten Dach, die offene Stirn- und Rückseite zugemauert. Ihre genaue Zahl kennt heute niemand mehr in Pöppendorf. Auch Revierförster Hans Ratje Reimers nicht, obwohl der weißhaarige Mann in dem Revier schon seit 30 Jahren seinen Dienst verrichtet. In diesen Tagen erreicht er die Pensionsgrenze. Die Spuren des Lagers aber wurden fast vollständig getilgt.
Hans Ratje Reimers: "Es ist 1951 aufgegeben worden. Und der größte Teil der Flächen ist auch 1951 wieder aufgeforstet worden - bis auf einige kleine Reste. Wir stehen jetzt hier auf dem Parkplatz. Und das ist wirklich die letzte Fläche, die auf das Lager hindeutet. Wir haben diese Fläche freigehalten als Parkplatz für Waldbesucher. Und haben natürlich eine Waldhütte hier auch hergestellt um den Besuchern das auch angenehm zu machen. "
Die letzten von den britischen Besatzungssoldaten errichteten Baracken hat Reimers 1963 sogar eigenhändig mit abgerissen.
Reimers: "Also es war ja ursprünglich als Soldatenentlassungslager eingerichtet und ist dann zu einem Flüchtlingsdurchgangslager umfunktioniert worden. Und in den letzten Jahren ab 1947 bis 1951 war es dann ein Flüchtlingswohnlager. Und die letzten zwei Baracken sind 1961 geräumt worden. "
Über die Jahre und in mehreren Wellen finden zig Tausend Menschen in den ersten Nachkriegsjahren hier eine vorübergehende Bleibe. So steht es auf der kleinen Hinweistafel, die Förster Reimers auf dem Parkplatz angebracht hat. In dem knappen Text sind auch jene 4319 jüdische Flüchtlinge verzeichnet, die britische Besatzungstruppen hier 1947 für einige Monate internieren - unter Protest allerdings und gegen ihren Willen.
Sie stammen meist aus Osteuropa. Dem erbarmungslosen Vernichtungswillen der deutschen Einsatzgruppen dort sind sie durch Glück oder durch Zufall entronnen. Die Nationalsozialisten hatten sie in Konzentrationslagern geschunden, in Ghettos gepfercht oder als Zwangsarbeiter ausgebeutet. Nach Ende des Krieges verstärken antisemitische Ausschreitungen in Polen noch das Gefühl der Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit. Entwurzelt und staatenlos machen sich die Geschundenen auf den Weg. Eine Massenflucht.
Meir Schwarz: "Speziell in Deutschland und um Deutschland herum haben sich in den Lagern Menschen gesammelt, Menschen, die von den Lagern gekommen sind, die keine Heimat mehr hatten und nun weiter wollten. Ein Teil ist natürlich auch zu Verwandten nach Amerika. Aber der größte Teil wollte eine neue Heimat schaffen. In Polen ist nichts mehr da, in Russland ist nichts mehr da, in Deutschland ist nichts mehr da, keine Heimat mehr, die Verwandten sind ermordet oder nicht mehr da: heim, eine neue Heimat aufbauen! "
Es sind Menschen wie Meir Schwarz, die den Überlebenden zur Hilfe eilen. Entsandt hat sie die Haganah, die zionistische Untergrundorganisation. Ihre Vision: Neusiedler für den Aufbau eines jüdischen Staates zu gewinnen. Ihr Auftrag: die Flüchtlinge unerkannt quer durch das zerstörte Europa auf dem Weg nach Palästina zu begleiten. Keine leichte Aufgabe. Es gilt, Transportmöglichkeiten zu erkunden und für Unterbringung zu sorgen auf der langen Reise. Ein ganzes Netzwerk von konspirativ arbeitenden Helfern ist dafür nötig. Es erhält einen eigenen Namen: Brichah, was nichts anderes heißt als: Flucht.
Schwarz: "Die Arbeit war gewesen von der Brichah, Menschen über die Grenze zu bringen. Ich habe eine Zeit lang gearbeitet an der Grenze von Österreich nach Italien. Da sind wir gegangen bei Nacht über die Berge. Natürlich mussten wir auch oft zahlen. Oder zum Beispiel die Grenze zwischen Deutschland - damals die Besatzungszonen - und Frankreich. Da ging es schon anders: mit falschen Papieren. Also, das war eine große Arbeit gewesen: Wie Menschen rüber zu bringen über die Grenze um sie näher zu bringen nach dem heiligen Land. "
Vor allem über Häfen in Frankreich, Italien und Rumänien schmuggelt die Brichah die Juden nach Palästina - auf heruntergekommenen Flüchtlingsschiffen. Die britische Mandatsmacht aber versucht, die illegale Zuwanderung mit zunehmend härteren Mitteln zu unterbinden. Sie ist von der wachsenden Gewalt zwischen Juden und der arabischen Bevölkerung mehr und mehr überfordert. Die meisten Schiffe nähern sich der Küste bei Nacht. Doch es gelingt den Briten, einige der Boote abzufangen. Die Insassen werden nach Zypern gebracht und dort interniert. In dieser Situation begleitet Meir Schwarz in der Nacht zum 10. Juli 1947 im Hafen der südfranzösischen Kleinstadt Sète über 4000 Flüchtlinge an Bord der "Präsident Warfield". Agenten der Haganah hatten den ehemaligen Vergnügungsdampfer auf einem Schiffsfriedhof in Baltimore aufgetrieben und notdürftig hergerichtet.
Schwarz: "Es gab keine Dienstgrade. Du musst eine Sache erledigen und fertig. Damals hat man mir gesagt: versuche, rauf zu gehen auf das Schiff. Du bis verantwortlich dafür. In der Minute, wo du da bist von der Haganah, werden alle auf dich hören. Ich musste damals entscheiden, was sozusagen gemacht wird. Ich konnte sprechen im Namen von der Haganah. "
Auf hoher See hissen die Flüchtlinge die blau-weiße Flagge der Zionisten mit dem Davidstern. Gemäß ihrer Mission taufen sie den Dampfer auf den Namen "Exodus". Doch während der gesamten Überfahrt in Richtung Palästina begleiten ihn Kriegsschiffe der britischen Marine. Sie halten sich in Sichtweite. Und am achten Tag der Reise, kurz vor dem Ziel aber noch in internationalen Gewässern, geht der Zerstörer "Childers" längsseits und schwenkt seine Enterbrücke aus. Was dann geschieht, schildert der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk anhand der Erinnerungen des damals 28-jährigen Kapitäns der Exodus.
" Fünf Zerstörer (...) umkreisten und rammten mit voller Kraft einen maroden Seelenverkäufer. Das Schiff erbebte, Paneele fielen herab, (...) mehrstöckige Pritschen stürzten ein, Menschen kauerten dicht gedrängt in den Ecken, und die Marinesoldaten Seiner Majestät unternahmen einen Enterversuch nach dem anderen. (...) Bill Bernstein, einer der amerikanischen Freiwilligen (...), wurde von einem britischen Matrosen attackiert und mit dem Gewehrkolben bearbeitet, bis er zusammenbrach und starb. "
Über Stunden setzen sich Besatzung und Flüchtlinge zur Wehr, werfen mit Konservendosen, Fässern und allem, was sonst zur Hand ist.
" Von beiden Seiten des Schiffes rammten nun zwei Zerstörer gleichzeitig ihren Bug in die hölzernen Aufbauten der Exodus. Das Schiff erbebte und bekam Schlagseite. (...). Ein britischer Soldat schoss auf einen zehnjährigen Jungen, der als Verbindungsläufer an Deck eingesetzt war. Der Junge brach zusammen und starb. (...) Die Menschen liefen wie verschreckte Tiere durcheinander, ließen Leitern auf die Soldaten fallen, die in Wellen zu Hunderten das Schiff enterten. Am Horizont tauchte Tel Aviv auf (...). Das Schiff schwankte jetzt so stark, dass man sich kaum noch auf den Füßen halten konnte. "
Drei Flüchtlinge sind tot und Dutzende schwer verletzt, als die Briten das schwer ramponierte Schiff schließlich in den Hafen von Haifa schleppen.
Die Kinder der Exodus hatten den Namen des Schiffes auf ein großes Laken gemalt und an der Reeling befestigt. Sie sollen gesungen haben, als das Schiff sich dem Pier nähert.
Die britische Regierung will an den Flüchtlingen offensichtlich ein Exempel statuieren. Denn von Haifa werden die Menschen nicht nach Zypern gebracht, sondern auf drei zu Gefangenenschiffen umgebauten britische Frachtschiffe verteilt und zurück an die französische Atlantikküste verbracht. Weil die Flüchtlinge sich aber drei Monate lang weigern, in Frankreich von Bord zu gehen, lässt Außenminister Ernest Bevin im ganzen britischen Empire nach Unterkünften suchen. Vergeblich. Die Regierung beschließt, die Schiffe nach Hamburg zu schicken. Der Auftakt zu dem, was die Briten Operation "Oase" nennen. In der Hansestadt angekommen, prügeln Besatzungssoldaten Anfang September 1947 die Menschen von den Schiffen hinunter. Die Fotografin Dorothea hat damals Gelegenheit, die Szene zu beobachten.
Dorothea Litzmann: "Und da brodelte es! Aber so etwas von elektrischer Stimmung habe ich nie vorher und nie nachher erlebt. Auf der einen Seite waren Leute damit beschäftigt, eine Bevin-Puppe anzuzünden. Die Leute waren außer sich! "
In verschlossenen Eisenbahnwagen mit vergitterten Fenstern erreichen die Flüchtlinge noch am selben Tag den Bahnhof von Lübeck-Kücknitz. Der Bahnsteig ist mit Stacheldraht und Zäunen abgeschirmt. Eine Aufnahme von Dorothea Litzmann zeigt eine Frau mit Kopftuch. Mit der einen Hand hält sie ihr Kind auf dem Arm, die andere trägt schwer an einem in Papier eingeschlagenem Bündel. Keines Blickes würdigt sie die britischen Soldaten links und rechts, die mit regungsloser Mine auf sie herab blicken, die Pistole im Halfter. Auch Benjamin Gruszka, Deckname Bolek, wird Zeuge dieser Szene. Die zionistische Fluchthilfeorganisation Brichah hat ihn gleich nach Lübeck beordert.
Benjamin Gruszka: "Die Straßen waren seinerzeit gesperrt für den ganzen Verkehr. Keiner konnte durch. Es war alles voll mit Spaliers - aufgezogen von Militärpolizei, englische. Und keine Menschen durften raus aus ihren Häusern. Die Straße war abgesperrt. "
In den Waldhusener Forst in der Nähe der Ortschaft Pöppendorf geht es weiter mit dem Lastwagen. Aber nicht alle finden darin Platz. Zu ihnen zählt Dorothea Litzmann, die Kamera nach wie vor im Anschlag.
Litzmann: "Ich ging dann zu Fuß mit einigen, die auch zu Fuß gingen, und näherte mich dem Lager und denke, mich trifft der Schlag: Ich sehe vor mir einen drei Meter hohen Stacheldrahtzaun und an den vier Seiten jeweils in der Mitte Wachtürme - genau wie die KZ-Türme. Mit englischen Soldaten, Gewehr bei Fuß! "
Am Eingang des Lagers werden die Ankommenden gezählt, sie erhalten Anweisungen über die bevorstehende ärztliche Untersuchung, Entlausung, Registrierung und Verpflegung. Viele aber sprechen nur jiddisch. Ein Übersetzer muss her. Und eben diese Aufgabe hatte die Brichah für Benjamin Gruszka geplant.
Gruszka: "… und zwar hatten sie nachgefragt bei der jüdischen Gemeinde Lübeck nach einem, ob der jiddisch kann - für die Flüchtlinge. Hat die jüdische Gemeinde [gesagt:] Wir haben einen, wir werden einen besorgen. Und die haben dann den genannten Benjamin Gruszka, den Bolek, empfohlen. Und dann habe ich von den Engländern bekommen ein permit. Und ich war deren Angestellter praktisch und deren Vertrauensperson. "
Seine Fähigkeiten kann Gruszka gleich unter Beweis stellen, als die Briten beginnen, die Personalien der Lagerinsassen aufzunehmen.
Gruszka: "Die Briten wollten wissen, wo sie herkommen, ihre Identität, um sie wieder zurückzuschicken in ihre Geburtsstadt und ihr Heimatland. Und wie sie gesehen haben, dass die Leute stur sind und geben nicht auf und sagen nicht, wo sie herkommen, haben sie mit der französischen Regierung verhandelt, dass sie in Frankreich untergebracht werden können. Aber das war nur ein Lockmittel. Sie wollten nur die Leute rausfordern, damit sie ihre Identität sagen, wer ihre Organisatoren sind und wo sie herkommen. "
Benjamin Gruszka weiß das zu verhindern. Er soll einen weiteren Versuch machen, die Flüchtlinge mit den Möglichkeiten der Brichah nach Palästina zu schleusen. Also rät er ihnen auf jiddisch, sich Phantasienamen auszudenken und als Herkunftsort stets Palästina anzugeben. Und so müssen die Briten Namen wie Greta Garbo in ihren Büchern vermerken, Errol Flynn, Hermann Attlee und Adolf Bevin. Auch Meir Schwarz bleibt an der Seite der Internierten. Er nimmt Kontakt auf zur Zentrale von Haganah und Brichah in der britischen Besatzungszone. Sie befindet sich in Bergen-Belsen. Auch in diesem ehemaligen Konzentrationslager der Nationalsozialisten leben zu dieser Zeit noch immer jüdische Flüchtlinge, die auf ihre Ausreise nach Übersee oder nach Palästina warten.
Meir Schwarz: "In der ersten Nacht hat man mich noch rausgebracht, unter dem Stacheldraht durch. Hat man mich gebracht nach Bergen-Belsen. Da habe ich Bericht gegeben über unsere Arbeit. Da hat man auch beschlossen, was weiter gemacht wird. Und ich bin in derselben Nacht noch zurückgekommen. Als Verantwortlicher für die Menschen musste ich hier bleiben. "
Wie Meir Schwarz beginnt auch Benjamin Gruszka, nach und nach einzelne Flüchtlinge aus dem Lager zu schmuggeln. Mit dem Wagen, der ihn in das Lager bringt und wieder hinaus.
Gruszka: "Der Fahrer selbst hat auch gar nichts gewusst. Ich hatte ihn nur für ein paar Minuten weggeschickt. Und die Leute habe ich in den Kofferraum, in einen Kasten reingeklaut. Und dann habe ich sie nach Lübeck gebracht. Und innerhalb von 24 Stunden, 48 Stunden waren sie von Pöppendorf wieder in Israel mit illegalen Papieren. "
Die Internierung der jüdischen Flüchtlinge in dem mit Stacheldraht und Zaun gesicherten Lager, die unzureichende Unterbringung in Holzbaracken und Hütten aus Wellblech und die schlechte Versorgung bringt den Briten Kritik ein - im eigenen Land und in der internationalen Presse. Aus Furcht vor weiteren öffentlichen Protesten gibt die Besatzungsbehörde im November 1947 ihre harte Haltung auf. Sie verlegen die Bewohner des Waldlagers in zwei Lager im Norden von Niedersachsen. Dort gelingt es der zionistischen Brichah, die meisten Flüchtlinge noch vor der Staatsgründung Israels nach Palästina zu schleusen. Sechs Wochen später schließen die Briten die Akte "Oase". Der letzte Eintrag betrifft 255,38 Reichsmark - der Preis für 105 Schlagstöcke. Die hatten sich die Soldaten seiner Majestät von der Hamburger Polizei geliehen. Sie waren beim Einsatz im Hamburger Hafen verloren gegangen.
Sacher: "Soweit mir also auch aus der Historik bekannt ist, haben dann diese jüdischen Flüchtlinge hier wohl auch das Lager mehr oder weniger ... das Lager zerstört, nicht ... auf Grund ihrer ... woll’n mal so sagen: Verfolgung, nicht ... Wir wissen ja alle, was das jüdische Volk mitgemacht hat. Und insofern kann ich aus dieser Zeit nichts weiter berichten ... "
Erhard Sacher ist als Kind damals so gern durch den Waldhusener Forst gestreift, wie heute. Notiz von den dramatischen Ereignissen im Pöppendorfer Lager hat er nicht genommen.
Sacher: "Wissen Sie, da wurde überhaupt an und für sich noch gar nicht drüber gesprochen. Es war ja alles so mehr oder weniger... man nannte das in meiner Kindheit die ‚wilde Zeit’. Ich wurde eingeschult, ich war damals, ich wurde sieben. An den Füßen, da hingen alte Arbeitsschuhe meines Vaters, festgebunden mit irgendwelchen Bändern unten um die Fesseln, Größe 45. Im Magen war auch nichts Besonderes. Da erinnere ich noch, dass das ein sehr schlechtes Essen war, was wir zu kaufen bekamen - ein Salzgemüse, nicht. Und dann stand ich als Junge so vier, fünf Stunden beim Bäcker an in einer Hundert-Meter-Schlange nach Maisbrot. Und als es dann so weit war nach drei, vier Stunden, dann war nichts mehr da, nicht. "
Revierförster Hans Ratje Reimers dagegen hatte schon von Berufs wegen mit der Hinterlassenschaft des jüdischen Lagers zu tun.
Reimers: "Diese Zaunreste habe ich noch erlebt; die waren an die Bäume genagelt und war eingewachsen in das Holz. Und wir haben da erhebliche Probleme gehabt bei dem Verkauf dieser Hölzer. Und aus diesem Grunde habe ich leider alles beseitigt, was an diesen beschädigten Bäumen vorhanden war. Die existieren nicht mehr. Das einzige, was noch drauf hinweist, sind die Latrinengruben, die wir hier im Walde noch finden. "
In Pöppendorf aber weiß kaum jemand, was damals in ihrem Wald geschehen ist, wissen nur die wenigsten um jenen Augenblick, als der Name Pöppendorf für kurze Zeit um die Welt ging.
Umfrage: "Oh weh, ist mir mal zu Ohren gekommen, aber nichts genaues ...
Ne! Ne! ... kann ich nicht ...
Da habe ich mich leider nicht mit befasst!
Viele wissen es nicht, aber ich lese hier alles ... ich weiß, ist ganz furchtbar gewesen! "
Ein paar Schüler aus Lübeck aber haben vor ein paar Jahren die Geschichte des jüdischen Lagers in Pöppendorf der Vergessenheit entrissen. Wochen-, ja monatelang haben sie recherchiert und Akten gewälzt und ihre Entdeckungen schließlich in einer Ausstellung präsentiert. Eine große Hilfe bei diesem Projekt war ihnen nicht zuletzt Benjamin Gruszka, den die Flüchtlinge damals nur als Bolek kannten. Der hat unter deutscher Besatzung im Ghetto von Warschau seine ganze Familie verloren. Sein eigenes Leben hing an einem seidenen Faden. Und doch ist Benjamin Gruszka, der als Fluchthelfer nach Lübeck kam, in der Hansestadt geblieben. Bis heute.
Gruszka: "Ich war schon geschnappt, ich war schon auf dem Umschlagplatz. Man hat mich da unter den Leichen wieder rausgeklaubt. Das kann man ja gar nicht begreifen, das kann man gar nicht beschreiben. Zum Schluss bin ich in Stettin aufgekreuzt und befreit worden. Und dann bin ich von Stettin nach Berlin gekommen, von Berlin nach Hannover und dann nach Lübeck. Und so bin ich hier ansässig geworden. "
Von dem einst dichten Buchenwald sind nur einzelne uralte Exemplare geblieben und überwachsene Stümpfe hier und da. Stattdessen ragen heute die hageren Stämme von Duglasien in die Höhe. Und die ausladenden Zweige von Fichten dämpfen das Sonnenlicht.
Eine holprige Straße windet sich durch den Waldhusener Forst im Norden von Lübeck. Seit Jahrzehnten schon wird der Asphalt nur notdürftig geflickt, warum auch, hier ist nicht viel Verkehr.
Erhard Sacher: "Mein Name ist Sacher, Erhard ... ich bin hier in Lübeck-Pöppendorf geboren ... ganz in der Nähe hier, zwei Kilometer vom Waldhusener Forst entfernt ... "
Spaziergänger schätzen den Forst unweit des Flüsschens Trave. 20 Kilometer von hier mündet es in die Ostsee.
Sacher: "Ich kann mich an den großen Flüchtlingsstrom erinnern. Dass hier sehr viele Flüchtlinge gewohnt haben - dass ist das allgemein, woran man sich erinnert, nicht? Dieser Weg, der hier runter führt zum Wasser, da sind mehrere solche Latrinen gewesen...also auf deutsch gesagt die so genannten Donnerbalken...und die kann man auch heute noch, wenn man den Weg geht, links und rechts erkennen. "
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges säumen Holzbaracken den Pfad und Hunderte so genannter Nissen-Hütten - provisorische Konstruktionen aus Wellblech mit einem zum Halbrund geformten Dach, die offene Stirn- und Rückseite zugemauert. Ihre genaue Zahl kennt heute niemand mehr in Pöppendorf. Auch Revierförster Hans Ratje Reimers nicht, obwohl der weißhaarige Mann in dem Revier schon seit 30 Jahren seinen Dienst verrichtet. In diesen Tagen erreicht er die Pensionsgrenze. Die Spuren des Lagers aber wurden fast vollständig getilgt.
Hans Ratje Reimers: "Es ist 1951 aufgegeben worden. Und der größte Teil der Flächen ist auch 1951 wieder aufgeforstet worden - bis auf einige kleine Reste. Wir stehen jetzt hier auf dem Parkplatz. Und das ist wirklich die letzte Fläche, die auf das Lager hindeutet. Wir haben diese Fläche freigehalten als Parkplatz für Waldbesucher. Und haben natürlich eine Waldhütte hier auch hergestellt um den Besuchern das auch angenehm zu machen. "
Die letzten von den britischen Besatzungssoldaten errichteten Baracken hat Reimers 1963 sogar eigenhändig mit abgerissen.
Reimers: "Also es war ja ursprünglich als Soldatenentlassungslager eingerichtet und ist dann zu einem Flüchtlingsdurchgangslager umfunktioniert worden. Und in den letzten Jahren ab 1947 bis 1951 war es dann ein Flüchtlingswohnlager. Und die letzten zwei Baracken sind 1961 geräumt worden. "
Über die Jahre und in mehreren Wellen finden zig Tausend Menschen in den ersten Nachkriegsjahren hier eine vorübergehende Bleibe. So steht es auf der kleinen Hinweistafel, die Förster Reimers auf dem Parkplatz angebracht hat. In dem knappen Text sind auch jene 4319 jüdische Flüchtlinge verzeichnet, die britische Besatzungstruppen hier 1947 für einige Monate internieren - unter Protest allerdings und gegen ihren Willen.
Sie stammen meist aus Osteuropa. Dem erbarmungslosen Vernichtungswillen der deutschen Einsatzgruppen dort sind sie durch Glück oder durch Zufall entronnen. Die Nationalsozialisten hatten sie in Konzentrationslagern geschunden, in Ghettos gepfercht oder als Zwangsarbeiter ausgebeutet. Nach Ende des Krieges verstärken antisemitische Ausschreitungen in Polen noch das Gefühl der Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit. Entwurzelt und staatenlos machen sich die Geschundenen auf den Weg. Eine Massenflucht.
Meir Schwarz: "Speziell in Deutschland und um Deutschland herum haben sich in den Lagern Menschen gesammelt, Menschen, die von den Lagern gekommen sind, die keine Heimat mehr hatten und nun weiter wollten. Ein Teil ist natürlich auch zu Verwandten nach Amerika. Aber der größte Teil wollte eine neue Heimat schaffen. In Polen ist nichts mehr da, in Russland ist nichts mehr da, in Deutschland ist nichts mehr da, keine Heimat mehr, die Verwandten sind ermordet oder nicht mehr da: heim, eine neue Heimat aufbauen! "
Es sind Menschen wie Meir Schwarz, die den Überlebenden zur Hilfe eilen. Entsandt hat sie die Haganah, die zionistische Untergrundorganisation. Ihre Vision: Neusiedler für den Aufbau eines jüdischen Staates zu gewinnen. Ihr Auftrag: die Flüchtlinge unerkannt quer durch das zerstörte Europa auf dem Weg nach Palästina zu begleiten. Keine leichte Aufgabe. Es gilt, Transportmöglichkeiten zu erkunden und für Unterbringung zu sorgen auf der langen Reise. Ein ganzes Netzwerk von konspirativ arbeitenden Helfern ist dafür nötig. Es erhält einen eigenen Namen: Brichah, was nichts anderes heißt als: Flucht.
Schwarz: "Die Arbeit war gewesen von der Brichah, Menschen über die Grenze zu bringen. Ich habe eine Zeit lang gearbeitet an der Grenze von Österreich nach Italien. Da sind wir gegangen bei Nacht über die Berge. Natürlich mussten wir auch oft zahlen. Oder zum Beispiel die Grenze zwischen Deutschland - damals die Besatzungszonen - und Frankreich. Da ging es schon anders: mit falschen Papieren. Also, das war eine große Arbeit gewesen: Wie Menschen rüber zu bringen über die Grenze um sie näher zu bringen nach dem heiligen Land. "
Vor allem über Häfen in Frankreich, Italien und Rumänien schmuggelt die Brichah die Juden nach Palästina - auf heruntergekommenen Flüchtlingsschiffen. Die britische Mandatsmacht aber versucht, die illegale Zuwanderung mit zunehmend härteren Mitteln zu unterbinden. Sie ist von der wachsenden Gewalt zwischen Juden und der arabischen Bevölkerung mehr und mehr überfordert. Die meisten Schiffe nähern sich der Küste bei Nacht. Doch es gelingt den Briten, einige der Boote abzufangen. Die Insassen werden nach Zypern gebracht und dort interniert. In dieser Situation begleitet Meir Schwarz in der Nacht zum 10. Juli 1947 im Hafen der südfranzösischen Kleinstadt Sète über 4000 Flüchtlinge an Bord der "Präsident Warfield". Agenten der Haganah hatten den ehemaligen Vergnügungsdampfer auf einem Schiffsfriedhof in Baltimore aufgetrieben und notdürftig hergerichtet.
Schwarz: "Es gab keine Dienstgrade. Du musst eine Sache erledigen und fertig. Damals hat man mir gesagt: versuche, rauf zu gehen auf das Schiff. Du bis verantwortlich dafür. In der Minute, wo du da bist von der Haganah, werden alle auf dich hören. Ich musste damals entscheiden, was sozusagen gemacht wird. Ich konnte sprechen im Namen von der Haganah. "
Auf hoher See hissen die Flüchtlinge die blau-weiße Flagge der Zionisten mit dem Davidstern. Gemäß ihrer Mission taufen sie den Dampfer auf den Namen "Exodus". Doch während der gesamten Überfahrt in Richtung Palästina begleiten ihn Kriegsschiffe der britischen Marine. Sie halten sich in Sichtweite. Und am achten Tag der Reise, kurz vor dem Ziel aber noch in internationalen Gewässern, geht der Zerstörer "Childers" längsseits und schwenkt seine Enterbrücke aus. Was dann geschieht, schildert der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk anhand der Erinnerungen des damals 28-jährigen Kapitäns der Exodus.
" Fünf Zerstörer (...) umkreisten und rammten mit voller Kraft einen maroden Seelenverkäufer. Das Schiff erbebte, Paneele fielen herab, (...) mehrstöckige Pritschen stürzten ein, Menschen kauerten dicht gedrängt in den Ecken, und die Marinesoldaten Seiner Majestät unternahmen einen Enterversuch nach dem anderen. (...) Bill Bernstein, einer der amerikanischen Freiwilligen (...), wurde von einem britischen Matrosen attackiert und mit dem Gewehrkolben bearbeitet, bis er zusammenbrach und starb. "
Über Stunden setzen sich Besatzung und Flüchtlinge zur Wehr, werfen mit Konservendosen, Fässern und allem, was sonst zur Hand ist.
" Von beiden Seiten des Schiffes rammten nun zwei Zerstörer gleichzeitig ihren Bug in die hölzernen Aufbauten der Exodus. Das Schiff erbebte und bekam Schlagseite. (...). Ein britischer Soldat schoss auf einen zehnjährigen Jungen, der als Verbindungsläufer an Deck eingesetzt war. Der Junge brach zusammen und starb. (...) Die Menschen liefen wie verschreckte Tiere durcheinander, ließen Leitern auf die Soldaten fallen, die in Wellen zu Hunderten das Schiff enterten. Am Horizont tauchte Tel Aviv auf (...). Das Schiff schwankte jetzt so stark, dass man sich kaum noch auf den Füßen halten konnte. "
Drei Flüchtlinge sind tot und Dutzende schwer verletzt, als die Briten das schwer ramponierte Schiff schließlich in den Hafen von Haifa schleppen.
Die Kinder der Exodus hatten den Namen des Schiffes auf ein großes Laken gemalt und an der Reeling befestigt. Sie sollen gesungen haben, als das Schiff sich dem Pier nähert.
Die britische Regierung will an den Flüchtlingen offensichtlich ein Exempel statuieren. Denn von Haifa werden die Menschen nicht nach Zypern gebracht, sondern auf drei zu Gefangenenschiffen umgebauten britische Frachtschiffe verteilt und zurück an die französische Atlantikküste verbracht. Weil die Flüchtlinge sich aber drei Monate lang weigern, in Frankreich von Bord zu gehen, lässt Außenminister Ernest Bevin im ganzen britischen Empire nach Unterkünften suchen. Vergeblich. Die Regierung beschließt, die Schiffe nach Hamburg zu schicken. Der Auftakt zu dem, was die Briten Operation "Oase" nennen. In der Hansestadt angekommen, prügeln Besatzungssoldaten Anfang September 1947 die Menschen von den Schiffen hinunter. Die Fotografin Dorothea hat damals Gelegenheit, die Szene zu beobachten.
Dorothea Litzmann: "Und da brodelte es! Aber so etwas von elektrischer Stimmung habe ich nie vorher und nie nachher erlebt. Auf der einen Seite waren Leute damit beschäftigt, eine Bevin-Puppe anzuzünden. Die Leute waren außer sich! "
In verschlossenen Eisenbahnwagen mit vergitterten Fenstern erreichen die Flüchtlinge noch am selben Tag den Bahnhof von Lübeck-Kücknitz. Der Bahnsteig ist mit Stacheldraht und Zäunen abgeschirmt. Eine Aufnahme von Dorothea Litzmann zeigt eine Frau mit Kopftuch. Mit der einen Hand hält sie ihr Kind auf dem Arm, die andere trägt schwer an einem in Papier eingeschlagenem Bündel. Keines Blickes würdigt sie die britischen Soldaten links und rechts, die mit regungsloser Mine auf sie herab blicken, die Pistole im Halfter. Auch Benjamin Gruszka, Deckname Bolek, wird Zeuge dieser Szene. Die zionistische Fluchthilfeorganisation Brichah hat ihn gleich nach Lübeck beordert.
Benjamin Gruszka: "Die Straßen waren seinerzeit gesperrt für den ganzen Verkehr. Keiner konnte durch. Es war alles voll mit Spaliers - aufgezogen von Militärpolizei, englische. Und keine Menschen durften raus aus ihren Häusern. Die Straße war abgesperrt. "
In den Waldhusener Forst in der Nähe der Ortschaft Pöppendorf geht es weiter mit dem Lastwagen. Aber nicht alle finden darin Platz. Zu ihnen zählt Dorothea Litzmann, die Kamera nach wie vor im Anschlag.
Litzmann: "Ich ging dann zu Fuß mit einigen, die auch zu Fuß gingen, und näherte mich dem Lager und denke, mich trifft der Schlag: Ich sehe vor mir einen drei Meter hohen Stacheldrahtzaun und an den vier Seiten jeweils in der Mitte Wachtürme - genau wie die KZ-Türme. Mit englischen Soldaten, Gewehr bei Fuß! "
Am Eingang des Lagers werden die Ankommenden gezählt, sie erhalten Anweisungen über die bevorstehende ärztliche Untersuchung, Entlausung, Registrierung und Verpflegung. Viele aber sprechen nur jiddisch. Ein Übersetzer muss her. Und eben diese Aufgabe hatte die Brichah für Benjamin Gruszka geplant.
Gruszka: "… und zwar hatten sie nachgefragt bei der jüdischen Gemeinde Lübeck nach einem, ob der jiddisch kann - für die Flüchtlinge. Hat die jüdische Gemeinde [gesagt:] Wir haben einen, wir werden einen besorgen. Und die haben dann den genannten Benjamin Gruszka, den Bolek, empfohlen. Und dann habe ich von den Engländern bekommen ein permit. Und ich war deren Angestellter praktisch und deren Vertrauensperson. "
Seine Fähigkeiten kann Gruszka gleich unter Beweis stellen, als die Briten beginnen, die Personalien der Lagerinsassen aufzunehmen.
Gruszka: "Die Briten wollten wissen, wo sie herkommen, ihre Identität, um sie wieder zurückzuschicken in ihre Geburtsstadt und ihr Heimatland. Und wie sie gesehen haben, dass die Leute stur sind und geben nicht auf und sagen nicht, wo sie herkommen, haben sie mit der französischen Regierung verhandelt, dass sie in Frankreich untergebracht werden können. Aber das war nur ein Lockmittel. Sie wollten nur die Leute rausfordern, damit sie ihre Identität sagen, wer ihre Organisatoren sind und wo sie herkommen. "
Benjamin Gruszka weiß das zu verhindern. Er soll einen weiteren Versuch machen, die Flüchtlinge mit den Möglichkeiten der Brichah nach Palästina zu schleusen. Also rät er ihnen auf jiddisch, sich Phantasienamen auszudenken und als Herkunftsort stets Palästina anzugeben. Und so müssen die Briten Namen wie Greta Garbo in ihren Büchern vermerken, Errol Flynn, Hermann Attlee und Adolf Bevin. Auch Meir Schwarz bleibt an der Seite der Internierten. Er nimmt Kontakt auf zur Zentrale von Haganah und Brichah in der britischen Besatzungszone. Sie befindet sich in Bergen-Belsen. Auch in diesem ehemaligen Konzentrationslager der Nationalsozialisten leben zu dieser Zeit noch immer jüdische Flüchtlinge, die auf ihre Ausreise nach Übersee oder nach Palästina warten.
Meir Schwarz: "In der ersten Nacht hat man mich noch rausgebracht, unter dem Stacheldraht durch. Hat man mich gebracht nach Bergen-Belsen. Da habe ich Bericht gegeben über unsere Arbeit. Da hat man auch beschlossen, was weiter gemacht wird. Und ich bin in derselben Nacht noch zurückgekommen. Als Verantwortlicher für die Menschen musste ich hier bleiben. "
Wie Meir Schwarz beginnt auch Benjamin Gruszka, nach und nach einzelne Flüchtlinge aus dem Lager zu schmuggeln. Mit dem Wagen, der ihn in das Lager bringt und wieder hinaus.
Gruszka: "Der Fahrer selbst hat auch gar nichts gewusst. Ich hatte ihn nur für ein paar Minuten weggeschickt. Und die Leute habe ich in den Kofferraum, in einen Kasten reingeklaut. Und dann habe ich sie nach Lübeck gebracht. Und innerhalb von 24 Stunden, 48 Stunden waren sie von Pöppendorf wieder in Israel mit illegalen Papieren. "
Die Internierung der jüdischen Flüchtlinge in dem mit Stacheldraht und Zaun gesicherten Lager, die unzureichende Unterbringung in Holzbaracken und Hütten aus Wellblech und die schlechte Versorgung bringt den Briten Kritik ein - im eigenen Land und in der internationalen Presse. Aus Furcht vor weiteren öffentlichen Protesten gibt die Besatzungsbehörde im November 1947 ihre harte Haltung auf. Sie verlegen die Bewohner des Waldlagers in zwei Lager im Norden von Niedersachsen. Dort gelingt es der zionistischen Brichah, die meisten Flüchtlinge noch vor der Staatsgründung Israels nach Palästina zu schleusen. Sechs Wochen später schließen die Briten die Akte "Oase". Der letzte Eintrag betrifft 255,38 Reichsmark - der Preis für 105 Schlagstöcke. Die hatten sich die Soldaten seiner Majestät von der Hamburger Polizei geliehen. Sie waren beim Einsatz im Hamburger Hafen verloren gegangen.
Sacher: "Soweit mir also auch aus der Historik bekannt ist, haben dann diese jüdischen Flüchtlinge hier wohl auch das Lager mehr oder weniger ... das Lager zerstört, nicht ... auf Grund ihrer ... woll’n mal so sagen: Verfolgung, nicht ... Wir wissen ja alle, was das jüdische Volk mitgemacht hat. Und insofern kann ich aus dieser Zeit nichts weiter berichten ... "
Erhard Sacher ist als Kind damals so gern durch den Waldhusener Forst gestreift, wie heute. Notiz von den dramatischen Ereignissen im Pöppendorfer Lager hat er nicht genommen.
Sacher: "Wissen Sie, da wurde überhaupt an und für sich noch gar nicht drüber gesprochen. Es war ja alles so mehr oder weniger... man nannte das in meiner Kindheit die ‚wilde Zeit’. Ich wurde eingeschult, ich war damals, ich wurde sieben. An den Füßen, da hingen alte Arbeitsschuhe meines Vaters, festgebunden mit irgendwelchen Bändern unten um die Fesseln, Größe 45. Im Magen war auch nichts Besonderes. Da erinnere ich noch, dass das ein sehr schlechtes Essen war, was wir zu kaufen bekamen - ein Salzgemüse, nicht. Und dann stand ich als Junge so vier, fünf Stunden beim Bäcker an in einer Hundert-Meter-Schlange nach Maisbrot. Und als es dann so weit war nach drei, vier Stunden, dann war nichts mehr da, nicht. "
Revierförster Hans Ratje Reimers dagegen hatte schon von Berufs wegen mit der Hinterlassenschaft des jüdischen Lagers zu tun.
Reimers: "Diese Zaunreste habe ich noch erlebt; die waren an die Bäume genagelt und war eingewachsen in das Holz. Und wir haben da erhebliche Probleme gehabt bei dem Verkauf dieser Hölzer. Und aus diesem Grunde habe ich leider alles beseitigt, was an diesen beschädigten Bäumen vorhanden war. Die existieren nicht mehr. Das einzige, was noch drauf hinweist, sind die Latrinengruben, die wir hier im Walde noch finden. "
In Pöppendorf aber weiß kaum jemand, was damals in ihrem Wald geschehen ist, wissen nur die wenigsten um jenen Augenblick, als der Name Pöppendorf für kurze Zeit um die Welt ging.
Umfrage: "Oh weh, ist mir mal zu Ohren gekommen, aber nichts genaues ...
Ne! Ne! ... kann ich nicht ...
Da habe ich mich leider nicht mit befasst!
Viele wissen es nicht, aber ich lese hier alles ... ich weiß, ist ganz furchtbar gewesen! "
Ein paar Schüler aus Lübeck aber haben vor ein paar Jahren die Geschichte des jüdischen Lagers in Pöppendorf der Vergessenheit entrissen. Wochen-, ja monatelang haben sie recherchiert und Akten gewälzt und ihre Entdeckungen schließlich in einer Ausstellung präsentiert. Eine große Hilfe bei diesem Projekt war ihnen nicht zuletzt Benjamin Gruszka, den die Flüchtlinge damals nur als Bolek kannten. Der hat unter deutscher Besatzung im Ghetto von Warschau seine ganze Familie verloren. Sein eigenes Leben hing an einem seidenen Faden. Und doch ist Benjamin Gruszka, der als Fluchthelfer nach Lübeck kam, in der Hansestadt geblieben. Bis heute.
Gruszka: "Ich war schon geschnappt, ich war schon auf dem Umschlagplatz. Man hat mich da unter den Leichen wieder rausgeklaubt. Das kann man ja gar nicht begreifen, das kann man gar nicht beschreiben. Zum Schluss bin ich in Stettin aufgekreuzt und befreit worden. Und dann bin ich von Stettin nach Berlin gekommen, von Berlin nach Hannover und dann nach Lübeck. Und so bin ich hier ansässig geworden. "