Poesie im freien Fall
Die Seele fühlt sich gehäutet bei den prosaischen Gedichten und lyrischen Prosastücke von Friederike Mayröcker. Sprache wird auf das Wesentliche zugespitzt. Immer geht es um Vergänglichkeit des Irdischen. Die études, die Übungen, sind melancholisch, verletzlich, aber voll des Lebens.
Berührender als Friederike Mayröckers "études" kann ein poetischer Text in Zeiten des E-Books kaum beginnen. Der Titel sowie der erste Vers sind mit den Schriftzügen ihrer Hand aufs Papier gebracht. Die schwarze Tinte scheint einen eingedunkelten Ton anzuschlagen und doch tritt aus dem Text eine ungebrochene Lust am Schreiben hervor, wenn das Weiß des frischgefallenen Schnees zur "Blüte des Winters" erklärt wird. In der absoluten Ich-Setzung der schreibenden Hand ist Kraft, erscheinen vergangene Zeiten ganz nah, während sich Gegenwärtiges entfernt.
Die zwischen dem 22.12. 2010 und 16.12.2012 entstandenen "études" gehen von der "Vorstellung einer kl. Übung" aus: der "Etude eines Blütenzweigs, eines Blättchens in meiner Hand, einer Zirbe Zeile" – ähnlich der Poetik des französischen Dichters Francis Ponges, der im Text als Referenzpartner genannt wird. Die "Göttin Erinnerung" waltet in diesem poetischen Zeichenlabyrinth, das im behutsamen Auffinden sublimer Details – das Schnupftuch der Mutter, "1 Sträuszchen Tau", die "Perlenschnüre der Tränen" - zum synästhetischen Geflecht wird. Mayröcker schafft einen Raum klangvoller Simultanität, in dem Dichter wie Marcel Beyer, Elke Erb oder Thomas Kling zu Wort kommen, Musik von Bach, Schumann, Mahler, Haydn anklingt und Gemälde von Turner, Manet oder Munch im Schatten der Worte aufscheinen.
Die "études" sind vielschichtige wie anrührende Einübungen in ein Sein, das im einsamen Takt des "Donnerkasten" Herz schlägt, wo die Verlorenheit der Augen beklagt wird, die Seele sich gehäutet fühlt und eine "zerzauste" Stimme spricht. Begleitet vom aus dem Takt geratenen Blühen der Herbstzeitlosen erscheint jeder Mai und jeder Vogelgesang bei Sonnenuntergang wie eine "étude", sehnsuchtsvoll wahrgenommen in der Hoffnung, dass sie sich wiederholen möge.
Indem die Poetin ihr Schreiben in "études" mehrfach als "alles nur Bricolage" bezeichnet, verweist sie auf einen Begriff des französischen Philosophen Claude Lévi-Strauss, den dieser 1962 mit "La pensée sauvage" ("Das wilde Denken") begründete. Das Geheimnis wilder Improvisation in Mayröckers Poetik zeigt sich als kunstvolle Missachtung jener Hierarchie, in der die Zeichen, Worte und Sätze aufeinander Bezug nehmen. Aus dem scheinbar unkontrolliert Verbundenen – einer besonderen Collage – ergeben sich neue, geräumige Texturen, die von einer radikalen Schwerelosigkeit sind.
In ironischer Selbstreflexion wirft Mayröcker dem Leser mitunter kleine "Happen Verständlichkeit" zu, damit er nicht "abspringt weil ihm die Luft der Lektüre zu dünn geworden ist". Es ist eine Poesie im freien Fall, begleitet vom Trippeln in einen blutrot gefärbten Morgen und dem Lied eines Vogels "in einem fernen / Frühling den es vielleicht nicht mehr gibt". Es ist ein "Unfug dasz wir davon müssen", so Mayröcker, während das "Quittenherz" trotzig hüpft.
Besprochen von Carola Wiemers
Die zwischen dem 22.12. 2010 und 16.12.2012 entstandenen "études" gehen von der "Vorstellung einer kl. Übung" aus: der "Etude eines Blütenzweigs, eines Blättchens in meiner Hand, einer Zirbe Zeile" – ähnlich der Poetik des französischen Dichters Francis Ponges, der im Text als Referenzpartner genannt wird. Die "Göttin Erinnerung" waltet in diesem poetischen Zeichenlabyrinth, das im behutsamen Auffinden sublimer Details – das Schnupftuch der Mutter, "1 Sträuszchen Tau", die "Perlenschnüre der Tränen" - zum synästhetischen Geflecht wird. Mayröcker schafft einen Raum klangvoller Simultanität, in dem Dichter wie Marcel Beyer, Elke Erb oder Thomas Kling zu Wort kommen, Musik von Bach, Schumann, Mahler, Haydn anklingt und Gemälde von Turner, Manet oder Munch im Schatten der Worte aufscheinen.
Die "études" sind vielschichtige wie anrührende Einübungen in ein Sein, das im einsamen Takt des "Donnerkasten" Herz schlägt, wo die Verlorenheit der Augen beklagt wird, die Seele sich gehäutet fühlt und eine "zerzauste" Stimme spricht. Begleitet vom aus dem Takt geratenen Blühen der Herbstzeitlosen erscheint jeder Mai und jeder Vogelgesang bei Sonnenuntergang wie eine "étude", sehnsuchtsvoll wahrgenommen in der Hoffnung, dass sie sich wiederholen möge.
Indem die Poetin ihr Schreiben in "études" mehrfach als "alles nur Bricolage" bezeichnet, verweist sie auf einen Begriff des französischen Philosophen Claude Lévi-Strauss, den dieser 1962 mit "La pensée sauvage" ("Das wilde Denken") begründete. Das Geheimnis wilder Improvisation in Mayröckers Poetik zeigt sich als kunstvolle Missachtung jener Hierarchie, in der die Zeichen, Worte und Sätze aufeinander Bezug nehmen. Aus dem scheinbar unkontrolliert Verbundenen – einer besonderen Collage – ergeben sich neue, geräumige Texturen, die von einer radikalen Schwerelosigkeit sind.
In ironischer Selbstreflexion wirft Mayröcker dem Leser mitunter kleine "Happen Verständlichkeit" zu, damit er nicht "abspringt weil ihm die Luft der Lektüre zu dünn geworden ist". Es ist eine Poesie im freien Fall, begleitet vom Trippeln in einen blutrot gefärbten Morgen und dem Lied eines Vogels "in einem fernen / Frühling den es vielleicht nicht mehr gibt". Es ist ein "Unfug dasz wir davon müssen", so Mayröcker, während das "Quittenherz" trotzig hüpft.
Besprochen von Carola Wiemers
Friederike Mayröcker: études
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
196 Seiten, 19,95 Euro