Mit Gedichten gegen Demenz
Slam-Poet Lars Ruppel hat für Demenzkranke und deren Pflegekräfte das Projekt "Weckworte" erfunden. Weg mit dem alten Kanon, heißt es: Stattdessen gibt es Gedichte von Dadaisten und Rappern.
"Weckworte" heißt ein Poesie-Projekt für Alzheimer- und Demenzkranke. Erfunden hat es der Slam-Poet Lars Ruppel, der weltweit Slam-Poetrys organisiert.
Im Deutschlandradio Kultur erläuterte Ruppel die Konzeption des Projektes "Weckworte" im Rahmen unserer Reihe "Lyriksommer":
"Dass Menschen mit demenziellen Veränderungen von Gedichten 'geweckt' werden. Und dass die Pflegekräfte auch 'geweckt' werden: Indem sie nämlich merken: Wow, das kann man mit Gedichten auch noch machen. Denn es ist ein Fortbildungsprojekt für Pflegefachkräfte. Ich zeige ihnen, wie sie in die tägliche Pflege Gedichte integrieren. Und eben mit Gedichten, die noch nicht so häufig vorgetragen wurden für die die Oma und den Opa."
Dieses Angebot ziele auf die Aufwertung des Kulturbereiches in der Pflege, so Ruppel. Entstanden sei die Idee aus seiner Arbeit im Schulungsbereich und durch die Bühnenpräsenz beim Poetry-Slam:
"Dass Menschen mit demenziellen Veränderungen von Gedichten 'geweckt' werden. Und dass die Pflegekräfte auch 'geweckt' werden: Indem sie nämlich merken: Wow, das kann man mit Gedichten auch noch machen. Denn es ist ein Fortbildungsprojekt für Pflegefachkräfte. Ich zeige ihnen, wie sie in die tägliche Pflege Gedichte integrieren. Und eben mit Gedichten, die noch nicht so häufig vorgetragen wurden für die die Oma und den Opa."
Dieses Angebot ziele auf die Aufwertung des Kulturbereiches in der Pflege, so Ruppel. Entstanden sei die Idee aus seiner Arbeit im Schulungsbereich und durch die Bühnenpräsenz beim Poetry-Slam:
"Dort waren eben Pflegefachkräfte. Und da habe ich gemerkt, dass im Pflegealltag, im Lebensalltag der Menschen in den Pflegeeinrichtungen dieses Landes, das Kulturangebot relativ gleich und eintönig ist. Und es setzt sich relativ stark mit der Vergangenheit der Leute auseinander, ruft immer wieder Altbekanntes ab - es bestätigt den Kanon der damaligen Generation statt neue Impulse zu setzen."
Jeder Mensch habe ein Anrecht auf die Vielfalt von Gedichten, meinte Ruppel. In Pflegeheimen arbeite er etwa mit Gedichten von Dadaisten, mit ganz moderner Lyrik oder auch mit Rap-Texten:
"Es soll einfach alles vorgetragen werden. Und ich will, dass die Pflegekräfte die Gedichte vortragen, die sie mögen. Und deswegen mache ich eine möglichst große Auswahl und hoffe, dass ich damit die Menschen mit Demenz erreiche."
"Es soll einfach alles vorgetragen werden. Und ich will, dass die Pflegekräfte die Gedichte vortragen, die sie mögen. Und deswegen mache ich eine möglichst große Auswahl und hoffe, dass ich damit die Menschen mit Demenz erreiche."
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Bei uns hier im "Lyriksommer" im Deutschlandradio Kultur können Sie nicht nur den ganzen August über Gedichte hören. Wir sprechen natürlich auch über Gedichte, und zwar über ganz besondere Gedichte heute: Gedichte, wie sie bei Alz-Poetry zu Gehör kommen – das ist ein Wort, das Sie noch nicht googlen können oder auch noch nicht bei Wikipedia finden. Es setzt sich nämlich zusammen aus Alzheimer und Poetry: Thema ist das Dichten gegen das Vergessen. Und zu Gast bei mir im "Studio 9" ist Lars Ruppel. Wir haben schon geklärt, was er ist, nämlich Slam-Poet, das übersetzen wir mit Bühnendichter, Wettkampfdichter. Und er organisiert Poetry Slams weltweit. Schönen guten Morgen noch mal!
Lars Ruppel: Guten Morgen!
Brink: Freut mich sehr, dass Sie da sind! Alz-Poetry – Sie haben auch ein Projekt für Alzheimer- und Demenzkranke, das nennen Sie "Weckworte".
Ruppel: Genau!
Brink: Was ist das?
Ruppel: "Alz-Poetry" ist der ehemalige Name des Projektes. "Weckworte" ist das neue, weil es viel besser beschreibt, was passiert: Nämlich, dass Menschen mit demenziellen Veränderungen von Gedichten geweckt werden. Und dass die Pflegekräfte der Menschen mit demenziellen Veränderungen auch geweckt werden, indem sie merken, wow, das kann man mit Gedichten auch noch machen. Denn es ist ein Fortbildungsprojekt für Pflegefachkräfte, in dem ich ihnen zeige, wie sie in die tägliche Pflege Gedichte integrieren. Und vor allem die Gedichte, die eben noch nicht so häufig vorgetragen wurden für die Oma und für den Opa, da wird nämlich häufig immer das Gleiche vorgetragen und deswegen ist es auch ein Projekt, was sich für die Aufwertung des Kulturangebots in der Pflege auseinandersetzt.
Brink: Wie sind Sie darauf gekommen?
Ruppel: Über eine ganz normale klassische Schulung, die ich anbiete über Bühnenpräsenz, über Performanz, über Poetry Slam, und da waren eben Pflegefachkräfte. Und da habe ich gemerkt, dass im Pflegealltag, im Lebensalltag der Menschen in den Pflegeeinrichtungen dieses Landes das Kulturangebot relativ gleich ist und relativ eintönig und sich relativ stark mit der Vergangenheit der Leute auseinandersetzt, immer wieder Bekanntes abruft, immer wieder das Altbekannte, den Kanon der damaligen Generation bestätigt, statt neue Impulse zu setzen.
Brink: Also saßen die Pflegekräfte bei Ihnen im Publikum und haben Ihnen das geschildert und Sie kamen dann in eine Diskussion?
Ruppel: Teils, teils. Ich habe das Feedback natürlich auch bekommen, dass meine Beobachtung, die ich damals gemacht habe, schon stimmte und auch von den Pflegekräften so wahrgenommen wird. Weil die müssen das ja ausbaden, die müssen ja immer wieder den "Erlkönig" vortragen. Und nicht jede 23-Jahre alte Pflegekraft hat irgendeine emotionale Beziehung zum "Erlkönig" oder zum Lied "Kein schöner Land". Und dann dachte ich mir: Das ist ja auch schade, dass sie nicht irgendwie ihre Sachen da mit in die Pflege reinbringen können.
Brink: Können Sie den "Erlkönig" noch?
Ruppel: Ich kann ihn ... "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind/ Es ist der Vater mit seinem Kind" – Gedichte, die ich nicht mag, kann ich mir nicht merken. Da kann ich wirklich vielleicht die ersten zwei Strophen, der klassische Moment.
Brink: Das kriegt man auch so eingeprügelt in der Schule, im Literaturunterricht, zumindest war es bei uns so!
Ruppel: Ich glaube, das musste ich gar nicht lernen. Ich weiß auch gar nicht mehr, was ich lernen musste. Ich glaube, das ist das Problem, wenn man Gedichte lernen muss, behält man sie nicht so richtig.
Nicht immer nur Goethes "Erlkönig"
Brink: Was für Gedichte nehmen Sie, wenn Sie dann in ein Altersheim gehen oder in ein Heim und dann Ihr Projekt?
Ruppel: Möglichst alle, weil ich finde, jeder Mensch hat ein Anrecht auf jedes Gedicht. Also das sind Dadaisten, das sind die Modernen, das ist vielleicht auch manchmal ein bisschen Rap, ein bisschen Slam – es soll einfach alles vorgetragen werden. Und ich will, dass die Pflegekräfte die Gedichte vortragen, die sie mögen, und deswegen mache ich eine möglichst große Auswahl und hoffe, dass ich damit die Menschen, für die ich das vortrage, die Menschen mit Demenz, erreiche.
Das sind natürlich auch die alten Sachen, die sie dann mögen, wo sie den Wiedererkennungswert haben. Aber dabei darf es eben nicht bleiben. Die müssen eben in einer oder sollten in einer Umgebung leben, in einem Lebensabend, die möglichst kulturell vielfältig gestaltet ist und lebendig ist.
Brink: Also wenn Sie jetzt auf die Bühne kämen in einem bestimmten Raum, dann gucken Sie um sich und entscheiden dann, wie Sie anfangen?
Ruppel: Natürlich, ich würde, wenn ich jetzt in eine Pflegeeinrichtung gehe, schauen: Wer sitzt da in welcher Stimmung, das gehört auch dazu, dass man lernt, zu erkennen, wie ist der Mensch mir gegenüber drauf? Wenn da jemand traurig ist, muss ich nicht auch noch die "Mondnacht" vortragen. Wenn jemand total glücklich ist, dann kann ich das natürlich auffangen, kann mit ihm vielleicht ein bisschen tanzen, kann etwa Heinz Erhardt vortragen: "Das Reh springt hoch, das Reh springt weit/ Warum auch nicht, es hat ja Zeit" – damit kann man hervorragend tanzen! Ich hebe sie so ein bisschen vom Rollator weg.
Oder wenn ich merke, da braucht jemand Nähe, braucht jemand Zuneigung, dann trage ich "Kindersand" von Joachim Ringelnatz vor. Da kann man so schön über die Hand streicheln: "Das Schönste für Kinder ist Sand/ Ihn gibt's immer reichlich/ Er rinnt unvergleichlich/ Zärtlich durch die Hand". Und dann kann man die Hand nehmen und dann so drüber streicheln.
Wenn jemand Hunger hat, kann ich ihm vom "Ribbeck von Ribbeck aus dem Havelland" erzählen, kann ihm eine Birne besorgen, das Gedicht vortragen, während ich in die Küche gehe, zum Kühlschrank gehe, komme mit einer Birne zurück. Wenn ich jemanden wasche - gut, ich bin natürlich keine examinierte Pflegekraft, ich wasche niemanden - aber ich zeige Menschen, wie sie, wenn sie jemanden waschen, vielleicht Verkrampfungen lösen, wenn sie zum Beispiel die "Morgenwonne" vortragen und damit gemeinsam Bewegungen ausführen und dann dadurch den Krampf ein bisschen lösen. Und dadurch ihre Pflegeprozesse erleichtern.
Eingehen auf die Gefühlszustände der Pflegeheimbewohner
Brink: Was passiert oder welche Reaktionen bekommen Sie?
Ruppel: Das ist so wunderbar unterschiedlich und unterscheidet sich so toll vom Poetry Slam-Publikum: Mal steht jemand auf und tanzt, mal ruft jemand "aufhören!". Mal schläft jemand ein, weil er sich so entspannt. Mal weint jemand vor Freude, mal lacht jemand laut. Das ist ja das Tolle an diesem Publikum. Bei einem Poetry Slam, bei einer Dichterlesung, da weißt du genau, hast du 200 Leute im Raum, hast du 200 kognitive Fähigkeiten, die alle ungefähr gleich sind.
Aber da sind es eben einfach bei 200 Leuten im Raum 200 verschiedene Bedürfnisse, momentane Gefühlszustände und Reaktionsmöglichkeiten. Und deswegen reicht es nicht, wenn ich mich einfach hinstelle in eine Pflegeeinrichtung und ein Gedicht für alle vortrage. Das würde einfach die wenigsten Leute erreichen. Deswegen überlege ich, wie schaffe ich es, jedes Gedicht so vorzutragen, dass jeder im Raum - unabhängig davon, wie es ihm geht, wieviel er noch sieht, wieviel er versteht, was er noch hört - trotzdem etwas von diesem Gedicht hat.
Der Wert der Kultur beim würdevollen Altern
Brink: Aber es ist ja trotzdem ein Prozess, der wahrscheinlich auch in Ihnen stattgefunden hat, dass Sie merken, Sie erreichen die Leute, das hätte man ja nicht gedacht. Man denkt ja, also das Kurzzeitgedächtnis ist ja weg, komplett, und man reflektiert dann auf das Langzeitgedächtnis. Oder ist das schon wieder viel zu kompliziert gedacht?
Ruppel: Ich bin tatsächlich kein Mediziner, ich habe keinerlei Beweis dafür, dass mein "Weckworte"-Projekt in irgendeiner Art und Weise eine positive medizinische Auswirkung hat. Und das ist auch gar nicht mein Anspruch. Mein Anspruch ist eben das kurzzeitige Erreichen des Menschen und das Ermöglichen eines würdevollen Alterns in einer Pflegeeinrichtung. Wozu eben auch eine anspruchsvolle Kulturarbeit gehört.
Brink: Und Sie haben auch während unseres Gesprächs gesagt, dass man ja auch die Pflegekräfte schulen muss – wie sind denn da die Reaktionen? Sagen die plötzlich irgendwie, wow, das geht auch anders, also nicht nur mit dem "Erlkönig"?
Ruppel: Ja, ich denke mal, die meisten von uns tragen so ein kleines Trauma aus dem Deutschunterricht mit uns herum ...
Brink: Wer nicht!
Sprache als "Werkzeug" in der der täglichen Pflege
Ruppel: ... ja, wo wir die Gedichte eingeprügelt bekamen. Und natürlich ist der Deutschunterricht hier in Deutschland nicht dazu ausgelegt, um aus uns große Leser oder Autoren zu machen. Und die haben natürlich nicht immer Lust auf Poesie, so wie jeder andere auch. Das passiert eben in der Fortbildung, dass ich Lust mache auf Sprache, dass ich sage, guck mal hier, das ist ein tolles Spielzeug, damit kannst du richtig Spaß haben. Und es ist auch ein ganz wichtiges Werkzeug für deine Pflege. Denn Pflege ist ein so intimer, so ein zwischenmenschlich intensiver Beruf, dass Sprache eines der wichtigsten und hauptsächlichsten Werkzeuge ist im Pflegeberuf. Und das wird häufig ein bisschen vernachlässigt.
Brink: Was nehmen Sie mit aus dieser Arbeit? Sie sind 30 und das Thema ist doch eigentlich sehr weit weg von Ihnen.
Ruppel: Gut, ich rede selten über mein Privatleben. Natürlich gibt es Omas und Opas, natürlich auch in meinem Bekanntenkreis. Aber ich nehme daraus mit, dass meine Annahme, dass Sprache einfach noch mehr kann als nur dieses alltägliche bla, bla, was wir so draußen auf der Straße machen, stimmt. Und dass wir noch viel mehr verändern können, wenn wir unserer Sprache ein bisschen mehr Zuneigung schenken und ein bisschen die Gedichte mal wieder ausgraben, die wir haben oder zu Poetry Slams gehen.
Brink: Oder neue Gedichte erfinden!
Ruppel: Das wäre natürlich das Allerbeste!
Brink: Vielen Dank! Der Bühnendichter Lars Ruppel und sein Projekt "Weckrufe" für Alzheimer und Demenzkranke, mit dem er in Pflegeeinrichtungen geht. Danke für Ihren Besuch hier bei uns im "Studio 9"!
Ruppel: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.