Der Lehrer wirft den ersten Stein
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In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fallen Nationalsozialisten über jüdische Geschäfte und Wohnungen, Schulen und Synagogen her – und ermorden hunderte Juden. Mirjam Pollin war damals 13, heute gehört sie zu den letzten lebenden Zeugen.
Nichts ist wie sonst, als Thea Kurzbarth am Morgen nach der Pogromnacht im Hamburger Grindelviertel auf die Straße tritt.
"Ich war auf dem Weg zur Schule und ich sah zwar viele Menschen, aber ich hab das nicht registriert, bis ein Polizist sagte: `Geh nach Haus’, heut’ ist keine Schule´. Und da hab ich geguckt auf die Synagoge und alles war so komisch, so viele Menschen. Da bin ich nach Haus’ gegangen und hab meiner Mutter gesagt: `Es ist keine Schule´, und die hat gar nicht viel gefragt, die hat gesagt: `Geh und kauf Brot´. Und ich bin ins Brotgeschäft gegangen, das war voller Menschen. Und als ich dran war, sagte die Frau: `Juden verkauf’ ich kein Brot´. Keiner hat was gesagt. Und ich bin mit rotem Kopf und nassen Hosen rausgegangen aus dem Laden."
Zur Synagoge, trotz allem
Sich den Mund verbieten lassen – für Thea Kurzbarts Mutter kommt das nicht in Frage. Trotz Gefahr für ihr eigenes Leben gehen Mutter und Tochter an diesem Tag zur Synagoge.
"Ich hab gesehen, wie ein Lehrer mit seinen Schülern kam und den Schülern zeigte, wie man die Fenster einschlägt. Er nahm den ersten Stein. Und die Kinder nahmen die Steine und schlugen die Fenster ein. Und die Gebetbücher waren draußen und wurden mit Füßen getreten. Die Leute haben gelacht. Und meine Mutter hat immer gesagt: `Diese Banditen, diese Verbrecher‘, und ich hab immer gesagt: `Bitte Mutti, bitte sei still, bitte sei still´. Und als wir nach Hause kamen, habe ich den ganzen Tag am Fenster gestanden. Wir wohnten direkt gegenüber der Talmud-Thora-Schule. Die Väter, die kamen, die Kinder zu holen, wurden sofort verhaftet. Die Mütter, die wurden lachend weggeschickt. Und bis zum späten Nachmittag wurden die Kinder in der Schule gehalten."
Auch Theas Vater wird verhaftet – er ist doppelt verdächtig, weil Jude und Kommunist.
Das Leben wird unerträglich
"Meine Kindheit in Hamburg ab ´33 war Angst. Und besonders nach der Pogromnacht, als alle jüdischen Männer verhaftet waren. Und als die Männer dann aus dem KZ zurück kamen: Sie durften nicht erzählen, aber sie haben doch erzählt. Und die geschorenen Köpfe und die abgemagerten Gesichter und die ängstlichen Augen, das werd´ ich nie vergessen."
Der Vater flieht mit seiner zweiten Frau nach England. Die ältere Schwester emigriert in die USA, der Bruder nach Palästina. Thea und ihre Mutter aber bleiben in Hamburg. Nach der Pogromnacht wird das Zusammenleben mit den christlichen Nachbarn für sie unerträglich.
"Die Nachbarn haben uns ignoriert. Das waren Nazis. Wir wurden angepöbelt. Meine Mutter hat mir immer gesagt, wenn ich auf der Straße bin, dann soll ich immer den Blick nach unten wenden. Die Leute brauchen meine dunklen Augen nicht sehen. Es war eine furchtbare Zeit, eine ängstliche Zeit. Es kann mir heute keiner sagen von der damaligen Generation, dass sie nichts gewusst hätten. Denn die Reden von Hitler und Goebbels, die wurden übertragen, mit Lautsprechern in den Straßen übertragen. Es waren Hetzreden. Es gab die Schilder in den Geschäften `Juden werden nicht bedient´, es gab die Schilder in den Dörfern `Juden haben keinen Zutritt´, `Unser Dorf ist judenfrei´. All das, das war."
Tränen am Bahngleis
Die Mutter verliert ihre Arbeit, sie hat kein Geld, um Thea ins Ausland zu schicken. Nur mit Hilfe einer jüdischen Spenderin bekommt sie einen Platz im Kindertransport nach Schweden.
"Die Eltern durften nicht mit auf den Bahnsteig gehen, man wollte keine Szenen haben, man sollte nicht weinen. Und wir waren im Zug, im Coupé, und dann hörte ich den Familienpfiff von meiner Mutter. Und sie war auf einem Nebengleis und sie weinte. Und ich konnte gar nicht verstehen, warum sie weint. Denn ich hatte das Gefühl, ich fahr’ auf einen Ausflug. Ich komm’ ja wieder."
Zwei Jahre lang besucht Thea in Schweden die Schule, dann muss sie in einem Haushalt arbeiten. Sie legt den deutschen Namen ab und nimmt den hebräischen Namen Mirjam an. Ihre Mutter schreibt Briefe. Auch darüber, dass sie hilft, Menschen für den Transport in den Osten mit warmen Kleidern zu versorgen. Und dass sie fürchtet, bald selbst verschickt zu werden.
Die letzte Überlebende
"Ich war so verzweifelt. Ich hab dann einen Brief bekommen, dass sie im Begriff ist zu fahren, und dass ich lange nichts von ihr hören werde, und dass ich mit meinen Geschwistern in Kontakt bleiben muss, eines Tages werden wir uns wiedersehen… und das war´s."
Heute ist Mirjam Pollin 94 Jahre alt und lebt im Norden Israels. Sie ist die letzte Überlebende der Kindertransporte nach Schweden. Und sie verfolgt die Nachrichten aus Deutschland – auch über antisemitische Übergriffe. Sie hält Kontakt zu Menschen in ihrer Geburtsstadt Hamburg und kehrt immer wieder zurück – auch in die Dillstraße Nummer eins. Dort erinnert ein Stolperstein an ihre Mutter Else, die in Minsk ermordet worden ist.
Stolperstein für die Mutter: eine zwiespältige Erfahrung
"Ich war bei der Einweihung dabei und das war sehr, sehr, sehr schön und es war wunderbar gemacht. Und ich hatte das Gefühl, das ist der einzige Platz, wo meine Mutter mit Namen genannt wird. Und das war blank und schön, und dann bin ich nach einigen Jahren wieder da gewesen und er war so schwarz, man konnte ihn kaum unterscheiden von den anderen Steinen. Und das hat mich sehr traurig gemacht, denn die Leute gehen drüber hinweg, sie treten darauf. Und ich hatte das Gefühl, meine Mutter wird wieder getreten."