Die liberale Stimme Polens - Jaroslaw Kuisz ist Chefredakteur der Wochenzeitschrift "Kultura Liberalna" in Warschau und die einzige liberale Stimme in der polnischen Debatte über 100 Jahre Unabhängigkeit. Sein gerade erschienenes Buch erzählt über das Ende der Generationen in Polen, die in Unfreiheit lebten. Margarete Wohlan hat mit ihm gesprochen.
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Politisierte Erinnerung
1918 kehrte Polen als Staat auf die Landkarte zurück, nach 123 Jahren Unfreiheit unter fremder Herrschaft. Die Erinnerung an damals hat großen Einfluss auf die aktuelle politische Diskussion und die Frage: Welches Land soll Polen heute sein?
Vielleicht klang die berühmteste Bahnfahrt der polnischen Geschichte etwa so: Schüler stellten das Video ins Netz, mimen die Ankunft Jozef Pilsudskis in Warschau. Der Vater der polnischen Unabhängigkeit, dessen charakteristischen Schnauzbart in Polen jedes Kind kennt, schreitet gravitätisch mit aufgeklebtem Bart und steifem Uniformkragen das Empfangskomitee ab, das seine Mitschüler darstellen.
Marschall Pilsudski, bis zu seinem Tode 1935 starker Mann Polens, wuchs noch zu Lebzeiten zum Mythos. Seine Anreise aus deutscher Festungshaft galt bald als Schlüsselereignis – dabei fing damals im November 1918 die Arbeit erst an. Der polnische Staat wurde nicht an einem Tag neu erbaut; die Kämpfe um seine Außengrenzen dauerten bis in die 20er Jahre. Aber Menschen brauchen Stichtage und Symbole, und so ist in Polen eben der 11. November Unabhängigkeitstag bis heute, und auch Erwachsene stellen die Ankunft Pilsudskis in historischer Maskerade nach, wenn auch am Warschauer Zentralbahnhof, der mit seinem historischen Original nichts zu tun hat.
Pilsudski – Vater der polnischen Unabhängigkeit
"Warschauer Bürger, ich grüße euch recht herzlich. Ich werde nie vergessen, dass ihr so zahlreich gekommen seid. Aber nicht ihr begrüßt mich, sondern Polen, Polen, Polen, um das wir gemeinsam gekämpft haben."
Einst im Mittelalter Großmacht, kehrte Polen vor 100 Jahren zurück auf die politische Landkarte nach 123 Jahren der Teilung - die Niederlage der drei Teilungsmächte machte es möglich. Das offizielle Gedenken daran wirkt imposant. Gleich auf sechs Jahre hat es die polnische Regierung veranschlagt, mit laut Festkalender 2500 regionalen Gedenkakten allein in diesem Jahr. Keine Gemeinde soll ausgelassen werden, sagt der zuständige Ressortleiter im Warschauer Kulturministerium, Jaroslaw Sellin.
"Ich denke, es ist wichtig, daran zu erinnern, wie bedeutend der eigene Staat ist. Die Polen haben für Generationen ohne ihn gelebt, mussten ihr Leben gegen den Staat organisieren, gegen den deutschen, russischen oder österreichischen Staat. Später dann die Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Dann die Volksrepublik, auch hier lebten die Polen in großem Maße gegen den Staat, denn er war von Moskau abhängig. Es ist so wichtig, dass wir diesen Jahrestag begehen, um das Gefühl aufzubauen, wie wichtig der Staat ist und die Identifikation mit ihm, der Staatsgedanke, die Bürgerlichkeit, das gemeinsame Wohl."
Polnische Geschichte mit anti-europäischer Schlagseite
Klingt unverfänglich, ist es aber nicht. Denn Geschichte und Erinnerung sind für die Nationalkonservativen in Polen nicht nur ein Wert an sich, sondern politisches Instrument. Nationalkonservative "Geschichtspolitik" ist nichts weniger als Teil einer rechten Kulturrevolution: Die Polen, so will es die PiS-Partei, sollen mit Stolz auf ihr Land und seine Geschichte blicken, auf seine Helden und Opfer, ihr Beharren auf Eigenständigkeit, und entsprechende Lehren auch fürs Hier und Heute daraus ziehen. Fast zwangsläufig bekommen Gedenkveranstaltungen unter diesem Credo eine auch anti-europäische Schlagseite, wie bei diesem Auftritt von Staatspräsident Andrzej Duda in Niederschlesien.
"Sehr häufig sagen die Menschen, wozu brauchen wir dieses Polen? Die EU ist am wichtigsten! All diese Menschen sollten sich an die 123 Jahre der Teilung erinnern."
Er sei missverstanden worden, hieß es später. Und doch wollen die Nationalkonservativen eben beides: National auftrumpfen und sich "von den Knien erheben" – aber doch auch EU-Mitglied sein. Im Grunde kein ganz neuer Spagat: Ein freies Polen ja, aber welches? war schon 1918 umstritten. Eine Regionalmacht aus eigener Kraft wie im Mittelalter, als Polen-Litauen die ganze Region bis hinunter zum Schwarzen Meer beherrschte? Oder ein Staat, der sich Partner sucht, um zu bestehen gegen die Begehrlichkeiten größerer Nachbarn wie Deutschland und Russland? Zbigniew Gluza von der Stiftung "Charta", die historisches Wissen verbreiten will und alternative Gedenkstunden organisiert:
"Dieser Streit ist nicht neu. Er bildet ein Fundament Polens, denn der Sejm, der sich damals bildete, hat sich zu einer imperialen Politik entschlossen. So dass wir keine Vereinbarungen mit den Ländern im Osten trafen, wie es Pilsudski wollte, sondern Gewalt anwendeten. Polen war im Moment des Zweiten Weltkriegs eigentlich einsam."
Zwischen Patriotismus und Nationalismus
Denn Jozef Pilsudski war zwar glühender Patriot, die Freiheit Polens ging ihm über alles. Aber deswegen ging ihm nicht das Polentum über alles. Ursprünglich sozialistischen Ideen zugeneigt, steht er gerade nicht für einen ethnisch homogenen Nationalstaat, sondern für ein Polen, das den Ausgleich sucht mit Litauern und Ukrainern, frei, aber kooperativ, Teil einer Konföderation – wenn man will, kann man in ihm einen frühen Vordenker der europäischen Einigung sehen. Seine Ideen hatten nur einen entscheidenden Haken: Mehrheitsfähig waren schon damals eher die Forderungen der nationalistischen Rechten, die seinerzeit "Nationaldemokraten" hießen, erinnert Historiker Stefan Chwin:
"Die Nationaldemokraten und ihre Mentalität war in der polnischen Gesellschaft viel tiefer verankert als die liberal-demokratische Mentalität von Pilsudski. Sie wurde öffentlich von der katholischen Kirche unterstützt. Das polnische Volk war nationaldemokratisch, ihm war beigebracht worden, Liberale, Freimaurer, Juden und Linke zu hassen."
Liberale Polen fühlen sich nicht angesprochen
Dennoch steht 1918 eben nicht allein für Nationalismus und Abgrenzung, für den Krieg gegen die Sowjetunion mit dem siegreichen "Wunder an der Weichsel" 1920 oder die blutigen Abstimmungskämpfe mit den Deutschen um Oberschlesien. 1918 in Polen steht auch für die parlamentarische Demokratie, die das neue Polen sein wollte und den in der Verfassung verankerten Schutz von Minderheiten; für eine für damalige Verhältnisse moderne Sozialgesetzgebung mit Acht-Stunden-Tag. Die Erinnerung an das fortschrittliche Polen der Zwischenkriegszeit könnte eine Traditionslinie sein, in der sich auch der liberale Teil des Landes heute wiederfindet, die aber offiziell kaum aufgegriffen wird. Und während einerseits eher national-patriotisch eingestellte Polen mit Pathos und Heldenverehrung etwas anfangen können, schreckt es andere ab, etwa die auch in Deutschland bekannte Schriftstellerin Olga Tokarzcuk:
"Leider fühle ich mich nicht angesprochen. Obwohl mir scheint, dass es eigentlich ein wichtiger Gedenktag für uns ist. 100 Jahre sind vergangen, aber die Spuren der Teilungen noch sichtbar. Auf den Landkarten der Wahlergebnisse, beim Bahnnetz, Mentalitäten, Sprache. 1918 war ein Weg des Optimismus, für mich verbunden mit dem Frauenwahlrecht, eine der größten Errungenschaften. Aber mein Gefühl für die Gemeinschaft ist umfassender als das übliche simple Verständnis von Patriotismus als Bereitschaft, Blut zu vergießen und Opfer fürs Vaterland zu bringen."
Eine Gemeinschaft, schon damals bedroht durch den Parteienstreit: Rechts die Nationalisten, aber auch der Traum von der Weltrevolution bedrohte den jungen Staat von links. Staatsgründer Pilsudski hielt dieses Gebilde zunehmend autoritär zusammen, und weil beide Lager mehr als einmal entschlossen schienen zum Bürgerkrieg, entschied er sich für die Faust auf dem Tisch: 1926 stand er hinter der Machtübernahme des Militärs, was aus seiner Sicht Schlimmeres, nämlich einen Siegeszug der Nationalisten, verhinderte.
"Und viele Polen spendeten ihm Beifall und tun es im Grunde bis heute."
"Sanacja" nannten die Leute um Pilsudski die polnische Variante der Autokratie, "Heilung", und es drängt sich die Frage auf, wieviel davon im heutigen Polen wiederkehrt. Spricht nicht auch der derzeit starke Mann Polens davon, dass der Staat "geheilt" werden müsse, dass namentlich in der Justiz "tiefe chirurgische Eingriffe" nötig seien, und testet dabei die Grenzen zur Autokratie erneut aus? PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski hat in einem Interview mit der "FAZ" ein Foto mit Pilsudski-Standbild in seinem Büro freundlich lächelnd verweigert, wie der Journalist Konrad Schuller hinterher vermerkte. Bei Kaczynskis politischen Inhalten entdecken Historiker indes weniger "Sanacja" als "Endecja", wie die nationalistische Bewegung der Pilsudski-Zeit hieß, von ND wie "Nationaldemokraten".
Gdynia – Symbol für Aufbruch jener Jahre
Kaum eine polnische Großstadt symbolisiert bis heute den Aufbruchsgeist jener Jahre wie Gdynia an der Ostsee, heute Teil eines maritimen Ballungsraums mit Danzig und Zoppot. Die Stadt, im Polen von den Siegermächten zugedachten "Korridor" errichtet, wuchs im Eiltempo vom Fischerkaff zur Hafenmetropole und zum bald wichtigsten Ostseehafen. Gdynias Einwohnerzahl war zu Kriegsbeginn ‘39 auf über 100.000 geklettert: ein Aufbauwunder in Sichtweite des damals noch weitgehend deutschen Danzigs, ohne EU-Mittel, aber mit französischen Krediten. In Deutschland, wo das Stereotyp von der "polnischen Wirtschaft" für Chaos und Unordnung stand, verachtete man Polen als minderwertigen "Saisonstaat", aber Gdynia konterkarierte nicht nur solche Vorurteile, sondern auch das alte, ländliche, traditionsbewusste Polen selbst. Jacek Friedrich, Direktor des Stadtmuseums Gdynia:
"Gdynia sollte auch ein Fenster zur Welt sein im Sinne einer gewissen Expansion. Es gab die Vorstellung, Polen werde sich den Weltmächten anschließen, Kolonien haben. Dass sich wiederaufbauende Polen suchte Anschluss an die 1. Liga der europäischen Staaten."
Modernistische Bauten, die Gdynia bis heute prägen, erinnern an diesen Aufbruchsgeist, funktionale wie ästhetische Bauwerke, die mancherorts Schiffsrümpfe oder Bullaugen zitieren oder auch das Bauhaus und Le Corbusier: Ein modernes Polen, hoffnungsvoll der Zukunft zugewandt, statt den Martyrien der Vergangenheit verhaftet. Einer dieser Wohnblöcke aus den 30er Jahren, wegen des Bauherren im Volksmund nur kurz der "Bankier" genannt, ist ausgestattet mit einer der ersten Tiefgaragen und einem Bunker im Keller.
Annäherung auf lokaler Ebene möglich
Hier unten haben traditionsbewusste Bewohner ein Mini-Museum mit historischen Einrichtungsgegenständen hergerichtet: Auch zum 100. Jubiläum der polnischen Unabhängigkeit wollen sie Flagge zeigen.
"Für den 11. November werden wir von der Stadt 100 rot-weiße Rosetten bekommen, wir werden im Hof Lautsprecher aufstellen und patriotische Lieder aus diesen Zeiten laufen lassen. Es wird Glühwein geben."
Gelingt also hier, Gräben zu überwinden und gemeinsam zu erinnern? Auf dieser lokalen Ebene wohl schon, und Gdynia hat vielleicht nicht zufällig seit zehn Jahren einen parteiunabhängigen Bürgermeister, der soeben mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde. Für Polen als Ganzes aber in all seiner Vielfalt aus Stadt und Land, Ostsee und Gebirge, liberalen Anschauungen und tiefkatholischer Identität, sieht Jacek Friedrich im Stadtmuseum schwarz:
"Diese Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag werden traurig sein. Denn die Nation und ihre Politiker sind so furchtbar zerstritten. Und auf die Hetze gegeneinander hat PiS keineswegs das Monopol. Beide großen Parteien nutzen das, und arbeiten seit Jahren nur in ihrem eigenen Interesse."
So fahren nun also Fernzüge durch Polen mit dem plakativen Gedenklogo "Niepodlegla", "die Unabhängige", wird in ungezählten Reden des Schicksalsjahrs 1918 gedacht, und die einen hören hin, die anderen hören weg, allzu viel Aufsehen hat das pralldicke Gedenkprogramm bislang nicht erzeugt. Großplakate an öffentlichen Gebäuden überdecken kaum die tiefen Risse, die das Land durchziehen: auch - und vielleicht sogar im Kern - entlang der Frage, wie Geschichte zu bewerten sei.
Wem gehört die Geschichte?
Doch ist an alledem allein die PiS-Partei Schuld mit ihrem Hang, Geschichte zu instrumentalisieren? So einfach ist es nicht, betont Zbigniew Gluza von der Stiftung Charta.
"Die frühere Staatsmacht hat im Grunde auf die symbolischen Bereiche verzichtet und wenig getan, vielleicht mit Ausnahme des Museums des Zweiten Weltkriegs. Sie hat vor allem versucht, der Beschäftigung mit der Geschichte aus dem Wege zu gehen, und deshalb sind jetzt alle der Meinung, die Geschichte gehöre den Regierenden."
Umso mehr füllen andere den Wunsch nach Identität und Verbundenheit. Der "Marsch der Unabhängigkeit", der einst als kleine Demo rechtsradikaler Splittergruppen begann, hat sich zur Massenbewegung entwickelt. Zehntausende nahmen zuletzt an der Parade teil, die die Stadt Warschau dieses Mal verboten hat. Fußballschläger und Rassisten mit ihren Parolen und Rauchbomben, aber auch Fahnen schwenkende Familienväter, die lange keine andere Bühne fanden, um Vaterlandsliebe und Patriotismus auszudrücken. Es ist ein Patriotismus, der ein "Polen nur für Polen" fordert, ethnozentrisch und auf Abgrenzung bedacht - von der Art, wie ihn Pilsudski gerade nicht wollte, als er vor 100 Jahren nach Warschau kam, um den polnischen Staat neu aufzubauen.