Jüdische Identität immer sichtbarer
Rund 700 Mitglieder zählt die Jüdische Gemeinde in Warschau - und sie wächst. Die Geschichte des Judentums ist in der Stadt gut dokumentiert - aber Normalität ist jüdisches Leben auch heute noch nicht.
”Polnische Bürger reagieren manchmal seltsam, wenn sie hören, dass wir jüdischer Religion sind. Wir wissen oft nicht, wie wir das interpretieren sollen - sie lachen zum Beispiel so ein bisschen, weil wir Juden sind. Ist das nun wirklich komisch für sie oder ist das wirklich beleidigend gemeint? Auf jeden Fall hat es so einen Beigeschmack. Wir fühlen uns oft in die Rolle gedrängt, uns zu verteidigen."
So hat es die 35 Jahre junge Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Warschau, Anna Chipczynska, erlebt. Wir treffen sie in dem Räumen der Nozyk-Synagoge unweit des Grzybowski-Platzes im Zentrum der polnischen Hauptstadt. Nach langem Leerstand in kommunistischen Zeiten wurde der historistische Bau anlässlich des 40. Jahrestages des Warschauer Ghettoaufstands 1983 restauriert und wieder eröffnet.
Rund 700 Mitglieder zählt heute die sehr aktive und für alle Strömungen des Judentums offene Gemeinde, so die Präsidentin. Da viele junge Polen erst jetzt ihre jüdischen Wurzeln entdecken, wächst die Mitgliederzahl beständig.
"Ich denke, unsere Generation hat kein Problem damit, jüdisch zu sein. Wir sind stolz darauf und froh, aber wenn Sie die Generation unserer Eltern fragen - die sind da ganz anderer Meinung. Sie würden von ihren Erfahrungen der 50er-Jahre und danach erzählen - Erfahrungen, die natürlich viel tragischer sind."
Die Elterngeneration von Anna Chipczynska leidet heute noch an den Erinnerungen der anti-jüdischen Ausschreitungen der Kommunistischen Ära. Damals wanderten die meisten der circa 190.000 Holocaust-Überlebenden aus.
Synagogenbau überlebte als Pferdestall der Wehrmacht
Die Nozyk-Synagoge der jetzigen Jüdischen Gemeinde war 1902 von dem streng religiösen Ehepaar Zalman und Ryfka Nozyk gestiftet worden. Gemäß deren Testament ist sie orthodox ausgerichtet und heute die einzige funktionierende Synagoge Warschaus aus der Vorkriegszeit. Der Bau überlebte als Pferdestall der Wehrmacht. Denn er lag im sogenannten Kleinen Getto, das 1942 von den deutschen Besatzern wieder "arisiert" worden war. Die Bewohner wurden in das ohnehin schon qualvoll überfüllte Große Getto gepfercht. Wie fühlt man sich heute als Jüdin im modernen, demokratischen Polen?
"Ich bin Jüdin, aber auch Polin. Ich würde sagen 'und'. Ich bezahle meine Steuern als polnische Bürgerin. Aber was meine religiöse und emotionale Bindung zu einem Volk angeht, bin ich Jüdin. Während meiner Studienzeit wurde ich oft von meinen Kommilitonen gefragt, bist Du nun Jüdin oder Polin? Ich kann doch beides sein, warum nicht?"
Und die Vergangenheit? Sie tritt immer wieder zutage in Warschau:
"Diese Mauer, das ist ganz spezielle Mauer. Die Mauer entstand vor dem Krieg als eine Mauer an der Brauerei und das passt auch gut als Grenze zu dem Jüdischen Viertel."
Krzysztof Janczewski macht Führungen zur Geschichte des Warschauer Gettos. Er steht mit uns vor einem Rest der originalen Gettomauer aus rotem Backstein in der Walicowstraße, circa zehn Minuten von der Synagoge entfernt. Nicht weit von der Stelle der ehemaligen Übergangsbrücke zum Großen Getto.
Der Ziegel-Mauerrest gehörte ehemals zu der jüdischen Brauerei Haberbusch. Übersät ist das Stück mit Einschusslöchern, die von Hinrichtungen stammen. Darüber kragt ein modernes Bürogebäude mit Aluminiumfassade. Gegenüber haben sich drei verrottete Häuser erhalten, die jetzt restauriert werden sollen.
"Taschendiebe, Diebe, Verbrecher, die Alkoholiker, also solche Menschen sollte hier keiner auf der Straße treffen und die kommunistische Regierung dachte und wenn solche Leute in so einem alten Haus untergebracht werden, dann werden sie unter sich leben, machen sie keine Probleme den anderen und diese neu gebauten Häuser so wie weiter Plattenbau, das war schon für anderes Publikum."
Gettogebiet ist heute gut dokumentiert
Eines der vielen Beispiele, wie die kommunistische Regierung lange Zeit mit dem Erbe des Jüdischen Warschau und dessen tragischem Ende 1943 umging, wie Krzystof meint. Das Gettogebiet von knapp vier Quadratkilometer, das im Wesentlichen das historische Jüdische Viertel in der Innenstadt umfasste, ist heute gut dokumentiert im Stadtbild. Mit Denkmälern oder mit Gedenkplaketten, wo noch etwas sichtbar ist, wie in der Walicowstraße oder das Getto-Tor in der angrenzenden Straße.
Mitten im Herzen des von den Nazis 1943 dem Erdboden gleich gemachten Großen Gettos liegt heute der moderne Stadtteil Muranow. 1948 war in den Ruinen das Denkmal für die Helden des Gettoaufstands eingeweiht worden. Das Monument, vor dem Willy Brandt 1970 seinen in die Geschichte der deutsch-polnischen Versöhnung eingegangenen Kniefall machte, hat ein spektakuläres Gegenüber bekommen. Anlässlich des 70. Jahrestages des Aufstands wurde der beige Kubus des neuen Jüdischen Museums des finnischen Architekturbüros Lahdelma & Mahlamäki 2013 eröffnet.
"Man sagt, das Denkmal zeigt, wie die Menschen gestorben sind. Das Museum aber zeigt, wie diese Menschen gelebt haben."
Marzena Swirska-Molenda als Architekturführerin ist immer wieder begeistert von diesem Museumsneubau. Ende Oktober nun öffnete die aufklärend, didaktisch klug aufbereitete Dauerausstellung zur wechselvollen, aber auch konfliktreichen 1000-jährigen Geschichte der Juden in Polen oder "Polin", wie es im Hebräischen heißt.
Beim Hinausgehen entdecken wir am Portal eine Mesusa aus Backstein. Marzena glaubt, für die Polen und für die Juden …
"… und für diese Menschen wird diese Mesusa und dieses Gebäude auch viel mehr als nur ein Museumsgebäude sein. Denn vom Getto Warschau ist nichts mehr übrig geblieben. Das ist auch der Grund, warum Sie keine historischen Häuser hier rund um finden werden."
Mit dem neuen Jüdischen Museum ist ein zentraler Erinnerungs- und Hoffnungsort entstanden, der dazu beitragen kann, das Leben der Juden in Warschau wieder einen Schritt weiter normaler zu machen.