Von den Geflüchteten an der belarussisch-polnischen Grenze hört man nicht mehr viel, obwohl immer noch jeden Tag Dutzende von Menschen illegal die Grenze übertreten. Auch die Sperrzone, die letzten Herbst von Polen entlang der Grenze zu Belarus errichtet worden war, soll bis Ende Juni bestehen bleiben. Rebecca Barth verstärkt zur Zeit die ARD in Warschau und hat auch die Lage dieser „vergessenen“ Geflüchteten an der belarussischen Grenze recherchiert. Das Interview dazu hören Sie am Ende der "Weltzeit".
Ukrainische Geflüchtete in Polen
"Wir haben keine Flüchtlingslager in Polen", sagt Präsident Duda, doch die Sammelunterkünfte sehen ganz danach aus. © IMAGO / NurPhoto / Beata Zawrzel
Zwischen Solidarität und Erschöpfung
23:21 Minuten
Über zwei Millionen Geflüchtete aus der Ukraine hat Polen seit Kriegsbeginn aufgenommen, mehr als jedes andere Land. Die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist groß. Doch langsam geht die Kraft aus. Und die Nachwehen der Flucht sind massiv.
Eine Frau sortiert gespendete Medikamente, hinter einer Wand aus Pappkartons starrt eine andere konzentriert auf den Laptop-Bildschirm. Eine dritte in weißem Arztkittel berät zwei geflüchtete Frauen aus der Ukraine. Dazwischen wuseln dutzende Helfer in gelben Warnwesten. Beim Internationalen Bund in Krakau herrscht Hochbetrieb. Polnisch, Englisch, Russisch und Ukrainisch hallen durch den Raum. Mitten in dem Chaos steht Raissa, 63 Jahre alt, den blauen ukrainischen Pass fest umklammert.
„Ich brauche Medikamente. Beruhigungs- und Schmerztabletten. Ich habe jede Menge Schmerzen. Ich war bisher nur einmal in der Notaufnahme. Da wurde mir sehr gut geholfen, ich habe eine Infusion bekommen, aber das reicht nicht. 30 Stunden auf den Beinen, in meinem Alter, im Stehen und in der Kälte – das ist wirklich hart.“
Strapazen der Flucht wirken bis heute nach
Raissa erzählt von ihrer Flucht. Zwei Tage brauchte sie, um nach Polen zu kommen. Die ehemalige Buchhalterin lebte in Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine. Seit etwa einem Monat ist sie jetzt in Krakau. Hier teilt sich die Rentnerin eine kleine Wohnung mit den erwachsenen Kindern.
Doch die Strapazen der Flucht wirken bis heute nach. Ähnlich geht es vielen Geflüchteten aus der Ukraine. Gegen den Stress brauchen sie Medikamente, sagt Grzegorz Grzonka, stellvertretender Leiter des Internationalen Bundes in Polen.
„Das sind einfache rezeptfreie Medikamente, die weiter an die Flüchtlinge gegeben werden. Das ist Paracetamol, Ibuprofen, aber das sind auch Schlaftabletten, weil das ist immer ein großes Problem. Magenprobleme, das merken wir auch, dass es hier notwendig ist, auch in diesem Bereich zu helfen.“
Beruhigungstabletten nimmt auch Raissa aus Charkiw. Sie trägt eine graue Mütze, um ihre Haare zu verdecken. Die sähen schrecklich aus, sagt sie. Unter der Mütze blitzen goldene Ohrringe hervor, die Lippen hat sie rot geschminkt. Nur eine kleine Tasche konnte sie aus Charkiw mitnehmen. Vieles von dem, was ihr Leben ausmachte, hat sie verloren. Und wie viele leidet die ehemalige Buchhalterin unter psychischem Stress.
„Der Schock sitzt tief. Wenn die Kühlschranktür zuschlägt, glaube ich, das sei eine Explosion. Wenn der Müll abgeladen wird – das gleiche. Ich stehe auf, kann nicht schlafen. Zucke zusammen, das zerreißt meine Seele. Es ist furchtbar.“
Psychologische Hilfe vom Internationalen Bund
Auch psychologische Hilfe vermittelt der Internationale Bund. Im Eingangsbereich der Räumlichkeiten sitzt eine junge Frau aus der Ukraine. Eigentlich studiert sie in Polen – heute hilft sie ihren Landsleuten. Die Schlange vor der Tür reißt nicht ab: juristische Beratung, Kleidung, Nahrung, Hilfe bei Behördengängen – bei vielen Problemen können die Freiwilligen helfen. Aber nicht bei allen, erzählt Raissa.
„Ich hätte gerne irgendeinen Job, um etwas Geld zu haben. Und, entschuldigen Sie, dass ich das sage, das Gefühl, von jemandem gebraucht zu werden. Das bedeutet viel.“
Über zwei Millionen Geflüchtete aus der Ukraine sind seit Kriegsbeginn nach Polen eingereist. Eine Mehrheit von ihnen ist im Land geblieben – wie viele es genau sind, ist nicht bekannt. Nur eines steht fest: Kein anderes Land hat so viele Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen wie Polen. Und es sind vor allem freiwillige Helfer, die sich um die Menschen kümmern.
„Das ist immer noch der Fall. Es sind vor allem die Freiwilligen und lokale Behörden – sie schultern die Hauptlast. Langfristig brauchen wir mehr Unterstützung von der Zentralregierung.“ Das sagt Rafal Kostrzynski, Sprecher des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR.
Die Regierung von Polens Präsident Duda hat zu Beginn der Krise schnell Gesetze erlassen. Sie sollen die Integration vereinfachen, den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern. Doch gegen eine Verteilung der Menschen hat sich Polen lange gewehrt. Die Belastung ist vor allem in den großen Städten groß. Heute leben in Krakau schätzungsweise 6000 bis 7000 Geflüchtete aus der Ukraine. Wohnungen zu finden ist schwer. Viele können sich keine Miete leisten. Wo kommen all die Menschen unter?
„Ich weiß nicht. Ich wundere mich. Wo sind alle diese Leute? Wir sehen die Bahnhöfe voll. Die sind jetzt weniger voll. Aber das waren schon über 100.000 Leute. Und da überlegen wir: Wo sind die Leute? Weil, wir kennen alle diese Sammelunterkünfte. Und wenn wir das zusammenzählen, das sind nicht diese Quoten.“
Eine dieser Sammelunterkünfte liegt etwa zehn Minuten Fußweg entfernt. Es ist ein ehemaliges Krankenhaus. Ein unscheinbares braunes Gebäude mit rotem Dach. Etwa 200 Geflüchtete wohnen hier in kleinen Mehrbettzimmern.
Mateusz Ploskonka, stellvertretender Direktor der Krakauer Stadtverwaltung, erklärt: „Das sind grundsätzlich temporäre Orte, so bezeichnen wir sie. Wir nehmen an, dass wir sie zwei Monate lang – also bis Ende April – nutzen können. Wie es weitergeht? Da warten wir auf Richtlinien vom Außenministerium und den Wojewodschaften.“
Kritik an der polnischen Regierung wird lauter
Doch die obersten Verwaltungsbezirke haben noch keine neuen Richtlinien erlassen. Immer noch improvisiert Polen – vertraut auf die Gemeinden und Nichtregierungsorganisationen. Doch Kritik wird laut. Vor allem von den Bürgermeistern in den großen Städten. Denn nach Warschau, Breslau oder Krakau sind die meisten Menschen geflohen. Es gibt Platzprobleme.
Polens Präsident Duda hingegen äußerte sich jüngst im amerikanischen Fernsehen zuversichtlich: „Wir schaffen das. Ich bin sehr stolz auf meine Landsleute. Wir haben keine Flüchtlingslager in Polen, wie sie in anderen Ländern normalerweise eingerichtet werden. Die Menschen wurden in privaten Häusern, in Studentenheimen, in Hotels, Pensionen, Sanatorien aufgenommen. In verschiedenen Unterkünften, die die lokalen Verwaltungen zur Verfügung gestellt haben."
Auch wenn Präsident Duda es nicht so nennen möchte: Das ehemalige Krankenhaus in Krakau wirkt genau so – wie ein Flüchtlingslager. Am Eingang wacht ein Sicherheitsdienst, drinnen rennen Kinder umher. Das Essen kommt von einem Caterer, zu festen Zeiten.
„Niemand hat uns in Charkiw unterdrückt“
Die russischsprachige Sina ist in Gedanken bei dem Krieg in der Ukraine.
„Was für Nazis? Niemand hat uns unterdrückt, wir haben in unserem Charkiw gut gelebt. Niemand wurde benachteiligt. Wir sind alle gleich, Russen, Ukrainer, alle gleich. Auch Russen leben schon seit Jahren bei uns.“
In Russland wurde auch Sinas Mutter geboren. In Sibirien während des Zweiten Weltkrieges. Nun sitzt die 83-jährige Frau in der Notunterkunft in Polen neben ihrer Tochter. Die Hände sind geschwollen. Auf der Flucht musste sie schwere Taschen schleppen.Jetzt hat sie Schmerzen.
„Wir haben Salben bekommen, cremen Omas Hände ein. Wir haben sehr gute erste Hilfe erhalten. Darüber bin ich froh, und jeden Tag kommt ein Arzt. Die Frauen, die hier arbeiten, fragen: 'Was braucht ihr? Handtücher? Decken? Seife?' Das wird uns alles gegeben. Das nötigste.“
Beklagen wollen sich die Frauen nicht. Doch das Heimweh ist groß. In dem ehemaligen Krankenhaus gibt es kaum Privatsphäre. Sina steht auf, will ihr Zimmer zeigen.
Polnisch lernen, um sich abzulenken
Ein Vorzimmer – mehr ein Flur – mit einer Armeepritsche. Im eigentlichen Zimmer – drei weitere Pritschen. Ein Hocker zum Sitzen, über einem Stuhl hängt Kleidung. Kein Tisch, kein Schrank, die Wände sind kahl. Hier lebt Sina mit ihrer Mutter und zwei weiteren Frauen.
„Wir versuchen uns abzulenken. Deswegen lernen wir Polnisch, damit wir uns ablenken. Oder wir gehen raus, schauen uns Krakau an. So eine schöne, alte Stadt, so schöne Gebäude. Damit lenke ich mich ab.“
Ablenkung von den Nachrichten. Die verfolgen die Rentnerinnen jeden Tag. Sie tauschen sich aus mit ihren Verwandten, die noch in der Ukraine geblieben sind. Erst vor wenigen Tagen ist in Charkiw die Schule der Enkelkinder von einer Bombe getroffen worden.
„Dieser Krieg kam so unerwartet. Niemand hat damit gerechnet. Ich bin an diesem Tag aufgewacht und wollte zur Arbeit fahren. Ich habe noch gesagt: Was für ein Krieg? Ich fahre zur Arbeit. Aber mit jedem Tag wurde es schlimmer und schlimmer und schlimmer.“
Die Frauen hoffen noch immer, dass sie bald nach Hause können. Sie wollen nach Charkiw zurück. Ihre Stadt aufbauen. Doch nach sieben Wochen Krieg schwindet die Hoffnung – auch bei den Polen. Viele von ihnen haben Geflüchtete aus der Ukraine bei sich aufgenommen. Rafal Kostrzynski, Sprecher des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, kritisiert das.
Konflikte mit den Einheimischen
„Es kann nicht sein, dass die Menschen ein Dach über dem Kopf haben, weil ein freiwilliger Helfer die Geflüchteten kostenlos bei sich wohnen lässt. Das geht auf Dauer nicht. Die Menschen sind müde.“
Immer öfter kommt es zu Konflikten, berichten Geflüchtete.
Ein Einkaufszentrum am Stadtrand der polnischen Hauptstadt Warschau. Swetlana verbringt hier viele freie Stunden. Kaufen kann sie kaum etwas – dazu reicht das Geld nicht. Mit ihren zwei Kindern wohnt sie bei einer polnischen Gastfamilie. Doch dort fühlt sie sich immer unwohler. Sie will anonym bleiben. Swetlana heißt eigentlich anders. Sie hat Angst, dass die Familie sie rauswirft.
„Zwei Wochen lang war es sehr schön. Dann begannen sie unsere Rechte einzuschränken, weil sie die Hausherren sind und wir niemand. Unsere Meinung, unser Wort, zählen hier überhaupt nicht.“
Sie müsse für die Familie Bügeln und den Hund ausführen. Was gekocht wird, mögen ihre Kinder nicht – eigenes Essen aber kann sich Swetlana nicht leisten. Sie schämt sich. Will die Konflikte nicht ansprechen, weil sie Angst hat, aus der Wohnung geworfen zu werden.
„Wir packen und fahren sofort nach Hause, wenn der Krieg vorbei ist. Wir bleiben nicht einen Tag länger. Es scheint hier gut zu sein, alle helfen uns. Aber in Wirklichkeit… Ohne Gegenleistung hilft uns niemand. Die verdienen Geld mit uns.“
Geld für die Aufnahme von Geflüchteten
Fakt ist: Wer Geflüchtete aus der Ukraine aufnimmt, erhält 40 Zloty täglich. Pro Monat sind das ungefähr 250 Euro. Ob Swetlanas Gastfamilie an ihr tatsächlich verdient, kann nicht unabhängig geprüft werden, ohne dass die polnische Familie erfährt, dass Swetlana mit einer Journalistin gesprochen hat – und das würde die Situation unerträglich machen. Der Vorwurf zeigt vor allem das Misstrauen zwischen Swetlana und der polnischen Familie.
„Ich bin heute um sechs Uhr aufgestanden und arbeiten gefahren. Mein Kind habe ich mitgenommen, aber ich kann ihm in der Küche kein Frühstück machen, weil die Familie im Wohnzimmer schläft. Das macht Lärm, ich muss das Licht anmachen. Ich bin hungrig zur Arbeit gefahren. Ich konnte meine Haare nicht trocknen, weil der Föhn laut ist. Wir machen Lärm.“
Lärm, Essen, Gewohnheiten – das führt nach Wochen auf engem Raum auch in anderen Familien zu Konflikten. Marta ist Polin – auch sie hat eine Familie aus der Ukraine aufgenommen. Eine Frau mit zwei Kindern. Und Marta selbst hat drei Kinder.
Nicht erwartet, dass der Krieg so lange dauert
„Wir sind alle müde. Wir haben die Situation leid. Ich habe nicht erwartet, dass es so lange dauert.“
Als die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine kommen, bietet Marta ihre Wohnung an. Die eigenen Kinder ziehen zu ihr in das große Schlafzimmer. Einen Monat wollte die Familie aus der Ukraine bleiben. Doch noch immer können sie nicht zurück.
„Was machen wir jetzt? Sie versucht etwas zu finden, aber Warschau ist voll. Man findet nichts. Mein mittlerer Sohn fühlt sich mittlerweile sehr unwohl mit der Situation. Er will sein Zimmer zurück. Das verstehe ich. Ich bin hin- und hergerissen. Ich will meinem Sohn seinen Raum geben, aber ich will auch das richtige für die Menschen tun, die nicht nach Hause gehen können.“
Hilfsorganisationen warnen schon jetzt vor Obdachlosigkeit. Und an der polnisch-ukrainischen Grenze beobachten Helfer: Immer mehr Geflüchtete kehren zurück. Frauen mit kleinen Kindern, die zu ihren Männern wollen. Die keine Wohnung und keine Arbeit gefunden haben, die Heimweh haben. Seit Kriegsbeginn haben über 500.000 Menschen Polen in Richtung Ukraine verlassen.