Umfangreiche Literatur zum Holocaust
Polen und Juden verbindet eine über tausendjährige Geschichte. Die meiste Literatur pber die Vernichtung der Juden kommt aus diesem Land. Zudem wird hier auch jüdische Literatur publiziert.
Der im vergangenen Herbst verliehene Preis der Krakauer Buchmesse zeigte, dass die Themen Judentum und Holocaust in Polen immer noch lebendig sind. Mit dem nach dem polnischen Diplomaten, Geografen und Historiker Jan Długosz benannten Preis wurde das Buch "Polski teatr Zagłady", also "Das polnische Theater der Vernichtung" von Grzegorz Niziołek geehrt. Wir lesen darin:
"Den Holocaust zu erzählen geht nicht ohne Worte wie: 'Spiel', 'Maske', 'Illusion', 'Regie', 'Rolle', 'Bühne', 'Kulisse', 'Tragödie', 'Opfer'. Die Überlebenden würden sich gerne 'Komödianten' nennen, die nur dank dem 'Spiel' überlebt haben. Die Zeugen des Geschehens würden gerne im Schatten des Publikums versteckt bleiben. Und die Täter würden ihre Taten als 'tragisch' bezeichnen, wenn man es ihnen erlauben würde."
90 Prozent der polnischen Juden wurden von den Nazis ermordet
Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs lebten in Polen knapp dreieinhalb Millionen Juden. Sie waren die größte Bevölkerungsgruppe jüdischen Glaubens in Europa. 90 Prozent von ihnen wurden von den Nazis ermordet. Aus den grausamen Kriegserfahrungen und auch aus dem späteren Antisemitismus der Kommunistischen Partei resultierte bedeutende Literatur, die sich mit dem Thema beschäftigt, unterstreicht Professor Dariusz Stola, Historiker und Direktor des neu eröffneten Museums der Geschichte der polnischen Juden POLIN in Warschau:
"Das kommunistische Polen war ein Nationalstaat, in den die Juden nicht gepasst haben. Doch die Holocaustdebatte war die ganze Zeit präsent – in der Literatur, im Film und in persönlichen Erzählungen. Da die Vernichtung der europäischen Juden auf polnischem Boden stattfand, waren Polen automatisch Augenzeugen dessen. Sie haben die Vernichtung gesehen, gehört und gefühlt."
So wuchsen viele polnische Schriftsteller im Schatten des Krieges auf und wurden gebrandmarkt. Jan Tomasz Gross war einer der letzten Juden, die 1968 Polen verlassen haben. Sein Buch "Die Nachbarn", in dem er über den Mord an den Juden von Jedwabne schreibt, stieß in Polen die ersten ernsthaften Diskussionen darüber an. Seitdem sind hunderte andere Werke entstanden. Oft fangen aber erst die Nachkriegsgenerationen an, sich mit der polnisch-jüdischen Geschichte auseinander zu setzen, meint der Mittdreißiger Piotr Paziński, der auch über den Holocaust schreibt:
"In den polnischen Städten lebten damals oft bis zu 80 Prozent Juden. Sie sind verschwunden, aber ihre Geister sind geblieben – in den Straßen und in der Landschaft. Man kann oder will sich daran oft nicht erinnern. Aber es gibt auch welche, für die die Vergangenheit unheimlich wichtig ist."
Psychotherapeutische Wirkung des Erzählens
Viele schreiben auch aus psychotherapeutischen Gründen; zum Beispiel um die Sünde einer Vernachlässigung abzubüßen, wie die Reporterin Joanna Wańkowska-Sobiesiak in ihrem Buch über die jüdischen Nachbarn offenbart:
"Das hat mich längere Zeit verfolgt, ein gewisses Trauma. Als ich die Geschichten meiner Großeltern und Eltern noch hören konnte, hatte ich weder die Zeit noch die Lust dazu. Und als ich mich dazu schließlich doch entschieden habe, lebten sie alle nicht mehr."
Alle Protagonisten von Wańkowska-Sobiesiak halfen Juden, den Krieg zu überleben. Keine andere Nation ist unter der wichtigsten israelischen Auszeichnung "Gerechte unter den Völkern" stärker vertreten als die Polen. Und doch vertritt Dr. Bożena Keff, Literaturforscherin im Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum, die These, Antisemitismus sei eine "nicht geschlossene Geschichte":
"Die Lebendigkeit des polnischen Antisemitismus scheint einerseits ein absurdes Phänomen zu sein, wenn man bedenkt, dass die Juden in Polen zahlenmäßig eine unbedeutende Minderheit sind. Andererseits wird das Verhältnis zwischen Polen und Juden während des Holocausts durch die intellektuellen und wissenschaftlichen Eliten revidiert. Dies trifft aber oft auf Widerstand."
Schuld daran ist unter anderem das Bildungssystem. Es hatte kommunistischen Ideologien zu dienen. Der Aspekt der Vernichtung wurde verallgemeinert, manipuliert oder verzerrt. Bis zum Jahr 1991 entstand daher kein bahnbrechender Kanon zur Holocaustliteratur.
Erst nach der politischen Wende '89 entstanden in Polen allein über hundert Prosastücke, die den Holocaust beschreiben. Polnische Schriftsteller hätten die Holocaust-Erfahrung am vielfältigsten beschrieben, unterstreicht dabei Sławomir Buryła, Professor für die Holocaust-Literatur:
"Diese Literatur ist künstlerisch und thematisch vielfältiger als die der Volksrepublik Polen. Man wollte damals eher dokumentieren. Die jüngeren Schriftsteller fühlen sich dagegen freier im Umgang mit dem Thema. Sie schreiben in einer postmodernistischen Poetik. Oder sie schreiben eine Horror-, und keine direkte Holocaustgeschichte, in einer fragmentarischen Alptraumsprache. So etwas war früher nicht denkbar."
Bücher zur Wiederherstellung jüdischer Kultur
Buryłas erste wissenschaftliche Studie, die vom Institut für Literaturforschung der Polnischen Wissenschaftsakademie gefördert wird, zeigt wie reich die polnische Literatur zum Holocaust ist. Die Autorenbiografien sind oder waren in Holocaust nicht direkt verstrickt, meint der Professor:
"Weder den in- noch den ausländischen Akademikern war es bewusst, wie umfangreich die polnische Literatur zum Holocaust ist. Aufgrund der Traumata und der Zensur konnte man darüber nicht normal sprechen, so hat man sich durch die Literatur ausgedrückt."
Neben den Werken zum und über den Holocaust werden im heutigen Polen wie einst viele Bücher jüdischer Autoren publiziert. Große Verdienste hat hierbei der Krakauer Verlag "Austeria", der alte und neue jiddische und hebräische Literatur popularisiert.
Das geschriebene Wort sei enorm wichtig bei der gesellschaftlichen Bildung und der Wiederherstellung der jüdischen Kultur in Polen, meint der Verleger Wojciech Ornat:
"Man sollte mit der Bildung – mit Büchern – anfangen, wenn man die Gesellschaft verändern will. Unsere Bücher erreichen die intellektuellen Eliten dieses Landes. Die meisten Werke, die wir verlegen, sind Teil der polnischen Literaturgeschichte, da viele von ihnen einen Bezug zu Polen haben. Durch die Wiederherstellung der jüdischen Literatur geben wir sie der Welt wieder. Sie kann für jeden interessant sein."
Sprecher: "Ich ging, um zu sehen, wo Menschen verbrannt wurden. Ich ging, um aus der Substanz ihres Todes zu tanken. Ich ging, um zu sehen, wie die wachsame Erde nach dem Ende des Schlachtens handelt. Mein Gedächtnis ist auf die Lyrik der Asche empfindlich und kann von keinem anderen Überfluss leben."
Schrieb der polnische Dichter, Wacław Iwaniuk.
"Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch", meinte der Philosoph Theodor Adorno. Aus literaturhistorischer Sicht hat jedoch der Krieg einen Komplex neuer Themen erzeugt, der das bestehende Repertoire der Charaktere, Situationen und Erfahrungen erweiterte und bereicherte.
Holocaust erzählen? – Dazu haben die Polen enorm beigetragen.