Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei

Auf dem Weg in die "Demokratur"?

29:28 Minuten
Mateusz Morawiecki und Ursula von der Leyen schütteln einander die Hände. Sie trägt dabei eine Maske mit dem Logo der EU.
Kräftemessen zwischen Polen und der EU: Von der Leyen droht Ministerpräsident Morawiecki im Streit um Polens Rechtsstaat mit Sanktionen. © AFP / Yves Herman
Moderation: Patrick Garber |
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Wie endet der Streit zwischen der EU und Polen über die Rechtsstaatlichkeit? Der Ausgang entscheidet über die Zukunft der EU, meint der Politologe Ireneusz Paweł Karolewski. Denn nicht nur in Polen drohe ein Abgleiten in die „Demokratur“.
Showdown im Europaparlament: Polens Ministerpräsident Morawiecki bezichtigt die EU der Erpressung, EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen kontert mit Sanktionsdrohungen. Der Streit zwischen Brüssel und Warschau um den Rechtsstaat in Polen eskaliert.
Die Europäische Union müsse in diesem Konflikt klare Kante zeigen, sagt der aus Polen stammende Leipziger Politikwissenschaftler Prof. Ireneusz Paweł Karolewski. Denn die EU gründe auf Rechtsstaatlichkeit. Und wenn die in Mitgliedsstaaten nicht gewährleistet sei, stelle sich die Frage, wozu die Union noch gebraucht werde.

"Entdemokratisierung" in Polen

In Polen findet nach Ansicht Karolewskis eine "Entdemokratisierung" statt: Die Gerichte gerieten immer mehr unter politischen Einfluss, renitente Richter würden drangsaliert, Bürgerrechte eingeschränkt.
Das neuerliche Vertragsverletzungsverfahren, mit dem die EU Polen deswegen droht, hält Karolewski für eine stumpfe Waffe. Denn die letzte Entscheidung treffen dabei die Mitgliedsländer einstimmig, und das zu erwarten sei "illusorisch".

Stattdessen plädiert der Politologe für finanzielle Sanktionen gegen Polen. Es müsse aber beachtet werden, dass die Zivilgesellschaft darunter nicht leide, denn im Gegensatz zur Regierung würden sich 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung "auf der demokratischen Seite der Geschichte" sehen.
Nach Ansicht von Ireneusz Paweł Karolewski geht es aber nicht nur um Polen. Auch die anderen Länder der sogenannten Visegrád-Gruppe – neben Polen sind das Ungarn, Tschechien und die Slowakei – seien auf dem Weg in die "Demokratur".

Der Staat im Griff von Parteien und Interessengruppen

Damit meint Karolewski eine Form von Demokratie, in der es zwar freie Wahlen gibt, jedoch die wichtigen staatlichen Institutionen, vor allem die Gerichte, aber auch Medien und Großunternehmen immer mehr in den Griff von Parteien und Interessengruppen geraten.
In Ungarn würde auf diese Weise die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán nach und nach den Staat "übernehmen", ähnlich in Polen die PiS-Partei von Polens starkem Mann Jarosław Kaczyński. Karolewski und der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie beschreiben das in ihrem Buch "Die Visegrád-Connection".
Auch Tschechien und die Slowakei sieht Karolewski in Richtung "Demokratur" abdriften. Hier versuchten allerdings nicht Parteien, den Staat unter Kontrolle zu bekommen, sondern wirtschaftliche Interessengruppen und Oligarchen wie der tschechische Ministerpräsident und Milliardär Andrej Babiš.

Es droht eine "Ansteckungsgefahr"

Von der allmählichen Entdemokratisierung in den Visegrád-Staaten gehe "Ansteckungsgefahr" aus, sagt Ireneusz Paweł Karolewski. Die Regierung Sloweniens etwa orientiere sich an der nationalistischen Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, führe ausgrenzende Identitätsdiskurse.
Gegen Populismus und Aushöhlung demokratischer Institutionen seien auch die alten Demokratien des Westens nicht gefeit, wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump und dessen Republikanische Partei zeigten.
(pag)

Ireneusz Paweł Karolewski, geboren 1971 in Skierniewice/Polen, ist Professor für Politische Theorie und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Er hat Politikwissenschaft an der Universität Potsdam studiert, wo er auch promovierte und sich habilitierte. Danach lehrte er u. a. in Potsdam, Breslau und an der Harvard University.

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