"Wir lassen die Situation eskalieren"
Lange Schichten, überfüllte Wartezimmer, 500 Euro im Monat. Junge Ärzte in Polen arbeiten unter ungesunden Bedingungen. Im September starb ein Arzt nach einem 24-Stunden-Dienst. Nun wehren die Mediziner sich - mit Hungerstreiks und Protesten, die die Regierung treffen.
Grzegorz kann die Augen nur mit Mühe aufhalten. Er hat 26 Stunden Dienst hinter sich - nur drei Stunden davon konnte er sich hinlegen:
"Unser Krankenhaus liegt mitten im Stadtzentrum. Viele Patienten kommen in Notfällen hierher oder werden eingeliefert. Wir Ärzte in Ausbildung arbeiten auch in der Beratungsstelle, die zum Krankenhaus gehört. Mein Dienst heute war durchschnittlich - eine Operation am Abend, eine in der Nacht, es war also einigermaßen ruhig."
Grzegorz ist 31 Jahre alt. Er will nicht, dass sein Nachname veröffentlicht wird, auch nicht der Name des Krankenhauses und seine Fachrichtung. Denn der Jungmediziner will den bevorstehenden Konflikt mit der Klinikleitung nicht noch zusätzlich anheizen.
Wie fast alle Ärzte in Ausbildung an seinem Spital hat er der Direktion gerade einen Brief mit weitreichenden Folgen geschickt:
"Wie alle habe ich vor vier Jahren eine sogenannte Opt-out-Klausel unterschrieben. Damit habe ich mich bereit erklärt, mehr als 48 Stunden pro Woche zu arbeiten, also mehr als im Arbeitsrecht vorgesehen ist. Weil andere Formen des Protests nicht erfolgreich waren, haben sich alle Jungärzte in unserer Abteilung entschieden, diese Opt-out-Klauseln zu kündigen."
75 Wochenstunden im Durchschnitt
Mit anderen Worten: Vom kommenden Jahr an werden diese Ärzte nur noch die Dienste übernehmen, die in ihrem Arbeitsvertrag vorgesehen sind. Dass er im Durchschnitt 75 Stunden pro Woche arbeitet, wie bisher, ist für Grzegorz dann Geschichte. Und das Krankenhaus wird händeringend nach Ersatz suchen müssen für seine Sonderschichten.
Rückblick: Das Warschauer Kinderkrankenhaus vor wenigen Wochen. Auf dem Boden in der Eingangshalle liegen Armeematratzen. "Stopp dem Tod in unserem Gesundheitswesen" steht auf einem Plakat. Damit ist nicht nur der Tod von Patienten gemeint. Erst im September brach ein Arzt im südpolnischen Wloszczowa nach einem 24-Stunden-Dienst zusammen und starb. Er hatte eine weitere Acht-Stunden-Schicht vor sich.
Auf einer Bank sitzt Maciej Nowak, ein Arzt in Ausbildung.
"Ein junger Arzt wie ich verdient netto 2.200 Zloty im Monat, etwas mehr als 500 Euro. Damit er über die Runden kommt, muss er zusätzliche Schichten übernehmen. Wenn ich schon ein paar Schichten hinter mir habe, bin ich fast am Umfallen - und dann kommt der nächste Patient."
Ganz Polen hört den Ärzten zu
Dagegen protestiert Maciej Nowak. Deshalb hat er sich ein schwarzes T-Shirt übergezogen, und das bedeutet: Er nimmt am Hungerstreik der jungen Ärzte teil. So verschaffen sie sich Aufmerksamkeit. Ganz Polen hört ihnen zu, wenn sie von den Missständen in ihrem Beruf erzählen. Denn sie verlangen nicht einfach mehr Gehalt: Sie fordern, dass Polen mehr für das Gesundheitswesen ausgibt. Bisher sind es nur 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, einer der niedrigsten Werte in Europa. Mindestens 6,8 Prozent sollen es sein, so die Ärzte.
Maciej Nowak blickt zum Glasdach, durch das Licht auf den modernen Flur fällt:
"Das hier ist eine große Ausnahme. Die allermeisten Krankenhäuser sehen anders aus: Dort fallen die Kacheln und der Putz von der Wand, es fehlt an Klopapier und sogar an notwendigen Medikamenten. Wir schämen uns, wenn wir Patienten oder ihre Familie in unserem heruntergekommenen Ärztezimmer empfangen müssen."
Von Warschau aus verbreitete sich die Welle über das ganze Land: In vielen größeren Städten traten Ärzte in den Hungerstreik. Und auch andere medizinische Berufe schlossen sich an. Unter ihnen Celina Kinicka, eine Ernährungswissenschaftlerin:
"Die Patienten in Krankenhäusern bekommen zu wenig zu essen. Selbst Ärzte raten dazu, dass die Familie mithilft und Essen bringt. Aber was, wenn jemand allein ist? Dann wird der Patient doppelt so lange behandelt, weil er schlecht ernährt ist."
Patienten unterstützen den Protest
Agnieszka Debkowska, eine junge Ärztin im Hungerstreik zeigt auf die Blumensträuße und die Briefe, in der Halle des Krankenhauses liegen: Ärzte und Patienten aus ganz Polen unterstützten den Protest der jungen Mediziner, sagt sie.
"Es kann nicht sein, dass ein Patient sieben Monate warten muss, bis er einen Termin bei einem Facharzt bekommt. Es geht uns nicht in erster Linie um eine Gehaltserhöhung. Wir sind auch nicht gegen die aktuelle Regierung - die Probleme im Gesundheitswesen haben sich seit langem entwickelt."
Knapp 200 Ärzte nahmen am Hungerstreik teil. Nach 28 Tagen brachen sie ihn ab. Das Ziel, Polen wachzurütteln, hatten sie erreicht. Und noch ein zweites Ziel: Die Mediziner hatten sich landesweit solidarisiert. Jaroslaw Bilinski, Sprecher der jungen Ärzte, verkündete vor laufenden Fernsehkameras die nächste Stufe des Protests:
"Wir wollen die Mittelmäßigkeit unseres Gesundheitswesens nicht mehr länger dadurch unterstützen, dass wir ein unglaubliches Arbeitspensum abspulen. Wir haben die ganze Zeit diskutiert, ob es ethisch zu rechtfertigen ist, dass wir uns vom Patientenbett entfernen. Aber wir können nicht mehr zusehen, wie Kranke auf eine Behandlung warten und dabei sterben. Deshalb treiben wir die Situation jetzt auf die Spitze."
Dienst nach Vorschrift, ohne Sonderschichten, lautete die neue Form des Protests. Sie ist leiser, sie wird nicht täglich gefilmt und auf allen Sendern ausgestrahlt. Aber sie dürfte die Regierung wesentlich empfindlicher treffen.
Zurück zu Grzegorz, dem Arzt im Warschauer Stadtzentrum:
"Zumindest einige Abteilungen in diesem Krankenhaus werden vor einem Problem stehen. Aber wir sind in der Hauptstadt, hier gibt es viele Ärzte. Viel schwieriger wird die Situation in Krankenhäusern in kleineren Städten. Da fehlt es jetzt schon an allen Ecken und Enden an Ärzten. Wenn da nur zwei, drei Jungmediziner in einer Abteilung ihre Opt-out-Klauseln aufkündigen, dann wird das die Arbeit dort lähmen."
Ärzte schämen sich für ihre Arbeitsbedingungen
Der Putz fällt in dem Behandlungszimmer, in dem Grzegorz sitzt, zwar nicht von der Wand. Aber die Geräte, die herumstehen, wirken alt, teilweise noch aus kommunistischer Zeit, bis auf eines:
"Das da links ist ein neues Ultraschallgerät, eine echte Revolution für uns. Seit ich hier bin, ist das eine der wenigen größeren Investitionen. Die Direktion hatte keine andere Wahl, die alten Geräte sind völlig verschlissen. Im vergangenen Jahr hatten wir vier Monate lang gar kein Ultraschallgerät, das funktioniert hat. Dabei ist das für uns die Grundlage für eine Diagnose."
Viele polnische Ärzte leiden unter diesen Bedingungen - weil sie ihre Arbeit nicht richtig tun können und sich dafür schämen. Noch schmerzhafter erfahren die Patienten die Mängel im Gesundheitswesen. So Anastasia, eine Übersetzerin für Englisch, bei der vor anderthalb Jahren Brustkrebs festgestellt wurde, eine besonders bösartige Variante.
"Ich habe eine Strahlentherapie gemacht und plötzlich so starke Schwindelanfälle bekommen. Meine Ärztin hat mir eine MRT verschrieben. Das war im Oktober. Die Empfangsdame beim Radiologen hat mir einen Termin im Juni angeboten - obwohl ich doch die Krebspatienten-Karte habe, die einem eigentlich alle Türen öffnen sollte. Die Dame hat sich sehr gewundert, dass ich abgelehnt und gesagt habe: Im Juni bin ich entweder schon tot - oder die Symptome haben sich als harmlos erwiesen."
Die Mittdreißigerin blättert in ihren Unterlagen. Bei einem Blatt mit vielen Abkürzungen und Prozentangaben bleibt sie hängen. Es ist das Ergebnis ihrer Krebsuntersuchung, die sogenannte Biopsie:
Die besten Ärzte verlassen das Land
"Ich habe eine Ärztin, bei der ich in Behandlung war, gefragt, was das heißt. Na, Sie haben Krebs, hat sie geantwortet. Als ob ich kein intelligentes Wesen wäre, das wissen will, was mit ihm los ist. Im Internet habe ich dann eine englischsprachige Seite gefunden, extra für Brustkrebspatienten. Und da war dann erklärt, wie man die Ergebnisse seiner Biopsie liest."
Das war längst nicht das einzige enttäuschende Erlebnis. Nachdem Anastasia ihrer Ärztin mitgeteilt hatte, dass sie keine Chemotherapie möchte, habe die sich plötzlich überhaupt nicht mehr interessiert, erzählt sie. Sie hätte dann noch höchstens zwei Jahre zu leben, so die knappe Auskunft - es genüge also, wenn sie nur noch jedes halbe Jahr zur Untersuchung komme. Gut behandelt sei sie bisher nur dort worden, wo sie den Arztbesuch aus der eigenen Tasche bezahlte, so Anastasia:
"Daran ist wohl zum Teil unser Gesundheitssystem schuld. Außerdem habe ich gehört, dass unsere besten Ärzte längst im Ausland sind. Warum sollten sie auch bleiben, wenn sie woanders bessere Bedingungen vorfinden. So geht es ja in Polen mit Fachleuten in allen Berufen."
Größter Ärztemangel in der EU
Wer sich unter polnischen Ärzten umhört, erfährt, dass praktisch jeder von ehemaligen Studienkollegen weiß, die ausgewandert sind. So auch Angieszka Debowska, die am Hungerstreik in der Warschauer Kinderklinik teilnahm:
"Ich habe selbst schon viele Stellenangebote bekommen, aus Deutschland, aus der Schweiz, aus Schweden, wo viel, viel mehr Gehalt geboten wurde als ich hier bekomme. Dazu Sprachkurse und eine Unterkunft. Solche Angebote kommen meistens per Mail oder auf einem Konto bei einem sozialen Netzwerk. Ich hab darüber nachgedacht, aber ich will meine Heimat nicht verlassen."
Ebenso denkt Arzt Grzegorz. Mit seiner Verlobten hat er einen Kredit aufgenommen, so konnten sie sich in Warschau eine kleine Wohnung kaufen. Die beiden wollen Kinder, aber dafür reicht das Geld der beiden im Moment nicht, trotz der 75-Stunden-Wochen:
"Am Ende meines Studiums habe ich schon begonnen, Deutsch zu lernen. Aber dann habe ich einen Arbeitsplatz gefunden, wo ich meine Ausbildung vertiefen konnte, und bin geblieben. Manchmal bereue ich das. Wenn ich mit meiner Ausbildung fertig bin, in zwei Jahren, und im Gesundheitswesen alles beim alten ist, dann werde ich bestimmt noch einmal über das Thema Emigration nachdenken."
Schon jetzt gibt es in Polen so wenige Ärzte pro Einwohner wie in keinem anderen Land der Europäischen Union. Die Regierung, sollte man meinen, müsste den Protest der jungen Mediziner also sehr ernst nehmen.
Es geht nicht um die Ärzte, es geht ums Land
Doch das tat sie zunächst nicht. Am Anfang wollte die Regierung der rechtskonservativen Partei PiS den Protest aussitzen. Die PiS-Sprecherin Beata Mazurek erklärte:
"Wohl jeder würde gerne mehr Geld verdienen. Ich frage mich aber schon, ob dieser Protest nicht politisch inspiriert ist. Seit 2009 haben die jungen Ärzte keine Gehaltserhöhung mehr bekommen - und jetzt protestieren sie, obwohl wir bereit sind, ihre Gehälter anzuheben."
Den Ärzten gelang es zu zeigen, dass es ihnen nicht um sich, sondern ums Land geht. Schließlich brachte die PiS im Eiltempo ein Gesetz durchs Parlament, das die Ausgaben im Gesundheitswesen tatsächlich anheben soll. Bis zum Jahr 2025 sollen sie auf sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Gesundheitsminister Konstanty Radziwill:
"Das schaffen wir, ohne die Steuern zu erhöhen. Durch diese Entscheidung werden die ewigen Träume von Ärzten und Patienten Wirklichkeit. Dieses historische Gesetz, das eine gewaltige Summe in das Gesundheitssystem fließen lässt, ist die größte Errungenschaft in den beiden ersten Regierungsjahren."
Dienst nach Vorschrift als neue Protestform
Große Worte, doch für die jungen Ärzte ist das längst nicht genug. Zu wenig, zu spät, lautet ihre Antwort. Deshalb die neue Phase des Protests, deshalb der "Dienst nach Vorschrift". Wie viele junge Mediziner sich beteiligen, ist noch nicht klar. Daniel Luszczewski von der Vereinigung der Ärzte in Ausbildung:
"Nach unseren Schätzungen sind zwischen 60 und 70 Prozent der Ärzte in Ausbildung entschlossen, ihre Opt-out-Klauseln zu kündigen. Das sind dann mehr als 12.000 Ärzte. Schließlich stellen wir unsere Forderungen schon seit zwei Jahren und klopfen an viele Türen. Jetzt lassen wir die Situation Schritt für Schritt eskalieren."
An einigen Krankenhäusern scheint der Protest noch weitere Kreise zu ziehen. In Rzeszow etwa, im Südosten von Polen, wollen nicht nur die jungen Ärzte deutlich weniger arbeiten. Dort haben sich die bereits ausgebildeten Spezialisten dem Protest angeschlossen.
Die Reaktionen in der Partei PiS zeigen, dass diese Form des Protests die Regierung noch weit stärker unter Druck setzt als der Hungerstreik. Sie reagiert mit moralischem Gegendruck. Stanislaw Karczewski, Präsident des Oberhauses im polnischen Parlament:
"Auch ich bin Arzt und werde es immer sein. Ein Arzt sollte aufopfernd zum Wohl der Kranken arbeiten. Ich kann nicht verstehen, wie ein Arzt die Kranken im Stich lassen kann. Ich appelliere an die Ärztekammer, das nicht weiter zu unterstützen. Wenn sich die Mitglieder der Kammer politisch engagieren wollen, dann sollen sie das bei der Parlamentswahl in zwei Jahren tun."
Grzegorz, der Arzt in einem Warschauer Klinikum, wartet nun, wie die Direktion auf seine Kündigung der Opt-out-Klausel reagiert. Außerdem hofft er, dass der Konflikt nicht allzu lange dauert. Denn allein von dem Geld, das er mit seinem Grundgehalt verdient, kann er seinen Immobilienkredit auf Dauer nicht zurückzahlen.