"Gute" Autoren und "böse" Autoren
Wie sehr Polens Bevölkerung gespalten sei, zeige sich auch an der Kulturpolitik, beobachtet die Schriftstellerin Karolina Kuszyk. Der patriotische Autor Henryk Sienkiewicz werde noch immer gefeiert, während eine Olga Tokarczuk für ihren Roman "Jakobsbücher" mit einem Shitstorm überzogen wurde.
Henryk Sienkiewicz hat zur Zeit der Teilungen Polens große Ereignisse der polnischen Geschichte nacherzählt. In seinen historischen Schmökern gibt es die Guten und die Bösen. Männer sind ritterlich, Frauen schön, Polen groß und seine Erde fruchtbar, soweit das Auge reicht.
Mit dem unkomplizierten Patriotismus à la Sienkiewicz wuchsen ganze Generationen von Polen auf. Mittlerweile wird er allerdings eher kritisch betrachtet. Nicht jedoch vom staatlichen Fernsehen, das parallel zum EM-Spiel Deutschland gegen Polen den Film "Kreuzritter" zeigte, die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Sienkiewicz.
Bereits um 1900 erschienen, wurde der Titel als erstes Buch nach Zweitem Weltkrieg und deutscher Besatzung neu aufgelegt – nicht ohne Grund, stehen doch die Kreuzritter in der kollektiven Erinnerung der Polen pars pro toto für die bösen Deutschen. Mithin dient der Grunwald-Sieg damals wie heute der antifaschistischen, sprich antideutschen Propaganda.
Monoethnische Idee trifft auf multireligiöse Erinnerung
Im 18. Jahrhundert, vier Jahrhunderte später als "Kreuzritter", spielt der Roman "Jakobsbücher" von Olga Tokarczuk, erschienen im Jahr 2014. Darin entwirft die Autorin das schillernde Panorama des Vielvölkerstaates Polen-Litauen. Dort lebten einst katholische, protestantische und orthodoxe Christen sowie Juden und Muslime mit- und nebeneinander und genossen trotz der Dominanz des katholischen Klerus eine politisch gestützte Religionsfreiheit.
Hier in Polen sind wir alle Fremde, muss man bei der Lektüre unwillkürlich denken. Alle unsere Vorfahren kamen von irgendwo anders her. Die Idee eines monoethnischen Nationalstaates ist weder ewig noch selbstverständlich. Doch eine solche Einstellung provoziert viele Landsleute. Weil die Autorin in Interviews hart ins Gericht mit der Fremdenfeindlichkeit vieler Polen ging, brach im Internet ein regelrechter Shitstorm gegen sie aus.
Hier Henryk Sienkiewicz und da Olga Tokarczuk – auch die aktuelle Kulturpolitik unterscheidet schon mal zwischen "guten" und "bösen" Autoren. Das ist nur eine Facette der größeren Spaltung, die sich durch das gesamte Land zieht.
Die Systemtransformation hinterließ tiefe Spuren im Selbstbild der Polen. "Sei tolerant, sei flexibel und arbeite hart!", lautete der ungeschriebene Imperativ der letzten 25 Jahre. Ihn spiegelte die Literatur, indem sie einige Antihelden schuf, die sich von der neuen Zeit beschämt sahen.
Antihelden der Nachwendezeit rebellieren gegen liberales Polen
Einer von ihnen war der Homo Sovieticus, der Wendeverlierer, der passiv darauf wartete, bis der Staat oder eine andere Instanz sein Leben für ihn organisierte, anstatt selbst seines Glückes Schmied zu sein und ordentlich zuzupacken, wie der Zeitgeist es verlangte.
Heute nun treten die beschämten Antihelden aus dem Schatten. Ihre Rebellion kündigte bereits die Figur des Silny aus dem 2010 erschienenen Roman "Polenweiß und Russenrot" von Dorota Masłowska (übersetzt von Olaf Kühl) an. Ein junger Macho aus dem Plattenbau bezieht seine ganze Weltanschauung aus aufgeschnappten pseudopatriotischen, zumeist antirussischen Parolen, aus Werbung und Fußballsprüchen. Und brüllt: "So bin ich halt! Mir egal, ob euch das gefällt!"
Es gibt momentan zwei Polen, die nichts miteinander zu tun haben wollen. Das neue "patriotische" hat das liberale abgewählt, weil es weder solidarisch noch sozial sei, zudem vor Russen, Deutschen und Europa kusche. In der Literatur leben beide Lager ihre Gewaltphantasien aus: es wird gekämpft und getötet, was das Zeug hält.
Aber es gibt auch immer noch die anderen, die ihrer Ohnmacht in Witz und Ironie Ausdruck verleihen – gerade im politischen Kabarett und in sozialen Netzwerken, weil es so viel absurden Stoff nicht mal zu Zeiten der Volksrepublik gab. Weshalb die "Newsweek Polska" schon vor einigen Monaten titelte: "Noch ist Polen nicht verloren, solange wir lachen".
Karolina Kuszyk, geboren 1977, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie arbeitet mit deutschen und polnischen Verlagen und Kulturinstitutionen zusammen und übersetzte u.a. Bernhard Schlink, Ilse Aichinger, Karen Duve und Max Frisch ins Polnische. Sie publizierte u.a. in Tygiel kultury, Notes Wydawniczy, OderÜbersetzen und übersetzte für Gazeta Wyborcza, Le Monde Diplomatique Polska, eurotopics und PolenPlus. Seit 2014 unterrichtet Karolina Kuszyk literarische Übersetzung und Literaturkritik an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Sie lebt in Berlin.