Polikliniken

Weiterentwicklung eines bewährten Modells

07:13 Minuten
Blick auf einen der Standorte der Poliklinik Veddel in Hamburg
"Wir bekommen so viel Zuspruch": Der erste Standort der Poliklinik Veddel ist längst nicht mehr ihr einziger. © Deutschlandradio / Magdalena Neubig
Von Magdalena Neubig |
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Trotz zentraler Lage ist der Hamburger Stadtteil Veddel eher als wirtschaftlich schwach bekannt. Eine Poliklinik bietet den Menschen hier vielfältige Hilfe, denn sie ist – auch wenn es der Name anders vermuten lässt – weit mehr als nur ein Ärztehaus.
Ein Gebäude aus roten Klinkersteinen mit weißen Türen und Fenstern aus Holz. Nebendran ein Deich, der das Wasser des Elbkanals abhalten soll, das auf dieser Seite an der Veddel-Insel vorbeifließt. Die Poliklinik Veddel hat dort 2016 ihren ersten Standort aufgemacht.
„Diese ganzen Räumlichkeiten waren früher Bestandteil einer Polizeikaserne, und sie waren Pferdeställe und Waschräume. Und bevor wir hier drin waren, waren es Atelierräume“, erzählt Milli Schröder. Sie arbeitet in der Verwaltung der Poliklinik Veddel. Der Name Poliklinik ist zwar an die Kliniken in der DDR angelehnt, aber auch etwas irreführend.
Denn in der Poliklinik geht es um mehr als ärztliche Versorgung, sagt Mediziner Jonas Fiedler. „Das ist uns ganz wichtig, auch in der Außendarstellung nicht wahrgenommen zu werden als die etwas andere Hausarztpraxis, sondern ganz klar zu sagen: Wir sind ein interprofessionelles Stadtteilgesundheitszentrum“, erklärt er.

Behandlung, Beratung, soziales Engagement

Zum Angebot der Poliklinik gehören neben zwei allgemeinärztlichen Praxen nämlich auch eine Hebammenpraxis, eine Gesundheits- und Sozialberatung und ein psychologisches Beratungsangebot. Darüber hinaus betreibt die Poliklinik Präventionsprojekte und engagiert sich im Stadtteil selbst.
Einige der Gründungsmitglieder der Poliklinik Veddel haben zuvor in der medizinischen Betreuung von Menschen ohne Krankenversicherung gearbeitet. Die Erfahrungen dort haben ihnen gezeigt, dass eine rein medizinische Versorgung nicht ausreicht, wenn Menschen mit komplexen Problemlagen zu kämpfen haben, sagt Milli Schröder.
„Also hatten wir ganz oft das Gefühl, wir können jetzt zwar Termine bei irgendwelchen Fachärzt*innen vermitteln, aber wir schaffen es nicht mal im Ansatz, die Lebensrealität wirklich zu verbessern“, sagt sie. Daraus schlossen sie, dass sie sowohl unmittelbare Hilfe vor Ort anbieten müssen, als auch etwas an den Verhältnissen ändern, die dazu führen, dass Menschen überhaupt krank werden.

Wenn Armut krank macht

„Weil es auch immer eine gesellschaftspolitische Fragestellung ist, warum ist wer gesund oder krank? Weil es auf jeden Fall eine Verteilungsfrage ist, wenn man sieht, dass die Lebenserwartung ungefähr zehn Jahre auseinandergeht zwischen den ärmsten und den reichsten Leuten“, erklärt Milli Schröder.
„Dann ist das so ein Moment, der mich jedes Mal neu schockiert, wo ich jedes Mal denke: Das können wir doch nicht zulassen, das ist so offensichtlich ungerecht.“
Armut macht krank - davon ist das Team der Poliklinik überzeugt. Das zeige sich auch konkret an den Anliegen, mit denen die Menschen kommen, erzählt Jonas Fiedler. „Also es ist zum Teil wirklich schwere körperliche Arbeit, die verrichtet wird – Leute kommen mit Rückenschmerzen, Leute kommen mit chronischen Schmerzzuständen. Leute kommen auch mit Arbeitsunfällen.“

Themen, die in der Sozialberatung aufschlagen, sind zum Beispiel finanzielle Sorgen. Teilweise geht es um Wohnverhältnisse oder migrationsassoziierte Themen, die natürlich alle Stressoren darstellen und zu diesem schlechteren Gesundheitszustand beitragen.

Jonas Fiedler

Vor der Eingangstür der Poliklinik steht jetzt Claudius. Er darf für seine Auffrischungsimpfung außerhalb der Öffnungszeiten vorbeikommen, damit er seine Kinder noch pünktlich abholen kann. Jonas Fiedler klärt ihn auf, während er in einem der Behandlungszimmer die Spritze aufzieht.
„Wenn es dir morgen schlecht gehen sollte, kannst du Ibuprofen oder Paracetamol nehmen, heute lieber nicht. Heute kein Alkohol, fünf Tage keinen Sport machen sollte man nach der Impfung“, rät Jonas Fiedler.

„Es ist alles ein bisschen lockerer“

Claudius nimmt bislang nur das allgemeinärztliche Angebot der Poliklinik in Anspruch. Einige Menschen gehen aber eben auch oder nur zur sozialen oder psychologischen Beratung. Deshalb gibt es interdisziplinäre Fallbesprechungen mit allen Fachbereichen, erklärt Milli Schröder.
Blick auf den Empfang der Poliklinik Veddel
Die Poliklinik Veddel unterscheidet sich nicht nur in ihrem Erscheinungsbild von vielen anderen medizinischen Einrichtungen.© Deutschlandradio / Magdalena Neubig
Auch die sonstige Organisation der Poliklinik mit den mehr als 30 Beschäftigten wird in einem Plenum diskutiert. „Als Kollektiv treffen wir die Entscheidungen gemeinsam“, erzählt sie. „Und zwar einmal in der Woche treffen wir uns zwei bis drei Stunden und besprechen alle aktuellen Belange, aber auch grundsätzliche Richtungsentscheidungen gemeinsam.“
Claudius hat die Impfung schon hinter sich. Während er beim Empfang noch 15 Minuten wartet, erzählt er, was ihm am Konzept der Poliklinik gefällt. „Also der Umgang ist schon anders, als man es gewohnt ist im medizinischen Bereich. Es ist alles ein bisschen lockerer. Schon die Gestaltung von dem Raum ist irgendwie wohnlicher, einladender, habe ich das Gefühl.“
Der Wartebereich ist eher wie ein Café gestaltet. Es stehen französische Bistro-Tischchen und Sessel herum. Wenn nicht Pandemie ist, bekommen die Wartenden auch einen Kaffee angeboten. So langsam füllt sich der Raum, weitere Impfungen stehen an und die Sozialsprechstunde beginnt.
Carine, die direkt neben der Poliklinik wohnt, kommt mit einem winterlichen Blumenstrauß vorbei. Sie schätze besonders an der Arbeit der Poliklinik die Öffnung in den Stadtteil, sagt sie. „Also sich auch zu beteiligen an anderen Prozessen, die vielleicht ein bisschen indirekter etwas mit Gesundheit zu tun haben, aber trotzdem so wichtig sind.“

„Gesundheit statt Gewinne“

Die Mitarbeitenden der Poliklinik versuchen gemeinsam mit den Bewohnerinnen und Bewohnern herauszufinden, wo diese Verbesserungsbedarf und Lösungsmöglichkeiten sehen.
„Dazu kommt, dass alle Menschen, die hier arbeiten, das mit vollem Einsatz tun und mit einer Überzeugung“, sagt Carine. „Das ist dann einfach eine andere Haltung, wie man sie sonst in einer Arztpraxis vorfindet.“
Die Mitarbeitenden der Poliklinik träumen von einem gemeinwohlorientierten Gesundheitswesen: „Gesundheit statt Gewinne“ ist einer ihrer Wahlsprüche. Die Poliklinik zu finanzieren, sei allerdings kompliziert, sagt Milli Schröder. Das liege auch daran, dass im deutschen Sozialrecht die Abrechnung der Leistungen von Ärztinnen und Geburtshelfern anders laufe als die der sonstigen Beratungsangebote und Projekte.
„Wir sind sehr viel damit beschäftigt, Anträge zu schreiben“, erklärt sie. „Danach zu suchen: Wo gibt es gerade Möglichkeiten, Geld zu bekommen? Es ist einfach ein irrer Aufwand, und es ist natürlich ein Risiko für alle. Unsere Stellen sind alle befristet, weil wir nicht wissen, ob wir danach wieder eine Finanzierung bekommen. Darüber läuft auch intern eine Debatte, weil das natürlich keine optimalen Arbeitsbedingungen sind. Das erfordert sehr viel Zuversicht und Glauben an die Sache, sich hier drauf einzulassen.“

Die Poliklinik wächst

Trotz allem wächst die Poliklinik. Dieses Jahr sind zwei weitere Standorte auf der Veddel dazugekommen, die nur einen kurzen Spaziergang entfernt liegen. Und auch in anderen Städten entstehen Polikliniken nach dem Hamburger Vorbild. So etwa in Dresden, Leipzig, Berlin und Köln.
Denn neben den Sozialarbeiterinnen und -arbeitern gibt es inzwischen auch mehr Medizinstudierende, die das bestehende Gesundheitssystem verändern wollen.
„Wir verfolgen eigene Ideale in der Gesundheitsversorgung, und wir schaffen uns auch einen Arbeitsplatz, der unseren Vorstellungen entspricht“, erzählt Jonas Fiedler.
Bei der Bevölkerung auf der Veddel kommt das in jedem Fall an, sagt Milli Schröder: „Wir bekommen so viel Zuspruch, für das, was wir tun. Und es gibt so viel Solidarität in diesem Stadtteil und so viel Bereitschaft, einander gegenseitig zu helfen. Das ist schon wirklich toll.“
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