Die Recherche des Autoren in Afghanistan wurde unterstützt mit einem Stipendium vom European Journalism Centre.
Letzter Kampf gegen Kinderlähmung
21:11 Minuten
Weltweit ist Kinderlähmung weitgehend besiegt. Nur in zwei Ländern kommen die wilden Polio-Viren noch gehäuft vor: Afghanistan und Pakistan. Das hat viel mit den Taliban zu tun, aber nicht nur. Die Menschen brauchen mehr als Impfspritzen.
Schwer fällt die gepanzerte Tür des weißen Geländewagens ins Schloss. Ohne kugelsichere Autos fährt hier niemand raus vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Es ist zu gefährlich, immer wieder kommt es in der Gegend zu Gefechten zwischen afghanischer Armee und Taliban.
Die Aufgabe der Mitarbeiter von UNICEF heute: Hier in der südafghanischen Provinz Kandahar so viele Kleinkinder und Neugeborene wie irgend möglich gegen Polio impfen. Und davon gibt es viele, denn Afghanistan ist eines der jüngsten Länder der Welt. Zwei Drittel der Menschen sind unter 25 Jahren.
"Ich überwache die Impfkampagne hier", sagt die junge Afghanin Shamzia. "Wir haben damit begonnen, jedes Kind zu impfen. Es ist unsere Pflicht, hier regelmäßig vorbeizuschauen und nicht aufzuhören, bevor wir alle erreicht haben. Nach der Kampagne überprüfen wir alle Haushalte noch einmal. Das dauert drei Tage. Dazu benötigen wir Autos, Impfpässe und weitere Ausrüstung. Wenn es keine Kampagne gibt, führen wir Routineimpfungen aus."
Shamzia ist mit ihrem Team aus vier Frauen dafür verantwortlich, die Kinder in diesem Teil Kandahars zu impfen. Sie ziehen dafür von Haus zu Haus, klopfen an den Türen und sprechen mit den Müttern, die daheim mit ihren Kindern sind. Immer dabei: eine Kühltasche mit dem Impfstoff und ein großes Buch, in dem akribisch alle Besuche und Impfungen notiert werden.
Shamzia ist jetzt am Ende der Straße angekommen. Frauen wie sie leisten wichtige Arbeit. Sterben doch bis heute Menschen an den Folgen der Kinderlähmung. 2019 gab es in Afghanistan 22 Polio-Fälle und im Nachbarland Pakistan 91. Die Sorge vor neuen Epidemien wächst, vor allem, weil die Taliban wieder stärker geworden sind.
Taliban blockieren fünf Monate lang Impfkampagnen
In Afghanistan kontrollieren ihre Kämpfer laut Experten mittlerweile 60 Prozent des Landes und 40 Prozent der Bevölkerung. Wer in diesen Gebieten lebt, hat in diesem Jahr von April bis September keinen Mitarbeiter von der Weltgesundheitsorganisation und dem Internationalen Roten Kreuz gesehen. Die Taliban haben vollständig den Zutritt verweigert. Den Grund erklärt Zabiullah Mujahid – einer der Taliban-Sprecher:
"Als die WHO in unseren Gebieten arbeitete, mussten wir feststellen, dass die Arbeit einiger Impfhelfer zu Spionagezwecken genutzt wurde. Darum mussten wir einige von ihnen festsetzen. Polio muss besiegt werden und wir unterstützen diesen Kampf. Aber unsere Sorgen müssen berücksichtigt werden, denn die Situation ist nicht normal, unser Land befindet sich im Krieg."
Die Sorgen der Taliban hatten reale Konsequenzen: Wegen des fünfmonatigen Zugangsverbots konnten vor allem im Süden und Osten Afghanistan rund fünf Millionen Kinder nicht gegen Polio geimpft werden, sagen die afghanischen Behörden. Eine schwierige Situation. Sogar für den Taliban-Sprecher. Auch Zabiullah Mujahid glaubt, dass die medizinische Versorgung auf dem Land besser werden muss:
"Die ländlichen Gebiete Afghanistans brauchen mehr Unterstützung, denn die Leute hier kommen nicht in die Städte, wo die medizinische Versorgung besser ist und deshalb gibt es hier mehr Krankheiten."
Die nun gestartete Impfkampagne von UNICEF ist die erste, seit die Taliban das Arbeitsverbot am 25. September nach langen Verhandlungen aufgehoben haben. Heute dürfen in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Helfer zumindest von Moscheen aus die Menschen impfen. 500 Teams wie das von Shamzia sind nun unterwegs. Sie wollen allein in der Provinz Kandahar mehr als 200.000 Kinder erreichen.
Religiöse Ängste verhindern Impfungen
Doch UN-Mitarbeiter kämpfen nicht nur mit den Taliban, sondern auch mit religiösen Ängsten:
"Ein entscheidender Grund die Impfung abzulehnen, ist die Sorge, der Impfstoff sei nicht halal. Ein weiterer Grund sind Verschwörungstheorien. Manche Menschen glauben, der Westen will ihre Kinder sterilisieren. Hochrangige Vertreter des Islam, etwa in Saudi-Arabien oder Ägypten, haben sich wiederholt für Impfungen ausgesprochen. Oft kommt diese Botschaft aber nicht auf der lokalen Ebene an. Dort haben Mullahs großen Einfluss und viele empfehlen, nicht zu impfen."
Die Jordanierin Tamara Abu Sham erforscht im Auftrag der UN lokale Gemeinden und kennt die Sorgen der Menschen. Sie glaubt, dass nur der intensive persönliche Kontakt mit den Müttern vor Ort dazu beitragen kann, religiös begründete Ängste innerhalb der Bevölkerung abzubauen. Und genau wie Taliban-Sprecher Zabiullah Mujahid sieht auch die junge Forscherin Probleme bei der medizinischen Infrastruktur:
"Um die Zahl der Impfgegner zu senken, müssen wir die Bedürfnisse der Gemeinden anerkennen. Bessere medizinische Versorgung, bessere sanitäre Einrichtungen und eine Verknüpfung der Polio-Kampagne mit anderen Entwicklungsprogrammen."
Polio-Betroffener: Als ich Kind war, gab es keine Impfungen
Rund 500 Kilometer nordöstlich von Kandahar, in der Hauptstadt Kabul, sitzt Sayed Hamid Daqiq. Mit den Problemen der Polio-Kampagne konfrontiert, nickt er schweigend. Zuvor hat er mit einem Ruck seine kraftlos baumelnden Beine mit den Händen gegriffen und sie für das Gespräch mühsam über Kreuz auf dem vor ihm stehenden Sessel abgelegt:
"Ich bekam Polio, als ich vier Monate alt war. Meine Mutter rannte von Krankenhaus zu Krankenhaus, aber das Problem war, das es keine Impfung gab. Heute bin ich zur Hälfte gelähmt, ich kann nicht gehen oder stehen. Aber ich kann leben."
Daqiq erkrankte als Kleinkind an der Kinderlähmung. Weder seine verzweifelte Mutter noch die Ärzte konnten etwas tun. Heute arbeitet er als Beamter an der heiklen Überwachung der jüngsten Präsidentschaftswahlen und hat somit das zweifelhafte Glück, acht Leibwächter um sich zu wissen. Starke Hände, die ihn aus dem Bett, in den Rollstuhl, sein Büro und zurück bringen. Daqiq weiß zu schätzen, dass es heute zumindest in der Hauptstadt Kabul kaum noch Polio-Fälle gibt:
"Wenn ein Impfteam an unsere Tür klopft und nach meinen Kindern fragt, bin ich glücklich. Denn als ich ein Kind war, gab es keine Impfung."
Doch Daqiq kennt die Angst vor dem Impfstoff und weiß um die mangelhafte Aufklärung in ländlichen Regionen. Sorgen, die islamische Autoritäten von Ägypten bis Indien mit religiösen Rechtsgutachten nicht zerstreuen können, in denen sie die Medizin loben.
Geistlicher: Polio-Impfstoff enthält nichts Verbotenes
Eine Einschätzung, die auch der afghanische Mufti Ehsanul Haqq Hanafi teilt:
"Der Polio-Impfstoff enthält nichts Verbotenes, mit Blick auf die Scharia. Ich bin deshalb überzeugt, dass er notwendig ist und gebraucht wird."
Hanafi hat für die afghanische Regierung ein religiöses Gutachten erstellt, das die Unbedenklichkeit des Impfstoffs attestiert:
"Geistliche, die den Impfstoff verurteilen, haben ihn nicht genau untersucht und wissen zu wenig. Sie haben sich niemals mit den Spezialisten oder den Impf-Teams zusammengesetzt und diskutiert. Eltern und die Geistlichen sind verantwortlich dafür, dass die Menschen die Bedeutung der Impfung verstehen und die Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Es gibt keinerlei Zweifel an dem Polio-Impfstoff und seinen Bestandteilen."
Dem Mufti ist es wichtig, dass alle Afghanen ein Recht auf Gesundheit haben – egal auf welcher Seite des Krieges sie stehen:
"Jeder Mensch hat das Recht auf medizinische Versorgung, egal ob es um Kinder der Taliban oder des Islamischen Staats geht. Medizin kennt keine Grenzen und dient der Menschheit. Alle Afghanen sind Muslime und Medizin ist wichtig im Islam, denn wenn es uns nicht gut geht, können wir nicht beten."
Afghanistan und Pakistan bilden epidemiologischen Block
Doch die gut gemeinten Worte geistlicher Autoritäten erreichen Menschen auf dem Land nicht immer. Hier in der Krankenstation des kleinen Ortes Spin Boldak, kurz vor der pakistanischen Grenze, wurde gerade der 24-jährige Impfhelfer Lalei behandelt. Sein Hemdkragen ist dunkel von geronnenem Blut. Er berichtet, dass ein Familienvater ihn mit einer Schaufel geschlagen hat, als er an die Tür klopfte und fragte wegen einer Impfung. Als ihm die Flucht gelang, war seine Kopfhaut aufgeplatzt und musste mit mehreren Stichen genäht werden:
"Wir werden öfters beleidigt, besonders von den Familien, die gegen Impfungen sind. Aber wir sind geduldig. Manchmal wird es aber auch gefährlicher."
Während er spricht, ist Laleis Blick stier und seine Hände zittern. Wer in Kandahar, im Süden Afghanistans, gegen Polio kämpft, riskiert mitunter sein Leben. Es ist also ein harter und gefährlicher Job, den Afghanen wie Lalei und Shamzia auf sich nehmen. Und weil auch die Bezahlung oft nur wenige US-Dollar am Tag beträgt, berichten Vertreter der UN, dass sie während der Erntezeit keine Impfkampagnen planen, weil Helfer dann mehr auf dem Feld verdienen als beim Kampf gegen Polio.
Wenige hundert Meter die Hauptstraße Spin Boldaks hinab endet Afghanistan. Am Freundschaftstor überqueren täglich bis zu 30.000 Menschen, darunter 4000 Kinder, die Grenze nach Pakistan. Auf tausenden Kilometern zerteilt die von den Briten gezogene Durand-Linie das Siedlungsgebiet der paschtunischen Bevölkerung.
Für Shamsullah Kakar, Pakistans Polio-Beauftragten für den Bezirk Qilla Abdullah, ist klar, dass Pakistan und Afghanistan einen epidemiologischen Block bilden. Genau wie Taliban, Bauern oder Händler lässt sich auch der Poliovirus von der Grenze nicht aufhalten:
"Man kann die Menschen hier nicht trennen. 70 Prozent der Bevölkerung gehören der gleichen Volksgruppe an."
91 Polio-Fälle wurden bis Dezember in Pakistan gemeldet. Ein rasanter Anstieg im Vergleich zum letzten Jahr. Und so wächst in Afghanistan die Angst, dass Versäumnisse auf pakistanischer Seite die eigenen, kleinen Erfolge bedrohen. Dabei kämpfen beide Länder teilweise mit den gleichen Problemen, wie Kakar berichtet:
"Die Menschen sind oft schlecht gebildet, das ist eine Herausforderung. Aber wir arbeiten daran, wir erklären ihnen die Situation. Die drei Fälle hier in Qilla Abdullah stammen etwa aus einem kleinen Dorf, wo eine Mutter ihr Kind vor uns versteckt hat, weil sie die Impfung ablehnt. Mit solchen Problemen müssen wir uns in Afghanistan und Pakistan herumschlagen."
"Die Leute haben das Ziel aus den Augen verloren"
Lösungen für diese Probleme auf der afghanischen Seite zu finden ist seit wenigen Monaten die Aufgabe von Mohammad Mohamidi. Er ist UNICEFs neuer Afghanistan-Chef im Kampf gegen Polio und soll den Fortschritt der Impfkampagne überwachen. Dabei wendet er ungewöhnliche Methoden an. Völlig überraschend lässt er seinen Fahrer in einem Wohnviertel von Spin Boldak anhalten. Mohamidi springt aus dem gepanzerten Geländewagen und läuft auf ein zufällig ausgewähltes Haus zu. Er klopft, spricht mit den Leuten, gleicht es mit den Notizen der lokalen Impfhelfer ab und seufzt.
"Die Leute hier haben sich daran gewöhnt, zu versagen", sagt er. "Und beinahe scheint es, als würde ihnen das sogar gefallen."
Die Angaben des Familienvaters stimmen nicht mit denen überein, die die Impfhelfer in ihr Protokoll eingetragen haben. Ein Teil des Problems: Trotz hunderter Millionen Euro und Jahrzehnten der Arbeit vor Ort ist Polio in Afghanistan weiterhin endemisch. Mohammad Mohamidi meint, dass sich sowohl die Helfer vor Ort als auch die internationale Gemeinschaft mit der Situation arrangiert hätten – und ohne Elan und neue Ideen Jahr für Jahr dieselben ungenügenden Impfkampagnen durchführen:
"Die Leute haben das Ziel aus den Augen verloren. Wenn ich daran denke, wie wir in Somalia und Südsudan gearbeitet haben. Wir hatten nichts. Nicht mal eine Unterkunft, in Zelten haben wir geschlafen. Heute hat das Programm seinen Biss verloren. In Genf, New York oder im Regionalbüro in Amman."
Ohne Plan kein Geld
Eine Kritik, die schwer wiegt: Denn wäre der Kampf gegen Polio ein Krieg, wäre Mohamidi hochdekorierter General. Seit nahezu 30 Jahren jagt der Franzose für UNICEF und die Weltgesundheitsorganisation den Virus. In Somalia, Jemen, Djibouti, Südsudan, Angola, Tschad und Pakistan. Mehr als die Hälfte seines Lebens hat er der Polio gewidmet. Doch Mohamidi ist alarmiert:
"Sicherheit ist keine Ausrede, wir haben Polio in ähnlich unsicheren oder noch schlimmeren Gegenden ausgemerzt. Somalia, Südsudan, Nigeria, Kongo und so weiter. Dort war es überall schwierig."
Und so hat er seine eigene Theorie, warum der Kampf gegen Polio in Afghanistan zu scheitern droht: Die Verantwortlichen auf allen Ebenen hätten sich in den letzten dreißig Jahren schlicht zu gemütlich eingerichtet und es herrsche kein echtes Interesse daran, die Krankheit zu besiegen.
"Um den Kampf gegen Polio aufzunehmen, müssen wir den Geldhahn zudrehen, bis ein Plan auf denn Tisch kommt. Kein Geld mehr, wortwörtlich."
Umgerechnet mehr als 850 Millionen Euro wurden 2018 von der internationalen Gemeinschaft weltweit in den Kampf gegen Polio investiert, rund jeder zehnte Euro davon in Afghanistan. Geld, das nicht nur in Impfstoff und lokale Helfer investiert wird, sondern zu großen Teilen auch in den großen UN-Hilfsapparat, wie Mohamidi kritisiert:
"Wir haben fast 100 Mitarbeiter in Genf – aber dort gibt es überhaupt kein Polio. Hier in Afghanistan haben wir 40 bis 50 Mitarbeiter in Provinzen, in denen es kein Polio gibt. Es gibt poliofreie Länder, die weiterhin Geld bekommen."
Für Mohamidi ist das Verschwendung, denn am eigentliche Problem ändert sich so aus seiner Sicht nichts: Polio ist eine globale Priorität, aber keine afghanische.
"Die meisten Verweigerer lehnen nicht den Impfstoff, sondern das Programm ab. Sie fragen: Warum kommt die Regierung nur, wenn es um Polio geht?"
Gesundheitsbeauftragter: Andere Probleme als Polio
Eine Einschätzung, die Abdul Qayoum Pokhla teilt. Der Gesundheitsbeauftragte von Kandahar kritisiert auch seine eigene Regierung, wenn er sagt, dass die Menschen hier im Süden Afghanistans andere Probleme hätten als Polio, nämlich ein Mangel an Infrastruktur, Bildung und vielem anderen, was ein Staat zunächst bieten sollte:
"Es gibt kein Wasser, keine sicheren Straßen, keine Schulen, keine medizinische Versorgung, keine saubere Umwelt, kein Essen, keine Arbeit. Wenn wir die Krankheit besiegen wollen, brauchen wir ein Polio-Plus-Programm."
Auch Abdul Qayoum Pokhla kämpft seit Jahrzehnten gegen die Kinderlähmung. Lange bevor die internationale Allianz in Afghanistan einmarschierte, orchestrierte er in den 90er-Jahren unter Herrschaft der Taliban hier in Südafghanistan Impfkampagnen:
"Das Programm wurde gestartet, als die Taliban an der Macht waren. Und es war damals sehr erfolgreich. Jetzt sage ich den Taliban, dass es das gleiche Programm ist. Genauso wie wir damals im Militär-Krankenhaus von Kandahar zusammengearbeitet haben. Sie sollten die Neutralität des Programms auch heute anerkennen."
Aber die Taliban und der Krieg sind nicht das Hauptproblem der Impf-Kampagne, meint nicht nur der Gesundheitsbeauftragte Abdul Qayoum Pokhla. Es ist die mangelhafte Versorgung der Menschen hier, die Tatsache, dass Polio nur ein tödliches Problem von vielen ist. Der Virus könne deshalb erst besiegt werden, wenn man die Sorgen der Menschen ernst nimmt und eine medizinische Grundversorgung in der Fläche etabliert. Krankenstationen, die nicht nur gegen Polio impfen sondern auch Hygienemittel verteilen, Medikamente gegen Durchfall bereitstellen und medizinischen Rat geben. Denn die Kinder sterben vor allem an Mangelernährung, Durchfall und Anschlägen. Schrecken, die anders als Polio für viele afghanische Mütter und Väter täglich erfahrbare Realität sind.
Gesundheitsministerium: Das Geld geht an UNICEF und WHO
Wie so viele Orte in Kabul versteckt sich das afghanische Gesundheitsministerium am Ende einer Einbahnstraße hinter hohen Mauern und schweren Panzertoren. Hier ist das Büro des Nationalen Lagezentrums für den Kampf gegen Polio untergebracht. Hedayatullah Stanekzai leitet das Zentrum und empfängt hinter seinem schweren Schreibtisch sitzend. Er teilt die Sorgen des UNICEF-Beauftragten Mohammad Mohamidi, sieht die Verantwortung aber nicht bei der afghanischen Regierung:
"Die Gelder für die Impfungen kommen von der internationalen Gemeinschaft. Aber das Geld bekommt nicht die Regierung Afghanistans, sondern UNICEF und die WHO. Wir leiten das Programm ohne Zugriff auf die Gelder. Und diese UN-Organisationen sind teuer! Die operativen Kosten, die Gehälter für ausländische Mitarbeiter, das Geld muss an die Kinder gehen und nicht in die Büros in Katar und Jordanien."
Kritik, die im UN-Hauptquartier nicht gut ankommt. Dort, tief im Osten Kabuls, ist das Büro von Aboubacar Kampo untergebracht, dem UNICEF-Landeschef Afghanistans. Den Vorwurf aus dem afghanischen Gesundheitsministerium weist er zurück:
"Wenn man sich die Länder anschaut, die Polio als erste besiegt haben, dann stellt man fest, dass die Regierungen dort sehr entschlossen handelten. Wir leiten die Länder ja nicht."
Die Bedürfnisse der Afghanen ernst nehmen
Und so sind sich Regierung und UN zwar einig, dass es dringenden Handlungsbedarf gibt, streiten aber darüber, wer die Verantwortung trägt. UNICEF-Landeschef Kampo glaubt, dass es nur dann besser wird, wenn die Kampagnen die Bedürfnisse der Afghanen auch ernst nehmen:
"Wir können definitiv nicht so weitermachen wie bisher. Das Programm hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren kaum verändert. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Menschen zuhören und uns fragen, was sie wirklich brauchen und wie wir das mit dem Polio-Programm verknüpfen können."
Worte wie Wasser auf die Mühlen von Mohammad Mohamidi. Denn der UNICEF-"General" im Kampf gegen Polio verliert die Geduld und warnt in drastischen Worten:
"Wenn ich Afghanistan und Pakistan ansehe, erwarte ich keine guten Nachrichten. Niemand tut, was nötig wäre, um den Virus zu stoppen. Wir sollten uns um Kandahar nicht kümmern, als ginge es um Polio – sondern um Ebola."
Nach drei Jahrzehnten im Dienst internationaler Hilfsorganisationen ist der Kampf gegen Polio für ihn ein persönlicher geworden. Und Afghanistan seine vielleicht letzte Prüfung.