Politik-Bilanz

Was die EU aus dem Jahr 2016 lernen kann

Statue "Europa" der belgischen Künstlerin May Claerhout vor dem Europäischen Parlament in Brüssel.
Unruhe und Sorge dominierten die EU im Jahr 2016. © picture alliance / Daniel Kalker
Von Almut Möller · 12.12.2016
Die EU-Regierungen sind zerstritten, die gemeinsamen Institutionen überfordert. Die letzten Monate taumelte der Brüsseler Koloss von Krise zu Krise. "Europa ist endgültig im Modus der Selbstbehauptung angekommen. Das kann unerwartete Kräfte freisetzen", kommentiert die Politologin Almut Möller.
Nachlese 2016: Die Europäische Union also weiter im Dauerkrisenmodus. Kurz davor, auseinanderzubrechen. Ungebremste Fliehkräfte. Dämme gebrochen. Die gemeinsame Währung auf Sand gebaut, die Jugend ohne Arbeit, die Werte verraten, Populisten allerorten auf dem Vormarsch. Brexit, dann Grexit, und Frexit? Hand aufs Herz: Wie viel davon kommt Ihnen bekannt vor von dieser Rhetorik der Atemlosigkeit? Der Historiker Philipp Blom schrieb schon 2008 im "Taumelnden Kontinent" über Parallelen zu den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs: "Damals wie heute waren tägliche Gespräche und Presseartikel dominiert von neuen Technologien, von der Globalisierung, von Terrorismus und den Veränderungen im Sozialgefüge; damals wie heute waren die Menschen überwältigt von dem Gefühl, dass sie in einer sich beschleunigenden Welt lebten, die ins Unbekannte raste."

Die Säulen der deutschen Außenpolitik wanken

Der Verlust von Ordnung ist eines der ganz großen Themen des Jahres 2016. Die beiden wichtigsten Säulen deutscher Außenpolitik, die Europäische Union und die transatlantischen Beziehungen, sind innerhalb weniger Monate ins Wanken geraten: durch das britische EU-Referendum, das das Gespenst der Desintegration, der Rückabwicklung der europäischen Integration, ins Leben gerufen hat und durch den Donnerschlag der Wahl eines US-Präsidenten, dessen Unberechenbarkeit schon sprichwörtlich ist, bevor er überhaupt sein Amt angetreten hat.

EU im Zustand der Selbstüberforderung

Im Zuge der epochalen Umbrüche nach 1989 haben Europas Regierungen enorme Energie für die Schaffung einer politischen Union mobilisiert, unter deren Dach sich die Einigung des Kontinents seitdem Schritt für Schritt vollziehen konnte. Ein Vierteljahrhundert später steht die Frage im Raum, ob diese Union noch zusammenzuhalten ist. Was für eine atemberaubende Abwärtsspirale, die sich seit der globalen Bankenkrise und ihren Folgen immer schneller gedreht hat. Rückblickend haben sich die EU-Mitglieder mit der Entscheidung zu Beginn der 90er Jahre, in ihrer Zusammenarbeit weit über den Binnenmarkt hinauszugehen, selbst in einen Zustand der Selbstüberforderung katapultiert.

Systeme müssen nicht mit einem Knall auseinanderfliegen

Strategie der Bundesregierung ist es, in der aktuellen Situation unmissverständlich an der Europäischen Union als wesentlichem Bezugspunkt für die deutsche Politik festzuhalten. Es ist ganz entscheidend für den Fortbestand der Union, dass Deutschland dieses Bekenntnis laut und deutlich formuliert. So sind die jüngsten deutschen Initiativen etwa im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik zu deuten, die Berlin ganz bewusst in den vergangenen Monaten gemeinsam mit Paris in die EU hineingetragen hat. Wer das als Naivität kritisiert – als ob die EU jetzt für Europas Sicherheit sorgen könnte! – hat den wesentlichen Punkt nicht verstanden. Föderale Systeme, wie die EU eines ist, müssen nicht mit einem großen Knall auseinanderfliegen, wenn sie aus der Balance geraten. Das kann auch leise und schleichend dadurch passieren, dass die EU zu einer leeren Hülle wird, weil sich nationalistische Tendenzen verfestigen oder eine dauerhafte Erfahrung von Handlungsblockaden dazu führt, dass Staaten andere Wege der Kooperation suchen.

Politik ist Schönheitswettbewerb

Was die europäische Politik jetzt braucht, ist eine neue Form der Sachlichkeit, die nicht beschönigt, die es den EU-Regierungen aber ermöglicht, aus dem Gefühl des Getrieben-seins auszubrechen. 2016 ist das politisch verfasste Europa endgültig im Modus der Selbstbehauptung angekommen. Das kann unerwartet Kräfte freisetzen. Dazu muss aber mit einem Klischee aufgeräumt werden. Die Europäische Union ist keine Säulenheilige: Hier wird Politik gemacht. Damit gewinnt man keinen Schönheitswettbewerb. Das an sich ist jedoch nicht das Gefährliche. Gefährlich für die Union wird es, wenn sich dauerhaft keine Mehrheiten mehr bilden lassen, um Politik zu gestalten. Dann produziert das EU-System weiter bestenfalls Mittelmaß, und das reicht nicht mehr aus.

Almut Möller ist Politologin und Mitglied des "Think Tanks" European Council on Foreign Relations. Sie leitet dessen Berliner Büro.

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