Politik in der Zwickmühle

Die Lüge ist glaubwürdiger als der Wortbruch

US-Präsident Donald Trump
Warum Donald Trump – der vermutlich größte höchstamtliche Lügner aller Zeiten – aus Sicht vieler Amerikaner trotzdem glaubwürdig ist, erklärt Christian Schüle in seinem Politischen Feuilleton. © AP
Von Christian Schüle · 26.02.2018
Geht es um Glaubwürdigkeit, tun sich Politiker wie Donald Trump paradoxerweise gerade am leichtesten. Nicht die Lüge sei anstößig, sondern der Wortbruch, meint der Essayist Christian Schüle - egal wie krude die Versprechen der Politiker auch seien.
Als Christian Lindner seine FDP aus Jamaika zurückzog, war das einerseits glaubwürdig. Lieber Verzicht als Verschleiß, lieber Prinzipientreue als Koalititonsgemurks. Der Vorwurf der Machtgeilheit um jeden Preis: ausgehebelt. So weit so gut.
Als Lindner seine FDP aus Jamaika zurückzog, war das andererseits unglaubwürdig. Hatte sich die FDP nicht zur Wahl gestellt, um im Namen und im Sinne ihrer Wähler zu regieren und gestalten? Betrieb sie also nicht Etikettenschwindel?

Erfüllung, Erwartung und Enttäuschung

In einer repräsentativen Demokratie erwartet der Bürger von seinen Repräsentanten Eindeutigkeit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, ohne dass er selbst eindeutig, wahrhaftig und ehrlich wäre, weil Eindeutigkeit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit in einer hochkomplexen Lebenswelt mit ständiger Mobilität und Irrationalität gar nicht zu haben sind. Und berechnen wir selbst nicht ständig jeden und alles, erwarten aber von unseren Repräsentanten Aufrichtigkeit, Perfektion und Ritterlichkeit?
Dieses geschlossene System aus Erfüllung, Erwartung und Enttäuschung könnte man das Glaubwürdigkeits-Paradox nennen. Wir leben heute in einer Welt der mehrdeutigen Wirklichkeiten, es ist nicht mehr selbstverständlich, dass jedes Wort von jedem gleich verstanden und interpretiert wird.

Dem Glaubwürdigkeits-Paradox entkommen

Im dauererregten Twitter-Gewitter, angesichts der gnadenlosen Bestrafungstyrannei durch asoziale soziale Netzwerke werden Politiker unablässig beobachtet, be- und verurteilt.
Wer dauernd berechnet wird, wird selbst berechnend. Er taktiert. Resultat der Taktierei ist Nullsummen-Rhetorik. Niemand beherrscht das besser als Angela Merkel. Die Kanzlerin ist Großmeisterin des eigenen Verschwindens bei permanenter Sichtbarkeit. Ihre inhaltsleere Semantik hat kein Glaubwürdigkeitsproblem, weil sie erst gar keine Erwartungen generiert. Sie entkommt dem Glaubwürdigkeits-Paradox, indem ihr Pragmatismus die Wirklichkeit in unübersichtliche Problemparzellen zerlegt und so die Zusammenhänge auflöst.
Martin Schulz hingegen, der eitle Pathos-Rhetoriker, hat sich ein Jahr lang im Mahlstrom des Glaubwürdigkeits-Paradoxons zerreiben lassen und wurde so zum größten, zumindest schnellsten Umfaller und Wortbrecher der jüngeren Geschichte.

Befremdlicher Wandel der politischen Kultur

Geht es um Glaubwürdigkeit, tun sich die Schmuddelkinder unserer Tage am leichtesten. Sie haben insofern eine ständig saubere Weste, als ihre schmutzigen Gedanken auch zum Beschmutzen gedacht sind. Glaubwürdig ist – das ist das Paradoxe am Paradoxon – die AfD. Wer von türkischstämmigen Deutschen als "Kameltreibern" redet, der meint das genau so, auch wenn es in der Türkei gar keine Kamele gibt. Und wenn es verfassungsrechtlich eng wird, rettet man sich mit dem Hinweis: Satire!
Der befremdliche Wandel der politischen Kultur besteht also darin, dass nicht die in die Tat umgesetzte Radikalität einer Lüge anstößig ist, sondern der Wortbruch. Deshalb ist Donald Trump – der vermutlich größte höchstamtliche Lügner aller Zeiten – aus Sicht vieler Amerikaner glaubwürdig. Wir haben neuerdings zu verstehen, dass es nicht mehr um den sittlich korrekten Inhalt einer Aussage geht, sondern um den formalen Akt der Einhaltung - welch kruden Versprechens auch immer.

Es zählen soziale und ethische Konsequenzen

Wer nun, wie etwa der bayerische Bald-Ministerpräsident Markus Söder am vergangenen Aschermittwoch, die Rückkehr zur Glaubwürdigkeit verspricht, ist letztlich unglaubwürdig. Glaubwürdig wäre, nichts zu versprechen, das man nicht halten kann. Vielleicht sollte man künftig nicht die Deckungsgleichheit von Wort und Tat als glaubwürdig bewerten, sondern die sozialen und ethischen Konsequenzen einer Tat als solcher. Dann wäre auch niemand gezwungen, sein Wort zu brechen.

Christian Schüle, 47, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer) sowie "Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben" (edition Körber-Stiftung). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Der Autor Christian Schüle.
© imago / Sven Simon
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