Politik ja, Parteien nein – Warum engagieren sich immer weniger Menschen in Parteien?

Die Volksparteien stecken in einer tiefen Krise: Innerhalb von 30 Jahren hat sich die Mitgliederzahl der SPD von einst mehr als einer Million glatt halbiert, sie verfügte Ende Juni gerade mal über 529.994 Mitglieder. Die CDU, die in den achtziger Jahren noch an die 800.000 Mitglieder verzeichnete, liegt aktuell bei 530.755. Erstmals hat damit die CDU die SPD mit 761 als mitgliederstärkste Partei überholt.
Ein Grund zum Triumph, wie es der CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla bei der Vorstellung der Zahlen glauben machen wollte? "Das ist irgendwie peinlich, denn beide Parteien wetteifern im Schrumpfen", sagt der der Parteienforscher Prof. Dr. Peter Lösche. "Wenn man es realistisch betrachtet, müsste Pofalla eher über die Veränderungen der Volksparteien und des Parteiensystems reden."

Seine Analyse: Den großen Volksparteien liefen seit Jahren die Mitglieder davon, sie seien überaltert, die Basis sterbe weg. Jahr für Jahr verlören allein die Christdemokraten durchschnittlich mehr als 10.000 Mitglieder, Parteinachwuchs rücke nicht im entsprechenden Maß nach. Insgesamt seien von den rund 66 Millionen erwachsenen Deutschen nur noch etwas mehr als 1,4 Millionen in einer politischen Partei engagiert. Die Volksparteien alten Zuschnitts seien ein Auslaufmodell.

Die Gründe, so der emeritierte Politologe der Universität Göttingen, sind vielfältig:

"Wir sind in der Gesellschaft an einem Punkt, dass die Parteien nicht mehr attraktiv sind für viele Menschen. Politik erscheint zu kompliziert, zu komplex, ich scheue mich ein bisschen zu sagen, nicht attraktiv genug. Aber es fehlen auch die Konzepte, mit welchem Schwung zieht man welche Ziele durch? In den 70ern gab es Slogans wie 'Mehr Demokratie wagen', es gab die Ostpolitik in der SPD. Aber auch die CDU konnte noch motivieren und auf jüngere Alterskohorten zurückgreifen. Sie dürfen nicht vergessen, der Marsch durch die Institutionen war auch in der CDU, siehe Biedenkopf oder Kohl."

Heute fehle es an attraktiven, charismatischen Persönlichkeiten wie einst Willy Brandt, die die Menschen mitziehen und überzeugen könnten. So, wie es derzeit auch der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Barack Obama schaffe. Peter Lösche, der die deutsche Parteienlandschaft seit mehr als drei Jahrzehnten beobachtet, möchte aber nicht in das Klagelied über die angebliche Politikverdrossenheit der Menschen einstimmen.

"Die Jüngeren sind durchaus an Politik interessiert, aber ich würde da parteipolitisches Verhalten und politisches Verhalten auseinanderhalten wollen. Sie stehen hinter der Demokratie. Aber sie haben ein anderes Organisationsverhalten, engagieren sich lieber punktuell in Bürgerinitiativen, Nachbarschaftsorganisationen. Sie wollen sich nicht lange binden, wollen nicht die Ochsentour durch die Partei machen, um irgendwann als Funktionär in ein Stadtparlament einzuziehen."

Auch der Berliner SPD-Politiker Swen Schulz sieht den Rückgang der Mitgliederzahlen mit Sorge:

"Wir haben ja nicht nur bei der Mitgliedschaft Probleme, sondern auch beim Wahlverhalten. Die mangelnde Akzeptanz besteht darin, dass wir in erster Linie über Probleme berichten. Die Menschen haben das Gefühl, dass über einen langen Zeitraum alles schlechter geworden ist. Sie holen die Bilder aus den 60er/70er Jahren hervor, wo alles immer besser wurde, eine Rentenerhöhung nach der anderen. Und was haben wir heute davon? Eine enorm hohe Staatsverschuldung. Seit wenigen Jahren sehen wir: So funktioniert das nicht. Natürlich haben wir Fehler in der Vergangenheit gemacht, da will ich die Verantwortung auch gar nicht wegschieben. Aber wenn wir heute über Reformen reden, dann denken die Bürger gleich, 'Oh Gott, wir müssen das Portemonnaie fest zumachen, die gehen uns an das Arbeitslosengeld oder an die Gesundheitsvorsorge."

Der 40-Jährige sitzt seit 2002 im Bundestag. Dass er nicht zu den prominenten Gästen in den politischen Talkshows gehört, stört ihn nicht. Dafür habe er den direkteren Kontakt zu den Bürgern in seinem Wahlkreis, und diese redeten auch Tacheles:

"Die fragen: Was macht ihr eigentlich da? Warum macht ihr all die negativen Sachen? Und all die positiven Sachen, die ich auch als einfache Arbeitsbiene mache, zum Beispiel in der Familien- und Bildungspolitik, die Erfolge, auf die ich auch stolz bin, die kompensieren bei weitem nicht die Dinge, die schlecht laufen. Die Leute sind frustriert von den Teuerungen und das schreckt ab."

Swen Schulz ermutigt die Bürger, sich politisch einzubringen - davon lebe die Demokratie. Meckern reiche nicht aus:

"Was ich nicht mitmache? Dass die Leute auf dem Sofa sitzen und die Arme verschränken und sagen 'So Schulz, nun mach mal'. So geht es nicht, so funktioniert auch Demokratie nicht. Wenn der Eindruck entstehen sollte, dass wir nichts mit den Belangen der Bürger zu tun haben wollen, dann läuft etwas falsch. Aber auch die Leute müssen sich engagieren, mitmachen in Vereinen, Verbänden, Parteien - jeder Einzelne. Nur so kann das System funktionieren, das sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes ausgedacht haben."

"Politik ja, Parteien nein - Warum engagieren sich immer weniger Menschen in Parteien?" Darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit dem Parteienforscher Peter Lösche und dem SPD-Politiker Swen Schulz.


Informationen im Internet unter:
[url=http://www.swen-schulz.de/
title="http://www.swen-schulz.de/
" target="_blank"]http://www.swen-schulz.de/
[/url]
[url=http://www.uni-goettingen.de/de/39429.html
title="http://www.uni-goettingen.de/de/39429.html
" target="_blank"]http://www.uni-goettingen.de/de/39429.html
[/url]