Ampelkoalition in Krisenzeiten

Wo bleibt der versprochene Fortschritt?

Illustration von Autos, die auf einer städtischen Strasse im Stau stehen, darüber eine Ampel.
Der Merkel-Regierung wurde Reformstau vorgeworfen. Aber macht es die Ampel-Koalition zurzeit besser? © imago / Ikon Images / Guido Rosa
Überlegungen von Christian Bergmann |
Seit einem Jahr regieren SPD, Grüne und FDP. Merkel galt als die Krisenkanzlerin, die mehr reagierte als reformierte. Die „Fortschrittskoalition“ wollte es anders machen. Wo steht die Ampelkoaltion jetzt, fragt sich der Politologe Christian Bergmann.
Vielleicht ist einigen der Hörer*innen noch das Titelcover des britischen Nachrichtenmagazins The Economist aus dem Jahr 2021 in Erinnerung. Unter der Überschrift „The mess Merkel leaves behind“ (zu Deutsch: Das Chaos, das Merkel hinterlässt), attestierte das Blatt Deutschland einen fatalen Reformstau und strukturelle Trägheit – sowohl auf wirtschaftlichem als auch auf gesellschaftspolitischem Terrain.
Nun reichen Titelgeschichten von Wochenblättern allein sicherlich nicht dazu aus, eine Gesamtbilanz über den politisch-ökonomischen Status quo einer Volkswirtschaft wie Deutschland zu erstellen. Ein Blick von außen kann jedoch zu Klarheit verhelfen. Der Economist stand damals mit seinen Einschätzungen keineswegs allein. So haben auch weitere internationale Medien wie die Financial Times oder Organisationen wie die OECD wiederholt auf den Reformstau im Land aufmerksam gemacht.

Das Merkel-Versprechen: Macht Euch keine Sorgen!

Passiert ist in den Merkel-Jahren in der Tat herzlich wenig. Von Wahl zu Wahl hat man sich mit dem immer gleichen Versprechen geschleppt, dass alles unter Kontrolle sei und die Bevölkerung keine Sorge vor größeren Reformen haben müsse. Die Reformjahre waren in diesem Storytelling die Schröder-Jahre. Die Merkel-Jahre hingegen sollten von Stabilität und einem gesunden „Wir sind wieder wer“ geprägt sein. Zig Steuermilliarden wurden in ein defektes System gepumpt, das dringend einen Neustart gebraucht hätte. 
Mit dem Wahlversprechen, letzteren endlich in die Tat umzusetzen, wurden die jetzigen Ampelkoalitionäre in die neue Bundesregierung gewählt. Und sie sind ein langes Erbe angetreten: Mangelnde digitale Infrastruktur, ein kaputt gespartes Gesundheitssystem oder der akute Fachkräftemangel – der über die Jahre angehäufte Reformstau macht sich dieser Tage besonders schmerzlich bemerkbar. Auch in Sachen Klimaschutz und erneuerbare Energien gibt es dringenden Nachholbedarf. 

Nicht Neuanfang, sondern ständige Krisenbewältigung

Womit sich die „Fortschrittskoalition” aber nun seit Amtsbeginn konfrontiert sieht, ist Russlands vom Zaun gebrochener Angriffskrieg auf die Ukraine, der die Bundesregierung laufend vor neue Herausforderungen stellt: Energieversorgung, steigende Preise, die Unterstützung der Ukraine. Sowohl der hausgemachte Reformstau, als auch die globalen Krisen erfordern entschlossenes und schnelles Handeln. Das Problem? Klamme Kassen. 
Das erste Regierungsjahr der neuen Koalition wird als das Jahr der bisher zweithöchsten Neuverschuldung im Bundestag in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen. Nun könnte man allein aus volkswirtschaftlicher Sicht frei nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes argumentieren, dass das Investieren in der Krise auch der Weg aus dieser heraus ist.

Fortschritt oder doch eher Stillstand ?

Dennoch bleibt die Frage, wie nachhaltig und strategisch klug ein 100 Milliarden Euro schweres „Sondervermögen” in das Auslaufmodell der jetzigen Bundeswehr ist, wenn zeitgleich viel zu wenig in Klimaschutz, Kitas oder Krankenhäuser investiert werden kann. Aufgrund einer drohenden Rezession wird es auch in Zukunft schwierig bleiben, die finanziellen Mittel in die Hand zu nehmen, die es für die überfälligen Wirtschafts- und Sozialreformen braucht.
Die haushaltspolitische Prioritätensetzung wird mit darüber entscheiden, ob man mit der derzeitigen Koalition einen tatsächlichen Fortschritt, oder doch eher einen Stillstand oder gar Rückschritt assoziiert. Es gilt, erfinderisch und innovativ zu sein – in Deutschland leider nach wie vor ein Fremdwort – und vom Krisen- in den Gestaltungsmodus zu wechseln. Ob das der Ampel gelingt? Aufschluss geben wird uns wohl die Schlagzeile des Economist im Herbst 2025, wenn die nächsten Bundestagswahlen anstehen. 

Christian Bergmann ist Politikwissenschaftler, Publizist und Kurator. Bis Ende 2022 war er Teil der Projektleitung des Zentrums für Kunst und Urbanistik – ZK/U in Berlin, zwischen 2018 und 2020 Politischer Direktor und Co-Geschäftsführer der Suchmaschine für politische Publikationen Paul Open SearchZwischen 2012 und 2016 lebte und arbeitete er in Istanbul, im Sommer 2015 initiierte und kuratierte er in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) in Berlin die Ausstellung “77-13 – Politische Kunst im Widerstand in der Türkei”.

Cristian Bergmann. Ein junger Mann schaut in die Ferne.
© Elisa Georgi
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