Antisemitismus auf der Documenta

"Kunstfreiheit ist kein Freibrief für alles"

11:58 Minuten
Das Baugerüst, auf dem das Bild "People's Justice" des Künstlerkollektivs Taring Padi hing, steht entblößt gegen den Abendhimmel.
Das Baugerüst auf dem das Bild "People's Justice" des Künstlerkollektivs Taring Padi hing. Das Argument der Kunstfreiheit greife nicht, wenn die Würde anderer Menschen verletzt werde, sagt Wolfgang Ullrich. © picture alliance / dpa / Uwe Zucchi
Wolfgang Ullrich im Gespräch mit Vladimir Balzer |
Audio herunterladen
Das umstrittene Bild "People's Justice" ist nach Kritik an seinen antisemitischen Motiven abgebaut worden. Bei der Frage, was Kunst darf, werde der Begriff der Kunstfreiheit oft missverstanden, sagt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich.
Schon Monate vor Beginn der Documenta 15 standen Mitglieder des Kuratorenkollektivs ruangrupa unter Antisemitismusverdacht – und wehrten sich öffentlich. Nun hat die weltweit bedeutendste Kunstschau dennoch ihren handfesten Skandal: Das großflächige Bild "People's Justice" der Künstlergruppe Taring Padi enthält antisemitische Motive und wurde nach öffentlichen Protesten zuerst verhüllt und schließlich komplett abgebaut.

Kunstfreiheit ist ein Rechtsgut wie andere auch

Dadurch sei ein wichtiges Zeichen gesetzt worden, sagt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich. "Kunstfreiheit wird oft als ein Freibrief für alles missverstanden. Sie ist ein Rechtsgut, das mit anderen Rechtsgütern konkurriert. Wenn mit einer Arbeit die Würde oder die Rechte anderer Menschen verletzt werden, dann zieht das Argument Kunstfreiheit nicht mehr."

Der israelische Soziologe Natan Sznaider habe sich bei einer Debatte gegen den Abbau des umstrittenen Bildes ausgesprochen, berichtet Kulturredakteur René Aguigah. Denn wenn man das Bild hängen lasse, könne man die Künstlergruppe Taring Padi einer Diskussion über Antisemitismus aussetzen, meint Sznaider.

Dieser Dialog sei unausweichlich, meint Aguigah . An dem Bild habe sich eine politisch-kulturelle Kontroverse über die Konkurrenzsituation zwischen Holocaust- und Postcolonial Studies entzündet, bei der auch die Frage eine Rolle spiele, wie man Antisemitismus und Rassismus voneinander unterscheide.

Die ursprüngliche Abdeckung des umstrittenen Bildes sei die schlechteste denkbare Idee gewesen, sagt die Kunstwissenschaftlerin Claudia Blümle . Die Praxis der Verhüllung sei mit einer Sakralisierung und damit letztlich einer Aufwertung des Verdeckten verbunden.

Bei der Wahl von ruangrupa zum Kuratorenkollektiv seien die Documenta-Verantwortlichen "neugierig darauf gewesen, einen anderen Blick auf die Welt und auf verschiedene Konflikte und große Themen zu bekommen", sagt Ullrich. Man hätte wissen müssen, dass man vermutlich mit sehr israelkritischen Positionen konfrontiert würde.
"Es ist sehr schade, dass man das im Vorfeld nicht viel offener diskutiert und vielleicht auch vertraglich geregelt hat. Jetzt ist von dieser Debatte alles überlagert und viele andere interessante neue Impulse werden gar nicht wahrgenommen werden."

Politisierung der Kunst nimmt zu

Der Begriff der Kunstfreiheit im Westen sei von der Idee geprägt, dass ein Kunstwerk mehr sei als eine bloße Meinungsäußerung, sondern bestenfalls etwas von übergeordneter Bedeutung, etwas Zeitloses oder Ewiges, sagt Ullrich.

Was auf dieser Documenta ausgestellt wird, sind oft explizit aktivistische Projekte und Werke, die auf die politische Meinungsbildung einwirken und etwas verändern wollen. Dadurch sind sie vom Charakter her viel eher Meinungsäußerungen. Deshalb wäre es angemessener, diese Debatten unter dem Label der Meinungsfreiheit zu führen und nicht unter dem Label der Kunstfreiheit.

Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich

Grundsätzlich sei in der zeitgenössischen Kunst eine starke Politisierung zu beobachten. "Viele Künstler versuchen, die Grenzen des klassischen Kunstraums zu überschreiten, weil sie das Gefühl haben, die Zeiten sind zu ernst und die Probleme zu groß, um sie mit klassischen Werkformen angemessen beantworten zu können", sagt Ullrich.

Wird die Kunst zu bekenntnishaft?

Er begrüßt das sehr, auch wenn es bedauerlich sei, wenn dadurch manchmal ästhetische und kunstspezifischen Kriterien zu sehr in den Hintergrund träten und die Kunst etwas Bekenntnishaftes bekomme.
"Die Herausforderung liegt darin, etwas vorzulegen, das kunstspezifischen Kriterien zu genügen vermag und trotzdem aktivistische Energie entfaltet. Wir leben in einer Übergangszeit, in der diese verschiedenen Kriterien gegeneinander verrechnet werden und haben deswegen größere Konflikte im Umgang mit Kunst und ihrer Bewertung als früher."
(rja)
Mehr zum Thema