Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat. Ein Phantomschmerz“ sowie „In der Kampfzone“.
Irrtümer der Politik
Um der zunehmenden Demokratiemüdigkeit zu begegnen, braucht es neue Formen der Repräsentation wie etwa Zukunftsräte, meint Christian Schüle. © IMAGO / IPON
Der Popanz des Wählerwillens
Regierungskoalitionen sind geborene Kompromissmaschinen. Aber warum deklarieren sich darin immer alle Beteiligten als Sieger? Weil sie sich an einen vermeintlichen Wählerwillen klammern, den es gar nicht gibt, meint der Publizist Christian Schüle.
Ist Ihnen auch schon einmal aufgefallen, dass Politiker oder Berichterstatter mantraartig von „Siegern“ und „Verlierern“ reden, wenn sie Politik beurteilen? Als ob es darum ginge! Die Idee von Politik als Sieg oder Niederlage produzierendem Wettkampf führt in einen Verhängniszusammenhang hinein, der völlig falsche Prioritäten aufruft.
Der Kanzler zum Beispiel ist ja kein Bundestrainer – und wurde kürzlich dennoch zum Sieger erklärt, Sie erinnern sich: Flugs tauchte er aus der Selbstversenkung auf, brach sein mönchisches Schweigegelübde, sprach sogleich ein Machtwort zur kurzzeitigen Verlängerung der Atomkraftwerke, und siehe da: Dieser eher zarte Mann, der gern mal die „Bazooka“ zückt und „Doppelwummse“ abfeuert, war kein zaudernder Weichling mehr, sondern ein grimmiger Entscheider. Bastascholz statt Scholzomat!
Sieger, Sieger, wohin das Auge blickt
Nach des Kanzlers richtlinienkompetentem Zwangskonsenses erklärten sich dann alle zum Sieger: Die SPD, weil die von ihr geführte Regierung vergessen machte, dass man vorher schlecht gearbeitet und nicht vorausschauend moderiert hatte. Die FDP, die gesiegt zu haben meinte, obwohl ihre Position am weitesten vom Machtwort entfernt liegt; und schließlich die Grünen, die den für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft so wichtigen und guten Kompromiss in einen Sieg zu konvertieren bemühen, obwohl sie vorher genau das Gegenteil gewollt hatten.
Und sofort zückten die Kommentatoren und Leitartikler die Notentafel, kultivierten Eklatverdacht und witterten das Ampel-Ende, und alle spekulierten höchst munter in der Gegend herum, wer denn nun gegen wen gewonnen und wer ein bisschen weniger verloren habe.
Was soll das?
Den Rousseau'schen Allgemeinwillen gibt es nicht
Jeder vernünftige Mensch konnte doch sehen, was hier gespielt wurde. Für wie infantil halten Parteien und Medienvertreter den mündigen Bürger? Oder ist es ganz anders, und Politiker berufen sich zwar immer auf "das Volk", empfinden die Bürger aber schlicht als Stopfmasse einer tief verwurzelten Fiktion?
Nach jeder Wahl beruft man sich bekanntlich sofort auf den Willen des Wählers und reduziert somit völlig verschiedene Individuen mit so diversen wie berechtigten Anliegen auf die Konstruktion einer „volonté générale“, diesen diffusen und durchaus gefährlichen Allgemeinwillen also, der 1755 erstmals von Jean-Jacques Rousseau formuliert, immer schon ein Denkfehler war und das liberale dem autoritären Prinzip unterordnete.
"Der Wähler" wolle genau diese Koalition, heißt es sofort, obwohl rein rechnerisch auch drei andere Koalitionen möglich wären. "Der Wähler" habe diesen und jenen Regierungsauftrag an die sich demütig gebenden Politiker vergeben, was er de facto nicht hat, weil es "den Wähler" gar nicht gibt und niemand irgendeinen Auftrag vergab.
Der Bürger sollte mehr gelten als der Wähler
Sehr wohl nun aber gibt es Millionen wählende Individuen, deren Vertrauen jene berühmte Voraussetzung für eine Demokratie ist, die Vertrauen, Engagement und Loyalität selbst weder schaffen noch garantieren kann. Sodann aber wird der Bürger als der Wähler eingemeindet und verschwindet von da an hinter dem Popanz der volonté générale. Das verdrießt zusehends mehr Menschen.
Um der Demokratiemüdigkeit und dem Vertrauensverlust zunehmend erschöpfter und frustrierter Bürger zu begegnen, muss es in einer ausdifferenzierten, von weltanschaulichem Pluralismus geprägten Gesellschaft künftig um neue Formen der Repräsentation, um Kompromiss-Toleranz und kluge Verfahren zur Beteiligung durch Mitsprache gehen. Über Zukunftsräte etwa, die die Gesetzgebung mitvorbereiten und so das Gemeinwohl stärken.
In diesen Zeiten ist die entscheidende Frage ja nicht, welcher Politiker als Sieger oder Verlierer vom Platz geht, sondern warum so viele Mitbürger entweder rechts oder gar nicht wählen – und weshalb vor vier Jahren noch gut ein Viertel der in einer Umfrage befragten Deutschen unter 30 einen “starken Führer“ wollten.