Politikbetrieb

Fliegt doch, ihr politischen Betrüger!

Von Stephan Hebel |
Es wäre falsch, den Politikbetrieb in Bausch und Bogen als Betrugsmanöver zu diffamieren. Doch bei politischen Kerngedanken, die verworfen werden, ist der Bogen laut Journalist und Autor Stephan Hebel tatsächlich überspannt.
Wieder wird ein Wunsch von Angela Merkel wahr: Man wolle jetzt arbeiten, hat sie im Dezember gesagt, als die Große Koalition endlich in Amt und Würden war. Jetzt ist es so weit: Der Bundestag hat seine erste Sitzungswoche im neuen Jahr, und zum ersten Mal seit der Wahl vor fast vier Monaten steht dem Parlament eine aktiv tätige Regierung gegenüber.
Die Opposition im Hohen Haus ist zwar klein. Aber ein zugkräftiges Motto hätten sie schon, die Linken und die Grünen. Nämlich: Wer betrügt, der fliegt.
Der Slogan ist zwar geklaut, ausgerechnet von der Regierungspartei CSU. Aber die hat es anders gemeint. Sie sprach nicht von Wahlbetrug.
Wer betrügt, der fliegt: So, wie er zum Jahreswechsel in die Welt kam, diente der Spruch dem Seehoferschen Salonrassismus, der populistischen Bedienung von Angst- und Abwehrgefühlen gegenüber zuwandernden Bulgaren und Rumänen.
Schon gleich, nachdem die Parole bekannt geworden war, zeigte vor allem die Twittergemeinde, dass man damit auch Sinnvolles anfangen kann. Schnell war der Satz "Wer betrügt, der fliegt" in die Fotografien bayerischer Spezis montiert: Seehofer, bekennender Vater eines außerehelichen Kindes, im Flugzeug. Uli Hoeneß, bekennender Steuerbetrüger, an der Gangway. Und dazu der eine oder andere Abgeordnete des bayerischen Landtags, der auf Staatskosten einen Verwandten beschäftigt hat. Ganz legal, wie man in Bayern gern hinterher bescheinigt.
Das waren diejenigen Fälle, in denen ein bestimmtes Opfer auszumachen war, sei es die Ehefrau, der Fiskus oder der Freistaat Bayern. So richtig ergiebig aber wird es, wenn man die Maßgabe "Wer betrügt, der fliegt" auf eine politische Deliktgruppe ausdehnt, die landläufig "Wahlbetrug" heißt. Dann nämlich hat das Opfer einen anderen Namen: Demokratie.
Aufgabe von zentralen Überzeugungen
Die Flugbereitschaft hätte gut zu tun, ginge es bei der Bekämpfung des politischen Betrugs mit rechten Dingen zu. Hier nur drei von vielen Beispielen: Da ist eine Bundeskanzlerin, die kurz vor der Wahl versprach, Horst Seehofers Pkw-Maut werde mit ihr nicht gemacht. Da ist ein SPD-Vorsitzender, der seiner Basis den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn versprach. Und da ist eine CDU/CSU, die genau diesen gesetzlichen Mindestlohn verdammte. Und da ist eine SPD-Vizechefin namens Manuela Schwesig, die gelobte, die fragwürdige Daheimbleibe-Prämie namens Betreuungsgeld so schnell wie möglich zu streichen.
Auf der anderen Seite steht die Wirklichkeit dieser Großen Koalition. Längst ist die seltsame Autobahngebühr für Ausländer in Arbeit. Längst ist klar, dass der gesetzliche Mindestlohn zwar kommt, aber mit Jahren Verspätung und mit Ausnahmen in noch unbekanntem Ausmaß. Und längst verwaltet Manuela Schwesig, jetzt Familienministerin, das Betreuungsgeld, das sie einst bekämpfte. Aber fliegen werden sie alle nicht, jedenfalls nicht aus irgendwelchen Ämtern.
Es gibt in Politik und Medien viele Stimmen, die all das für das übliche Geschäft des politischen Alltags halten. Und es stimmt ja auch: Kompromisse gehören dazu. Es wäre darum falsch, den Politikbetrieb in Bausch und Bogen als Betrugsmanöver zu diffamieren, wie es manch ein frustrierter Wähler tut.
Aber wir reden hier von Themen, die uns im Wahlkampf so verkauft wurden, als seien sie Kerngedanken dieser oder jener Partei, die sich nicht aufgeben ließen, ohne die politische Haltung insgesamt zu verlieren. Als ginge man lieber in die Opposition, als unter Verzicht auf zentrale Überzeugungen zu regieren.
Hier liegt er, der politische Betrug: Für den Lohn der Regierungsbeteiligung bringen Politiker die Wählerinnen und Wähler um vieles von dem, womit sie vor der Wahl warben. Und davon lenken sie ab, indem sie mit Leidenschaft über die Abwehr der Zuwanderer von den armen Rändern Europas diskutieren. Das ist er, der Betrug. Aber keiner fliegt.
Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig. Zum Bundestagswahlkampf 2013 schrieb er das Buch: "Mutter Blamage. Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht" (Westend Verlag).
Stephan Hebel, freier Autor
Stephan Hebel, freier Autor© Frankfurter Rundschau