Politiker-Selfie

Ein Gegenbild zur Großen Koalition

10:23 Minuten
Volker Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck stehen nebeneinander und schauen alle in die Smartphone-Kamera
Ein gelungener Coup: Volker Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck wissen, wie sie das Netz und die Öffentlichkeit erreichen können. © Volker Wissing / Instagram
Daniel Hornuff im Gespräch mit Christine Watty |
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Freunde wollen sie sein und mitregieren: Dafür haben sich Grüne und FDP getroffen. Die Öffentlichkeit erfuhr davon über die Posts der Beteiligten auf Instagram. Das Selfie wurde so zum popkulturellen Phänomen. Doch es sagt noch mehr aus.
Es gibt einen neuen Internethit: ein Selfie von einer Politikerin und drei Politikern. Es handelt sich um die beiden Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck sowie die FDP-Vertreter Christian Lindner und Volker Wissing. Sie trafen sich am Dienstag, um die Beteiligung ihre Parteien an der kommenden Bundesregierung zu besprechen.

Steht in Tradition

Veröffentlicht wurde das Bild auf den Instagram-Accounts der Beteiligten. Die Medien hierzulande griffen es gern auf, als wäre es das Erste dieser Art im Politikbetrieb. Dies sei bei Weitem nicht so, erläutert der Kulturwissenschaftler Daniel Hornuff. Vielmehr gliedere sich das Bild in eine "Selfie-Tradition" von Politikern ein.
Mit dem Foto sei den Vieren "ein Coup gelungen", findet Hornuff. Ohne ein offizielles Pressestatement vorgelegt zu haben, wurde die Öffentlichkeit so über das Treffen informiert. "Das ist sehr prägnant und die erhoffte Wirkung wurde auch erzielt", urteilt Hornuff.
Das Interessante sei zudem, dass das Bild auf den jeweiligen Accounts unterschiedlich präsentiert werde, indem andere Filter darübergelegt wurden. Damit werde versucht, dem Foto eine persönliche Note zu geben.
Außerdem könne das Selfie – manche sprechen auch von Ussie, weil mehrere Menschen darauf sind – auch als Gegenbild der Ikonografie der Großen Koalition verstehen, erläutert Hornuff: "Man versucht, dem neuen Schwung, der in die Koalition kommen soll, ästhetischen Ausdruck zu verleihen."
Hinzu komme, dass das Foto als Gegenbild zu dem Posten- und Machtchaos der Unionsparteien gelesen werden kann, so der Kulturwissenschaftler. "Denn das Selfie zielt ganz erkennbar darauf ab, ein Signal von Einigkeit zu kommunizieren."

Vorgetäuschte Nähe

Dies sei auch im Bildinhalt abzulesen, der nicht repräsentativ sei, sondern wie in einer Privatwohnung aufgenommen wirke. "Es wird versucht, eine andere Intimität der politischen Gespräche zu kommunizieren", sagt Hornuff. Vielleicht solle sogar "eine neue politische Kultur" eingeführt werden.
Doch genau diese zur Schau gestellte Intimität kritisiert die Politikwissenschaftlerin Jagoda Marinic im Gespräch [AUDIO] . Die Politik müsse aufpassen, nicht die Popkultur und Leichtigkeit von Aktivist*innen zu simulieren – also nicht nachahmen, was die Erfolge von Fridays for Future und vielen jungen Menschen ausmacht. "Wie Eltern, die jetzt auch auf Facebook gehen. Das Selfie täuscht Nähe, Unmittelbarkeit und Intimitäten vor. Das sind alles Dinge, die uns diese Politik nicht geben wird."
Politik müsse etwas Professionelles haben, besonders bei Sondierungsgesprächen zweier Parteien mit Machtanspruch, die dabei Inhalte fördern wollten, die im Leben der Menschen große Auswirkungen haben würden.
Jugendliche dürften nicht "mit leichten Bildern abgespeist werden". Sie bräuchten ein Zeichen, dass sie ernst genommen würden, so Marinic. "Wir sind diesen Leuten auf diese Art nicht nah. Inszeniert bitte eine Nähe, wie wir sie kennen."

Abwandlung von Nutzerinnen

Nicht nur das Selfie-Viererbild werde nun etwa als Meme verändert durch das Netz gereicht, sagt der Kulturwissenschaftler Daniel Hornuff. Auch der dazugehörige dreizeilige Begleittext erfährt durch andere Internetnutzerinnen und -nutzer vielfältige Abwandlungen.
"Das zeigt, dass solche Bilder nicht mehr eins zu eins genommen werden, sondern Anlass bieten, weiterverarbeitet, für eigene ästhetische Ehrgeize gebraucht und Bestandteil einer eigenen diversen und popkulturellen Kommunikation zu werden", sagt Hornuff.
(rzr/mle)
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