Politiker und ihre Ausreden

Sorry, es war frei von der Leber weg

EU-Kommissar Günther Oettinger
EU-Kommissar Günther Oettinger © dpa / picture alliance / Patrick Seeger
Von Stephan Hebel |
Wer sich entschuldigt, räumt eine Verfehlung ein und bittet um Vergebung – im günstigsten Fall versichert er glaubhaft, es nie wieder tun. Doch in der Politik und der öffentlichen Diskussion hat sich eine andere Art von Entschuldigung etabliert.
Gleich zu Beginn ein kleiner Hinweis: Sollte dieser Text irgendjemanden beleidigen, diffamieren oder diskriminieren – kein Problem. Melden Sie sich, wir entschuldigen uns sofort. Wir werden Sie dann damit trösten, dass wir halt frei von der Leber weg geredet oder es nicht so gemeint haben oder einfach keine Ahnung hatten, worum es geht. Damit ist die Sache erledigt, und wir machen weiter wie bisher. Bis zum nächsten Mal.
Ja, so geht das heute, vor allem dort, wo sich Konservatismus und Rechtspopulismus zu überschneiden pflegen. Um nur drei Vorbilder für die Kultur des Tabubruchs mit eingebauter Distanzierung zu nennen: Günther Oettinger, Donald Trump und Alexander Gauland. Beatrix von Storch, die AfD-Politikerin, ließe sich auch noch nennen, aber die zählt nicht ganz, denn sie hat sich ja von der Forderung, auf Flüchtlinge zu schießen, nur halb distanziert. Kinder will sie leben lassen.
Der Trick im modernen Entschuldigungswesen ist ganz einfach: Erst lässt man den rassistischen oder sexistischen Ressentiments, die einem so durchs Gehirn vagabundieren, ein bisschen freien Lauf und haut auf die Pauke. Jérôme Boateng? Guter Kicker vielleicht, sagt Gauland, der AfD-Mann, aber halt schwarz. Wer will so einen schon zum Nachbarn haben.
Frauen? Kann ich alle haben, sagt Trump, ich mache sie an, und sie lassen es geschehen.
Chinesen? Na ja, Schlitzaugen, sagt der EU-Kommissar, und Schlitzohren noch dazu. Und bald kommt wohl noch die Pflicht-Homoehe, fährt der CDU-Mann fort: Schlimm, schlimm!

Anbiederung und Distanzierung

Es folgt, was folgen muss: Empörung. Sie ist absolut berechtigt, noch sind Rassismus und Sexismus in der politischen Debatte ja eigentlich tabu. Aber die öffentliche Erregung sorgt eben auch dafür, dass die Botschaft ein großes Publikum erreicht. Und damit auch ihr Ziel: die Anbiederung an eine Klientel, die für diskriminierendes Gedankengut empfänglich ist.
Aber jetzt ist da natürlich noch der Teil der Gesellschaft, der es nicht ganz so deftig mag oder gar der politischen Korrektheit anhängt. Was man zwar verachtet, aber man will ja auch als seriöser Politiker anerkannt werden. Also, es hilft nichts: Eine Entschuldigung muss her, zumindest eine distanzierende Erklärung. Die Rassisten und Sexisten werden das nicht übelnehmen, sie haben die eigentliche Botschaft gehört und sind zufrieden.
Jetzt fehlt es nur noch an der passenden Entschuldigungs- oder Rechtfertigungsmethodik für das seriöse Publikum. Gauland sagt, er kenne Boateng ja gar nicht und käme schon deshalb nicht "auf die Idee, ihn als Persönlichkeit abzuwerten". Das klingt zwar, als wollte sich einer damit entlasten, dass er nicht einen bestimmten Schwarzen beleidigt hat, sondern alle – aber egal, Distanzierung ist Distanzierung.
Trump dagegen plädiert auf Persönlichkeitsspaltung: "Jeder, der mich kennt, weiß, dass diese Worte nicht wiedergeben, wer ich bin." Egal, als Qualifikation für das wichtigste Amt auf Erden reicht das allemal.

Nachdenken? Erst nach der Rede

Die mit Abstand schönste Entschuldigung aber kommt von Günther Oettinger. Sie hat zwei Kernsätze. Erstens: Er habe "frei von der Leber weg" gesprochen, "as we say in German", wie es in der auf Englisch verfassten Erklärung heißt. Das ist ein beachtlicher Hinweis.
Denn landläufig geht man davon aus, dass derjenige, der frei von der Leber weg redet, genau das sagt, was er eigentlich denkt. Wenn das so ist, lautet die Entschuldigung im Klartext: Sorry, dass ich Chinesen und Schwule beleidigt habe. Es war ja nur, weil ich in Wirklichkeit so denke.
Oettingers zweitschönster Satz steht ganz am Anfang: "Ich hatte Zeit, über meine Rede nachzudenken." Hinzufügen muss man: leider erst hinterher.
Dazu nur folgendes, für alle, die sich von diesem Beitrag gestört fühlen könnten: Wie gesagt, melden Sie sich! Wir denken dann nach, sobald wir Zeit dafür finden.

Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig. Bücher: "Mutter Blamage. Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht" (Westend Verlag 2013), "Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen" (Westend Verlag 2014) sowie mit Gregor Gysi: "Ausstieg links? Eine Bilanz" (Westend Verlag 2015).

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