Susanne Gaschke ist Journalistin und Publizistin. Sie war lange Jahre Redakteurin der Wochenzeitung "Die Zeit". Heute schreibt sie für "Die Welt" und die "Welt am Sonntag". In ihrem 2014 erschienen Buch "Volles Risiko. Was es bedeutet, in die Politik zu gehen" hat sie ihre Erfahrungen als Kieler Oberbürgermeisterin dargestellt.
Wer Umfragen ignoriert, fährt besser
Wenn Politiker ständig auf Umfragewerte starren, führt das bloß zu hektischem Opportunismus, meint die Journalistin Susanne Gaschke. Vom Wähler werde das nicht honoriert. Bestes Beispiel: die immer nervöser werdende CSU.
Politiker stehen heutzutage unter Dauerbeobachtung: Keine Podiumsdiskussion, kein Grußwort oder Bürgergespräch, die nicht gefilmt und ins Netz gestellt würden – oder zumindest ins Netz gestellt werden könnten. Authentisches, ungeschütztes Auftreten, lockeres Reden in einer konkreten Situation mit einem konkreten Publikum wird dadurch fast unmöglich.
Hohe Klickzahlen bringen nur Aufregerthemen
Darüber hinaus folgen natürlich die Medien ihrer eigenen Logik – und die ist immer stärker bestimmt durch Zeitdruck, Quotendruck und die Suche nach Aufregerthemen, die im Internet gut "klicken". Das Interesse der Journalisten läuft deshalb häufig dem Interesse der Politiker zuwider: Der Journalist möchte möglichst stark zuspitzen, der Minister viel lieber differenzieren. Die Lokalredakteurin braucht das Statement sofort, der Oberbürgermeister möchte sich erst ein umfassendes Lagebild machen. Die Redaktion ist begeistert von der scharfen Formulierung im Interview – der Abgeordnete denkt an den Ärger, den diese Formulierung bei den Parteifreunden auslösen wird, und streicht sie lieber wieder. So sorgen auch die Medien dafür, dass wir die Äußerungen vieler Profi-Politiker als nichtssagend, apparatschikhaft und unecht empfinden.
Beängstigende Zunahme an Meinungsumfragen
Hinzu kommt: Die Anzahl der Meinungsumfragen und Stimmungsbilder hat in beinahe beängstigender Form zugenommen. Dabei sind weniger die Untersuchungen der seriösen Institute wie Forsa, Allensbach, Infratest Dimap oder der Forschungsgruppe Wahlen das Problem, die allesamt mit nachvollziehbaren repräsentativen Verfahren arbeiten. Bedenklich sind hingegen die schwer in Mode gekommenen Online-Befragungen oder Leser- und Zuschauer-Abstimmungen. Und zwar, weil die befragte Klientel hier eben nicht repräsentativ bestimmt wird, sondern sich selbst auswählt. Deshalb liefern solche Befragungen grob verzerrte Ergebnisse – besonders stark Interessierte beteiligen sich eben auch besonders eifrig.
Kein hektischer Aktionismus nach schlechten Umfragen
Selbst die Erhebungen der seriösen Meinungsforscher sind, das wird gern missverstanden, keine Prognosen, keine Voraussagen, sondern Momentaufnahmen, Blicke in die aktuelle Stimmung. Natürlich können auch solche Momentaufnahmen politische Wirkung entfalten: Eine schwächelnde Partei bekommt vielleicht ein paar Mitleids-Stimmen; manche Wähler schlagen sich vielleicht auf die Seite der vermeintlichen Sieger oder bleiben bei der Wahl zu Hause, wenn sie ihre Kandidaten für chancenlos halten. Zur Medienkompetenz eines mündigen Bürgers gehört es heute eben auch, sich Rechenschaft darüber abzulegen, welche Faktoren die eigenen Entscheidungen beeinflussen. Die Politiker, die ohnehin auf breiter Front mit einem Authentizitätsdefizit zu kämpfen haben, täten allerdings gut daran, sich von Umfragen nicht zu hektischem Opportunismus verleiten zu lassen. Das beste Beispiel dafür, wie Umfragenpanik in die Irre führen kann, gibt derzeit die immer nervöser werdende CSU ab. Es scheint, als löse gerade das Starren auf die Umfragewerte bei Seehofer, Söder und Co. jene Fahrigkeit aus, die die Wähler, und zwar selbst die Treuesten, noch weiter entfremdet.
Besonders beliebt: Politiker mit langfristiger Glaubwürdigkeit
Wer in sich ruht, wer von seiner eigenen Politik wirklich überzeugt ist, der darf nicht den Eindruck vermitteln, sich vom neuesten Politbarometer gehetzt zu fühlen. Und deshalb mag es kein Zufall sein, dass mit Winfried Kretschmann und Daniel Günther gegenwärtig zwei Ministerpräsidenten am beliebtesten sind, die mit einer ruhigen, klaren und kaum wetterwendischen Ausstrahlung zu verstehen geben, dass sie weniger an ihrem aktuellen Tagesranking interessiert sind als an langfristiger Glaubwürdigkeit. Vielleicht kann man es so formulieren: Das Ignorieren von Umfragen hilft enorm dabei, in Umfragen nach vorne zu kommen. Und vielleicht punktet beim Publikum in Zukunft vor allem derjenige, der sich der üblichen Medienlogik von Geschwindigkeit, Vereinfachung und Zuspitzung tapfer widersetzt. Für uns Journalisten wäre das nicht einfach. Aber interessant.