"Protektionismus ist die moderne Form des Neandertalertums"
Nationalistische Bewegungen sind weltweit für immer mehr Menschen attraktiv. Einen der Gründe dafür sieht Sylke Tempel, Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik", in dem menschlichen Impuls, sich vor Konkurrenz zu schützen.
Deutschlandradio Kultur: Zwei Weltkriege haben die Menschen gelehrt, dass Nationalismus und Chauvinismus ins Verderben führen. Das Ergebnis dieses Lernprozesses sind zum Beispiel die Vereinten Nationen oder auch die Europäische Union. Kooperation, nicht Konfrontation war ja das Ziel, also Zusammenarbeit, um den Frieden zu bewahren und den Wohlstand aller zu mehren.
Klingt fast schon wie Märchen aus vergangenen Zeiten, denn die nationalistischen Bewegungen sind auf dem Vormarsch. Das sehen wir am Votum der Briten für den Brexit, das sehen wir an Donald Trump und seinem Slogan America first, an den Erfolgen von Geert Wilders, Marine Le Pen, Viktor Orban usw. usw.
Und diese Internationale der Nationalisten ist heute unser Thema in Tacheles mit Sylke Tempel, der Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik. Ich freue mich, dass Sie zu uns ins Funkhaus gekommen sind.
Sylke Tempel: Ich freue mich, dass ich da sein darf.
"Wiederkehrendes Phänomen"
Deutschlandradio Kultur: Man muss natürlich vorweg schalten, dass der Nationalismus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ausgestorben war. Man denke nur an den Jugoslawienkrieg, aber ich habe so den Eindruck, dass diese internationale Ausbreitung eines aggressiven Nationalismus in der westlichen Welt doch ein relativ neues Phänomen ist, oder, Frau Tempel?
Sylke Tempel: Das ist ein wiederkehrendes Phänomen. Das haben wir eigentlich immer mal wieder gehabt seit wir das haben, was wir die Moderne nennen – mit all den Brüchen, die wir seither haben, indem wir abstrakter geworden sind, indem wir größere Verbände gebildet haben, in denen Nationalismus für die Staatenbildung eine Rolle gespielt haben. Und wir haben halt so gedacht, wer auch immer jetzt wir ist, dass das tatsächlich aussortiert worden ist, weil wir sagen, es gehört ja so zum Credo mit dazu: Wir können eigentlich kein großes Problem mehr alleine lösen, wir brauchen die Zusammenarbeit, wir brauchen die Kooperation. Und das ist ja alles auch faktisch richtig. Aber es erwacht was wieder. Und ich glaube, da muss man eine Unterscheidung treffen.
Erstens, ich gehöre zu denen, die Patriotismus völlig in Ordnung finden. Ich finde übrigens auch deutschen Patriotismus völlig in Ordnung. Ich finde, man kann mal sagen, wir haben ein paar Sachen hingekriegt, die sind gar nicht schlecht. Also, wenn man das mag, was man um sich herum hat, Habermas hat das mal so trocken als "Verfassungspatriotismus" bezeichnet, dann ist es im Grunde genommen eine Idee, nämlich die Idee, dass wir hier eine politische Ordnung haben, die es ermöglicht, Leuten Zugang zu verschaffen und sie als gleichberechtigt anzuerkennen, die nicht aus den gleichen germanischen Tümpeln erwachsen sind wie der sogenannte Bio-Deutsche. Das finde ich ein fantastisch schönes Konzept. Das ist ja das Universelle an der Geschichte.
Und jetzt sehen wir eigentlich eine Kriegserklärung an diese Art von Universalismus, die ja eigentlich auch so eine Kriegserklärung ist an komplexe Dinge, an Abstraktion.
Frankreich will einfach wieder nur Frankreich sein und gar nicht so sehr aufgehen in irgendwas anderem, schon gar nicht in der Europäischen Union. Es möchte wieder eine Überschaubarkeit haben, also nicht ganz Frankreich, sondern zumindest die Marine-Le-Pen-Anhänger, die vielleicht gerade 25 Prozent ausmachen, sehr viel, aber es ist mal nur ein Viertel. Alle anderen denken anders.
Trump möchte ein Amerika, das groß ist. Und unter groß versteht er unabhängig. Unter groß versteht er: Wir alleine gegen den Rest der Welt. Unter groß und erfolgreich versteht er: Das können wir nicht mit anderen sein, das können wir nur aus uns selber. – Das ist eigentlich der Nationalismus.
Und der ist dazu gedacht, so was Ähnliches - was ja eigentlich ein absurdes Unterfangen ist in einer Welt, die immer komplexer wird -, so was Ähnliches wie eine Überschaubarkeit in der eigenen Welt wieder herzustellen, wo wir sagen: Ich kenne die Leute mehr oder weniger. Die sind in etwa so wie ich. Und so möchte ich das auch. Und die sollen auch diejenigen sein, die das bestimmen. Und ich möchte diese ganze Komplexität der äußeren Welt eigentlich nicht haben. Und wir müssen uns wieder auf uns konzentrieren.
Wunsch nach "neuer Überschaubarkeit"
Deutschlandradio Kultur: Also, diese Abschottung nach innen und dann nach außen die Mauern hoch, die Grenzen hoch. Der Philosoph Boris Groys meint ja, in dem Brexit wie auch eben in Donald Trumps Wahlsieg zu erkennen, dass wir eine Rückkehr des Territorialen erleben, also im Gegensatz zum 20. Jahrhundert. Das, sagt er, das war eine Zeit zunehmender "Deterritorialisierung". Ich habe das für mich übersetzt: Grenzen, die langsam durchlässig werden, sich mit der Zeit auflösen. Das sehen wir in der Europäischen Union. Das sehen wir an anderen Freihandelszonen eben auch.
Und diese Zeiten scheinen ja nach Ansicht vieler, auf jeden Fall werden es immer mehr, vorbei zu sein. Jetzt heißt es eben wieder: Eine Nation braucht auch eine Scholle, die eigene. – Und das ist ja doch nochmal was ganz anderes als ein Verfassungspatriotismus.
Sylke Tempel: Natürlich ist es was ganz anderes, weil es im Grunde genommen schon in die Richtung geht - ich weiß gar nicht, ob man’s unbedingt an die Scholle binden muss, das stimmt schon auch, aber zumal im deutschen Kontext sind wir dann immer ganz immer ganz nah beim Nationalsozialismus, und da will ich das alles noch nicht hinstellen, obwohl in den populistischen Bewegungen wirklich unglaublich viele rassistische, antisemitische, rechtsradikale Teile mit dabei sind. Aber da sind auch ein paar Teile dabei, die etwas wollen, was ich einfach nennen würde: eine neue Überschaubarkeit, also eine Einheit, die sie als zugänglich empfinden, von der sie glauben, dass sie sie noch kennen.
Also, wenn man genau hinhört, sagen ja viele: Ich lebe in einer Gesellschaft, die erkenne ich nicht so wieder. Oder: Ihr Linken seid total abgekoppelt von uns. Ihr lebt ein ganz anderes Leben. Ihr seid irgendwo diese globale Rumhopser-Elite, die da von Flughafen zu Flughafen – es ist ja wurscht, ob die in Frankfurt oder in Miami oder in sonst wo ist. Die gehen alle in die gleichen Läden, die trinken ihren Latte Macchiato und so.
Na, ganz so einfach ist es ja auch nicht! Wir müssen uns ja auch immerzu orientieren.
Aber was da kommt, ist eigentlich diese Überschaubarkeit, die sagt, ich möchte was Wiedererkennbares haben. Und dieses Wiedererkennbare ist halt sehr klein definiert, glaube ich. Und ich glaube auch, das ist nicht machbar.
"Was man als überschaubar definiert, ist sehr, sehr, sehr klein"
Deutschlandradio Kultur: Ja, aber das ist ja auch noch ein anderer Impetus. Also, ich verstehe auch nicht so wirklich, warum auch die Freude und der Stolz so verloren gegangen sind. Als westdeutsches Nachkriegskind hab ich das erlebt, also, bin in einer Welt groß geworden, wo es im Grunde genommen stetig bergauf ging, also wirtschaftlich sowieso, aber dann eben auch politisch. Dann gab's den Mauerfall, dann gab's den Jubel, der Kalte Krieg war passé. Die Europäische Union konnte sich vor Bewerbern gar nicht retten. Aus früheren Feinden wurden Freunde.
Sylke Tempel: Glaubten wir zumindest.
Deutschlandradio Kultur: Das glaubten wir zumindest, genau. Der Kalte Krieg, na ja, gut, das ist jetzt nicht auch noch unser Thema, kommen wir vielleicht am Rande noch darauf zurück. Und dass ich eine Welt überschaubarer haben möchte, ist ja für Menschen, die sich nicht so gut bewegen können in einer internationalen Welt, verständlich. Aber es gibt ja einerseits einen Reflex, das ist der Rückzug oder auch die Rückbesinnung auf eigene kulturelle Werte oder was weiß ich. Die Iren wollen dann alle wieder Gälisch lernen.
Aber das andere ist ja dieser aggressive Nationalismus, der auch nicht nur Menschen von außen, sondern auch innerhalb der eigenen Grenzen ausgrenzt und sagt: Wir sind das Volk und ihr gehört da nicht dazu.
"Nationalismus wird auf bestimmte Kultur reduziert"
Sylke Tempel: Das meinte ich eben mit: Das, was man als überschaubar definiert, ist wirklich sehr, sehr, sehr klein. Deswegen glaube ich auch, dass es am Ende nicht machbar ist.
Also, man muss doch nur genau hinhören. Für Le Pen ist es vollkommen klar: Wir, das sind wir, die Franzosen, die an die laicité glauben, die sich gegen die Eliten wehren. Und dazu gehören Muslime eigentlich nicht. Und im Grunde konnte sie auch nicht deutlicher sein, als sie jüngst gesagt hat: Ach übrigens, Juden, das mit der doppelten Staatsbürgerschaft mit Israel, das lassen wir mal schön. Also so etwas, dass man mehrere Dinge auf einmal sein kann und trotzdem loyal und im Grunde genommen in diesem Sinne patriotisch, das kommt ihr gar nicht in den Sinn.
Und hier ist es vollkommen klar: Wenn die AfD irgendwie von deutschen Familien spricht, dann kommt sie zwar manchmal ins Stottern, wenn man fragt, was meint ihr denn da ganz genau damit, aber an anderen Ecken sagen sie: Das ist doch klar. Das ist die traditionelle Familie Mann, Frau, Kind, keine Homo-Ehe oder so was Gemeines, möglichst auch keine Alleinerziehenden, klassische Familie - wo ich sage: Hm, aber die kriegen wir offensichtlich alle aber gar nicht mehr so doll hin - plus möglichst weiß und nicht Migranten. – Das ist die Enge, in der das diskutiert wird.
Und was sie halt nicht kapieren, ist: Nationalismus wird dann eben tatsächlich auf eine bestimmte Kultur reduziert, die über Generationen durch eine gemeinsame Geschichte, eigentlich auch durch ein Erbe, das ist ja fast schon eine genetische Angelegenheit, zu dieser Nation gehört.
Dass in einer modernen westlichen Demokratie Patriotismus und die Nation eine Idee ist, dass wir dem zustimmen, dass wir sagen, wir wollen uns gerne so organisieren, dass wir sagen, wer die Verfassung hier respektiert, der gehört mit dazu und es ist völlig wurscht, ob er zu Hause fünfmal gen Mekka betet oder eine Kerze in der katholischen Kirche anzündet oder das alles Budenzauber findet, das kommt bei denen nicht vor. Sondern da kommt ein ganzes Set mit dazu, was mit erfüllt werden muss. Und das ist nicht unsere Idee.
Weniger Arbeitsplätze durch Technologie
Deutschlandradio Kultur: Der frühere Außenminister Joschka Fischer hat natürlich wie alle Menschen mehrere Gründe ausgemacht für diesen Erfolg, also zunehmenden Erfolg der nationalistischen Bewegungen. Er nennt an erster Stelle die Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008, die seiner Ansicht nach mit einiger Berechtigung als ein gigantisches Elitenversagen gesehen wird, und an zweiter Stelle die Angst vor dem und den Fremden.
Sylke Tempel: Ja, aber ich glaube, es kommen noch ein paar Sachen dazu. Ich glaube, er hat nicht Unrecht mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, aber nicht, was ja dann immer genannt wird, weil die Leute so wahnsinnig Angst vor dem sozialen Abstieg haben. Ja, unter den Wählern von Trump, unter den Wählern von Le Pen sind welche, die früher eigentlich zur Linken gehört haben, also, sozusagen der wackere Arbeiter, der echt gelitten hat in den letzten Jahren, und zwar nicht, weil China ihm die Jobs wegnimmt, sondern weil Technologie ihm die Jobs wegnimmt. Und das ist ein Problem, und ich glaube, das wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen. Und es wird nicht einfach sein, Lösungen zu finden. Das hatten wir aber auch schon im Clinton-Wahlkampf und er hat andere Antworten gefunden, nämlich Qualifizierung zum Beispiel.
Das, was – glaube ich – bei der Finanzkrise eine Riesenrolle spielt, ist, dass Leute verstanden haben, dass man Banken retten muss, aber dass sie – finde ich – zurecht nicht mehr verstanden haben, warum dann eigentlich niemals ein Preis für das eigene Versagen bezahlt worden ist.
Unser ganzes System und das, was ich vorhin meinte auch, das Universale daran, das ist ja alles abstrakt im Grunde genommen. Dass unsere repräsentative Demokratie funktioniert, ist eigentlich eine abstrakte Angelegenheit und lebt davon, dass wir eigentlich Vertrauen haben, dass es im Großen und Ganzen schon klappt, dass die uns einen Teil der Arbeit schon abnehmen und dass irgendwie die Leistung und die Fehler mit der Belohnung und der Bestrafung einhergehen. – Tat es aber nicht. Das ist richtig aus den Fugen geraten mit der Finanzkrise, weil, und zu denen gehöre ich, man nicht nachvollziehen kann - ich kann nachvollziehen, dass Banken gerettet werden müssen, weil der Schaden dann noch mehr wäre - aber nicht, dass auch Banker gerettet werden müssen.
Ich finde, zu Verantwortung gehört dann eben tatsächlich auch dieses: Ich muss die Konsequenzen dann tragen. Und wenn das nicht mehr gesehen wird, dann haben wir echt eine richtige Unterminierung.
Abwehrfunktion gegen Wandel
Und das Zweite ist tatsächlich, und das wird schon in den Bereich gehören, was ich meine, dieses Beschränken auf das Tribale, auf so eine Stammesgesellschaft, wo man sagt: lauter Leute, die ihr kennt, die erkennbar sind, die sind doch so wie ich. Eine der großen Klagen der Wähler von Trump war doch immer: Es hat sich so verändert, ich erkenne eure Welt gar nicht mehr. Kann es nicht mehr so sein, wie es früher war, wie ich meine Welt kenne?
Ist nicht! Wir sind in Zeiten, die sich rasant ändern. Und da gibt’s diese Abwehrfunktion. Die ist ganz groß gegen Muslime, aber die wird sich auch gegen andere Gruppen, gegen Linke, gegen Andersdenkende (richten), ich finde auch, man spürt es, es ist ein enorm frauenfeindliches Fundament da in den populistischen Bewegungen, egal, ob sie auch von Frauen geführt werden. Das sind die Abgrenzungen, die wir in der nächsten Zeit sehen werden.
Schauen Sie, wir haben den größten Haushaltsüberschuss seit langem. Unsere Wirtschaft ist eigentlich völlig in Ordnung. Wir haben ein Wachstum, was in Europa wirklich ganz gut ist. Das ist kein Dauerzustand, das muss man sich immer wieder erarbeiten, es gibt keine Garantie da drauf. Wir haben die geringste Jugendarbeitslosigkeit. Wir haben ein Anwachsen gerade unter den Flüchtlingen an Teilnahme, an Integrationskursen. – Wieso - und das, finde ich, müssen sich Nationalisten auch mal fragen - , wieso finden sie aber dann trotzdem, dass sie eine Partei wählen wollen, die – und ich habe mir das Parteiprogramm wirklich genau angeguckt von der AfD - auf keine der komplexen Fragen, die wir gerade haben, es gibt genug Probleme, irgendeine Antwort findet, die ich nachvollziehbar finde?
Deutschlandradio Kultur: Frau Tempel, Sie haben gerade die guten Wirtschaftskenndaten erwähnt, die Deutschland hat, die Niederlande auch, Österreich. Interessanterweise gibt es da offenbar keine Korrelation zwischen diesen Daten, wo man sagt, Leute, euch geht’s doch gut - die Frage ist vielleicht auch, wem geht’s gut -, und dem Zulauf zu populistischen und nationalistischen Bewegungen.
Und in diesem Zusammenhang fand ich eine Beobachtung von Colin Crouch sehr interessant, dem britischen Politologen. Da ging es um den Brexit. Und er erzählte eben, dass der englische Ukip-Chef Nigel Farage in einem Interview konfrontiert worden ist mit den Vorhersagen, dass der Brexit zu einem wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens führen würde, gesagt hat: Geld ist nicht alles, es geht auch um Werte, also um die Werte einer homogenen Nation. Und Colin Crouch meinte, das sei nun eine sehr interessante und ihn vollkommen verblüffende Argumentation. Das stellt die Dinge auf den Kopf. Weil, bisher hat immer die Linke mit den Werten argumentiert – Werte, Menschenrechte einhalten usw. – und die Rechte mit den ökonomischen Vorteilen. Und das scheint sich jetzt zu verkehren.
Was mich auch wieder zu der Frage führt, denken wir jetzt mal an Le Pen, an Wilders, an die AfD, Frauke Petry usw.: Abschottung - und dann? Was für ein Wirtschaftsmodell schwebt diesen Bewegungen eigentlich vor?
Wirtschaftliche Situation erklärt Vorliebe für Populisten nicht
Sylke Tempel: Das möchte ich auch mal gerne wissen. Also, erst einmal glaube ich - das kommt so ein bisschen vor bei Fischer, aber Crouch weist natürlich richtig drauf hin - und das ist der kulturelle Aspekt in der Frage. Warum unterstützt man Nationalisten? Das ist eben der Moment: Ich möchte eine wieder erkennbare, mir ganz, ganz ähnliche Gruppe haben, die mein Team ist. Und die anderen gehören einfach nicht zu meinem Team. Das ist der Kern.
Es gibt dazu auch eine interessante Studie von zwei Harvard-Soziologen. Die sagen: Ja natürlich, die wirtschaftlichen Aspekte mögen eine Rolle spielen. Das ist immer so. Der Begriff Globalisierungsverlierer. Aber wir haben ja eine Menge Leute unter den Wählern von Populisten, die wirtschaftlich überhaupt nicht schlecht dastehen. Da gehört ja auch ein guter Teil Bürgertum mit dazu, die aber der Überzeugung sind, kulturell hat sich was verändert. Und das akzeptieren sie nicht.
Kulturell haben sich unsere Gesellschaften wirklich über die vergangenen 25 Jahre enorm geändert. Für mich ist es fortschrittlich, weil es mehr Gruppen gibt, die mitreden, und zwar von den Journalisten mit den nicht besonders deutsch klingenden Namen, die uns die Welt erklären, über auch andere Migrantengruppen, über Frauen. Und das ist ganz offensichtlich für eine bestimmte Gruppierung nicht so ganz erträglich.
Also die Nigel Farages repräsentieren ja auch eine Truppe, die eigentlich auch mit den soziologischen Veränderungen und der Liberalisierung, die wir gesehen haben über die vergangenen 25 Jahre, nicht zurechtkommen und sie inakzeptabel finden. Also, der kulturelle Faktor ist da.
Was die Wirtschaft betrifft, die Antwort ist ja immer gleich. Sie heißt Protektionismus, Protektionismus, Protektionismus. Das hatten wir in den 20er- und 30er-Jahren. Nicht in dieser Form, denn wir haben ja jetzt wenigstens ein paar internationale Institutionen, vom Internationalen Währungsfonds über die Weltbank, über G20 oder so was, die sich über solche Dinge Gedanken machen. Wir haben noch kein Land gesehen, das davon wirklich profitiert hat.
Ich lese gerade "Homo Deus" von (Yuval Noah) Hariri, das ist der Nachfolgeband zu "Homo Sapiens," und erinnerte mich dran, als ich heute Morgen ein Interview mit Bannon gelesen habe, der eben auch von der nationalen Ökologie sprach.
Die Vorteile des Homo Sapiens gegenüber dem Neandertaler
Deutschlandradio Kultur: Mit wem bitte?
Sylke Tempel: Mit Stephen Bannon, dem Hauptberater von Trump und eigentlich dem Chefideologen. Und der spricht immer von der nationalen Ökonomie, also Abkopplung, und man will das alles gar nicht. Wie man das hinkriegen will, frage ich mich auch. Und dann erinnerte mich daran, was Hariri in dem ersten Band, also in "Homo Sapiens" schrieb, als er sagte: Was war denn eigentlich der Vorteil von Homo Sapiens gegenüber allen anderen? Der konnte abstrakt denken. Der hatte sozusagen eine kognitive Revolution hinter sich. Der hat im Übrigen gehandelt, was ihm enorme Vorteile verschafft hat. Und er konnte in großen Gruppen handeln. Und so hat er den Neandertaler fertig gemacht.
Das war so der Moment, wo ich gedacht habe - ich hab das so kurz hintereinander gelesen -, Protektionismus ist eigentlich die moderne Form des Neandertalertums. Wir wollen das alles gar nicht. Ich kann das verstehen, dass der Impuls erstmal da ist, sich vor Konkurrenz zu schützen. Aber wir haben es doch in den USA gesehen. Als die USA in den 70er-Jahren, und da waren sie noch nicht mal so protektionistisch, etwas Wesentliches nicht mitbekommen hat, nämlich dass anhand der Ölkrise andere Länder, die nicht so billig Öl reingeholt haben, auf Kleinwagen umgestiegen sind mit weniger Verbrauch. Hat was bewirkt? Es hat die amerikanische Automobilindustrie, die vorher führend war, komplett zerschreddert. – Das ist, was mit Protektionismus passiert.
Ich fürchte, dass die Leute, also wirklich die kleinen Leute, die Trump gewählt haben, die Wilders wählen, die Le Pen wählen, dass die diejenigen sein werden, die am allermeisten leiden unter dieser protektionistischen Politik. Und das ist Mist.
"Putins Philosophie ist, schwäche meinen Gegner"
Deutschlandradio Kultur: Offenbar wird ja versucht, so eine Internationale der Nationalisten zu gründen. Also, man denke an das Treffen in Koblenz im Januar. AfD…
Sylke Tempel: AfD, Geert Wilders, Le Pen…
Deutschlandradio Kultur: Genau.
Sylke Tempel: Die waren alle da.
Deutschlandradio Kultur: Wobei ich ja nie so richtig verstanden habe, wie das eigentlich funktionieren soll, wenn die Nationalisten international zusammenarbeiten. Auf jeden Fall scheint ja einer ein wirklich großes Interesse an denen zu haben, nämlich Wladimir Putin.
Sylke Tempel: Absolut.
Deutschlandradio Kultur: Frauke Petry war ja gerade in Moskau und hat sich mit dem rechtsextremen Schirinowski getroffen. Im vergangenen Jahr war Marcus Pretzell von der AfD auf der besetzten Krim. Marine Le Pen war auch schon da (in Russland). – Welche Ziele verfolgt denn Putin mit seiner Unterstützung der Nationalisten?
Sylke Tempel: Ich glaube, Putins Philosophie ist ganz einfach. Wenn man da draußen Konkurrenz hat und wenn man selber findet, dass man nicht mehr stark genug ist, und das ist ja Putins Grundgefühl nach Ende der Sowjetunion, das wissen wir ja, er hat ja gesagt, das ist die größte geopolitische Katastrophe, dann hat man zwei Möglichkeiten. Entweder ich erneuere mich und versuche dieser Konkurrenz standzuhalten oder sie sogar zu überflügeln. Oder ich schwäche meinen Gegner.
Putins Philosophie ist, schwäche meinen Gegner. Das heißt, für ihn ist vollkommen klar, er hat überhaupt gar keine Lust mehr, in irgendeiner Weise geschurigelt zu werden wegen mangelnder Demokratie, übrigens etwas, was Russland enorm schadet. Die Prozentzahl der Leute, die unter der Armutsgrenze leben, ist in den vergangenen Jahren enorm hoch geschnellt. Also, er versucht sozusagen den großen Nachbarn, das ist die EU, erstmal zu schwächen. Und ihm gefällt jeder Politiker, der natürlich diese Anti-EU-Agenda hat und entweder sie reduzieren will auf vielleicht allerhöchstens eine Wirtschaftsgemeinschaft oder sogar findet, dass man sie im Grunde genommen in den Orkus befördern müsste.
Das kommt Putin fantastisch zupass. Und was die Ideologie betrifft, überlappen die AfD, die Linke, Le Pen und Wilders in den meisten Punkten enorm. Das heißt, Abschottung gegen die anderen, das heißt Protektionismus, das heißt, wir definieren unseren eigenen, und ich sag jetzt das Wort bewusst, Volkskörper sehr eng in ganz nationalistischen Termini. Es gehört dazu, wer sozusagen biologisch dazu gehört. Das würde die AfD nie so laut sagen, aber es steht zwischen all ihren Zeilen. Da muss man sich doch keine Gedanken drüber machen.
Und das Ganze wird kombiniert. Dann irgendwie so oben drüber kommt dann noch so eine Streu mit christlicher, judeo-christlicher Tradition. Bei Putin ist es im Grunde genommen die orthodoxe Kirche, eine völlig ausgehöhlte opportunistische, die er sich noch dazu geholt hat. Und das ist die Ideologie.
Großer Nachteil der EU: "Wir haben keine Rauswurfmechanismen"
Deutschlandradio Kultur: Nun blicken wir mal auf den Westen. Auf der einen Seite haben wir die USA und Donald Trump, wo wir noch nicht so recht wissen…
Sylke Tempel: Der auch dicke ist mit Putin ganz offensichtlich.
Deutschlandradio Kultur: …, wohin das da so geht. Und auf der anderen Seite haben wir die EU, eine EU, die es ja selbst nicht schafft, ihre eigenen Werte überzeugend tatsächlich zu leben. Großbritannien wählt den Exit und geht raus. Und ich habe so die Vermutung, wären Polen und Ungarn ökonomisch ebenso stark, würden sie folgen. Aber das tun sie jetzt wohlweislich nicht.
Es gibt diese starken nationalistischen Bewegungen in vielen der Staaten, die Mitglied der EU sind, nicht nur in den osteuropäischen, auch in den Niederlanden, auch in Frankreich, in Finnland. Also, alle wollen immer mehr Abschottung, weniger Vertiefung, wie das früher mal hieß, davon ist überhaupt gar nicht mehr die Rede, der Europäischen Union - was ja die Europäische Union wieder weiter schwächt. Oder?
Sylke Tempel: Das tut es. Es gibt eine Ausnahme, wenn es darum geht, und das ist interessant, dass man eine gemeinsame Außen- und Sicherheits- und auch Verteidigungspolitik hat. Und das involviert durchaus eine Verteidigungspolitik, die in der Lage ist, unsere EU-Außengrenzen zu schützen. Dann sind die meisten Europäer immer noch dafür.
Das Spannende ist, wenn man sich die Populisten anguckt: Da, wo sie in die Regierung kamen, zum Beispiel in Finnland bei den Wahren Finnen, den Schritt, dann ganz sich von der EU zu lösen, den wollen sie eigentlich dann eher doch nicht. Sie wollen das schwächen, sie wollen irgendwie diese populistische Message raushauen, aber sie wollen sich nicht wirklich ganz von der EU lösen.
Einer der großen Nachteile der EU ist, und wir sehen es mit Polen und wir sehen es mit Ungarn, wir haben überhaupt gar keine Rauswurfmechanismen. Das heißt, Ungarn – noch sehr, sehr viel mehr als Polen – ist mit Viktor Orbán ein unglaublich schwieriger Gegner. Und Stephen Bannon, der ideologische Berater von Trump, schwärmt in höchsten Tönen von Orbán, weil er im Grunde genommen so was wie der ideologische Vordenker ist und auf die gleichen rechtsnationalistischen Philosophen zurückgreift wie er. Und wir haben keinerlei Möglichkeiten zu sagen: Tut uns leid, Ungarn, jetzt ist mal gut. Wir setzen euch vor die Tür. Dann macht doch.
Also, Großbritannien war ja sowieso immer ein Sonderfall, weil es sich als Insel immer verstanden hatte und nie so ganz richtig zufrieden war mit seinem Schritt in die EU. Bei Ungarn ist das was anderes. Es gibt diese Mechanismen nicht. Und es wäre schön, wenn es sie gäbe.
"Polen und Ungarn versuchen, politische Grenzen zu verschieben"
Deutschlandradio Kultur: Und Großbritannien würden wir auch nicht vorwerfen, die Regeln der Meinungsfreiheit, der Gewaltenteilung usw. zu verletzen.
Sylke Tempel: Nein, nein. Da ist beim Brexit auch noch ein anderer Moment. Großbritannien geht ja unter May hin und sagt, wir wollen eine Freihandelsnation sein, wir wollen es nicht über die EU, sondern bilateral. Das können sie gar nicht, solange sie sich nicht aus der EU rausverhandelt haben.
Deutschlandradio Kultur: Aber bleiben wir mal bei Ungarn, und Polen, ist ja jetzt auch ganz aktuell ein Problem. Also, das sind Staaten, die ganz offen die Regeln, die Werte, die sich die Europäische Union gegeben hat, verletzen. Und es passiert: nichts. Es ist ein bisschen ähnlich, nehmen wir die Türkei unter Erdogan, der nun nicht zur EU gehört, aber der auch seit geraumer Zeit vieles unternimmt, wo er dann so ein paar kritische Worte bekommt von anderen demokratischen Regierungen. Und das war’s.
Also, man gewinnt auch den Eindruck, diese Herren testen so Grenzen, politische Grenzen...
Sylke Tempel: Das tun sie ja auch.
Deutschlandradio Kultur: … weiter aus und verschieben sie – nach und nach.
Sylke Tempel: Sie versuchen sie zu verschieben. Und die Frage ist, ob man sie auch wieder zurückschieben kann. Der große, fast ein bisschen strukturelle, Nachteil von Demokratien, selbst innerhalb, ich sage jetzt mal, des eigenen Vereins, also der EU, ist, dass unsere Mittel relativ begrenzt sind. Was wir ja nicht wollen, ist, weil es ja auch völlig daneben gegangen ist, irgendeine Demokratisierung per Gewalt. Das kriegen wir nicht hin. Also muss es immer die Überzeugungskraft sein.
Das ist bei Erdogan so. Und da merken wir, wie wir an Grenzen stoßen, weil, es hat durchaus Versuche gegeben, mit den Parlamentariern in gutem Kontakt zu sein, sie zu stärken. Und dann stimmen soundso viele Parlamentarier für etwas, was man nicht anders nennen kann als ein Ermächtigungsgesetz. Da sind Sie von außen in einer Situation, wo Sie nicht mehr viel machen können. Da können Sie eigentlich immer nur anmahnen und sagen: Was kriegen wir hin, was können wir denn machen, weil es wirklich enorme interne Verwerfungen betrifft.
In Polen ist es ja ganz genauso. Da können wir es immer anmahnen. Da gibt’s den Venedig-Prozess. Da kann man sagen, so könnt ihr nicht mit dem Verfassungsgericht umgehen. Man kann die Zivilgesellschaft stärken. Mehr geht nicht. Die EU ist keine Exekutivmacht.
Und wenn wir das jetzt mal…
Deutschlandradio Kultur: Aber theoretisch haben wir doch die Hüterin der Verträge, die Kommission.
"Wenn Demokratie erodiert wird, können wir sehr oft nur Heftpflaster reichen"
Sylke Tempel: Ja, eine Hüterin der Verträge ist schön. Ich meine, auch wir sind Hüter unserer Verträge. Aber die Verträge hält man deshalb ein, weil wir auch eine starke Polizei haben und eine Gerichtsbarkeit, die das eben entsprechend ahnden können.
Lassen Sie mich doch mal ein radikales Beispiel nehmen: Horst Seehofer wird immer populistischer und würde jetzt mal anfangen zu sagen - macht er natürlich nicht -, aber er würde jetzt mal anfangen zu sagen: Also, ich gehe jetzt mit wirklich jeder Zeitung ins Gericht, die sagt, das mit den Migranten hätte gut geklappt, oder die sagt, die Obergrenze ist eine bescheuerte Idee. – Hätten wir eine Möglichkeit, Bayern aus der Bundesrepublik zu verstoßen?
Deutschlandradio Kultur: Nein, aber die Gerichte würden ihm alle nicht Recht geben.
Sylke Tempel: Ja, aber die EU hat keine Gerichte in den jeweiligen Ländern. Die EU hat einen Europäischen Gerichtshof. Und den kann sie natürlich bemühen. Aber sie hat keine Gerichte in den jeweiligen Ländern. Das müssen die jeweiligen Länder selber können und die unabhängige Gerichtsbarkeit dort. Das heißt, das Traurige ist, wir sehen, wenn Demokratie erodiert wird, können wir im Grunde genommen sehr oft nur Heftpflaster reichen und immer wieder drauf bestehen, dass es ist ...
Aber wir haben als EU die Exekutivgewalt nicht. Das würde auch kein Land wollen. Das würden im Übrigen auch wir nicht wollen wahrscheinlich. Das ist ein schwieriger Verhandlungsprozess.
Und das ist ja das, was momentan so viel Unbehagen schafft, dass viele Leute das Gefühl haben, und zwar nach allen Seiten: Kann das nicht ein bisschen schneller gehen? Kann man nicht mal mit ein paar taffen Entscheidungen das in eine andere Richtung drehen? Da kann ich immer nur sagen: Nee, das ist wirklich momentan so wie beständiges Auseinanderknäueln von einem verhedderten Wollknäuel. Da braucht es viel Geduld und Spucke. Und da gibt’s auch Rückschläge. Aber dieses mit dem Damoklesschwert durchhauen, das haut halt nicht hin. Mich hat’s eh nie beeindruckt, weil ich dachte, super Alexander, jetzt ist der Wagen kaputt, das Seil kaputt, aber du hast es durchgehauen, bist der Held, danke.
Deutschlandradio Kultur: Na ja. Aber ob jetzt Geduld und Spucke reichen? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Um mich herum stelle ich eine tiefe Ratlosigkeit fest, manchmal so eine Art Hilflosigkeit sogar, weil eben viele den Eindruck haben, man kann mit den Anhängern der AfD, mit den Anhängern Trumps - man kann sie gar nicht mehr erreichen.
Sylke Tempel: Doch, einige kann man erreichen.
Deutschlandradio Kultur: In Demokratien zählt ja idealerweise der Meinungsaustausch, das Wägen von Argumenten, das Gespräch. Aber es scheint ja häufig genug darum gar nicht mehr zu gehen, also nicht um Argumente und auch eben nicht um Tatsachen. Und dann sind doch Demokraten alter Schule doch machtlos.
Wann reden hilft und wann nicht
Sylke Tempel: Ja, wenn es wirklich an den Punkt kommt, wo jemand mir erklärt, dass der Mond aus Käse ist und Migranten uns alle Jobs wegnehmen, was faktisch nicht wahr ist, nicht beweisbar, nicht belegbar, einfach nicht stimmt, und mein Gegenüber da drauf insistiert, dann ist man am Ende der Fahnenstange angelangt. Das ist richtig. Aber ich glaube, es wäre ein Riesenfehler zu sagen, man kann mit denen allen nicht reden.
Ich kriege häufig Mails in Reaktion auf irgendwelche öffentlichen Auftritte. Die unterteile ich inzwischen in zwei Gruppen oder eigentlich in drei. In welche, die einigermaßen höflich daherkommen, aber mit mir überhaupt nicht übereinstimmen, was ich finde, was deren absolut gutes Recht ist, aber irgendwie den Kontakt suchen. Da sind schon ein paar dabei, die mir sagen, eigentlich wähle ich AfD, weil, ich habe von euch Eliten, und da zählt man plötzlich mit dazu, die Nase voll und so. Und dann lasse ich mich schon auch mal auf eine Auseinandersetzung ein. Dann kommt man auch ein Stück weiter.
Dann gibt’s diejenigen, die einen erstmal beschimpfen, denen man erstmal sagen muss: Wissen Sie, Sie können nicht auf elektronische Weise mir die Tür eintreten, mir erstmal das Geschirr vom Tisch schlagen und dann sagen, jetzt bieten Sie mir mal einen Kaffee an und reden Sie mit mir. Das kommt nicht so gut. – Also, da muss man erstmal irgendwie aufn Ton (eingehen) und dann kommen wir auch ins Gespräch.
Und dann gibt’s diejenigen, bei denen wirklich das Ende des Fahnenmastes erreicht ist, die insistieren, die nur in ihren eigenen Echokammern unterwegs sind, die nichts als ihre eigenen Wahrheiten (kennen). Und die kommen auch immer belehrend daher. Die erzählen mir dann immer, wie ich die Welt sehen soll. Das finde ich auch wahnsinnig tolerant. Und da ist dann echt auch nichts mehr zu machen.
Deutschlandradio Kultur: Eben. Also, wer kennt solche Mails nicht, wer sich irgendwo öffentlich äußert?
Sylke Tempel: Ja, natürlich, alle…
Deutschlandradio Kultur: Kennen wir Journalisten alle.
Sylke Tempel: …, aber ich glaube schon, dass es darum gehen wird, dass man einer Partei wie der AfD, ich meine, sie hat jetzt ein, zwei Prozentpunkte wieder verloren und ich frage mich, ob es ihr so gut tut, dass sie sich so unglaublich liebedienerisch an Trump ranwirft, an einen Politiker, den die meisten Deutschen entsetzlich finden – in Stil, in Aussage, in allem, was der ist. Also, man wird die Leuten überzeugen und auch abspenstig machen müssen.
Und dann wird es einen Stamm geben, an die wird man nicht rankommen. Und da, finde ich, geht’s um Marginalisieren.
Deutschlandradio Kultur: Also, es gibt ja zwei Sichtweisen - mindestens - auf die aktuelle Situation und eben auf diejenigen, die man mit Argumenten, mit Tatsachen nicht erreichen kann, weil man sowieso, wenn man Tatsachen nennt, automatisch zum Establishment gehört oder wenn man irgendwelche Fakten nennt. Man kann sagen, gut, das legt die Axt an die Grundlagen der Demokratie. Denn darauf beruht Demokratie, dass wir uns über Tatsachen einigen und dann darüber diskutieren, wie wir damit umgehen.
Es gibt auch Stimmen, die sagen: Na ja, also, diese starken nationalistischen Strömungen beleben aber auch wiederum die Demokratie, weil jetzt eben auch diejenigen, die bisher auf ihrem Sofa eingeschlafen waren, jetzt wieder aufwachen und sich interessieren und engagieren.
"Auf in den Kampf!"
Sylke Tempel: Das ist die optimistische Seite. Ich meine, ich gehöre immer zur optimistischen Seite. Und ich glaube schon, das ist jetzt wirklich mal der Moment, wo man auch mal was verteidigen muss, was, ich finde, was gut ist. Und ja, und ansonsten kann ich nur sagen: Auf in den Kampf! Es lohnt sich dann auch wirklich, sich da auseinanderzusetzen. Manchmal finde ich es echt mühsam, wenn man dann irgendwie nur noch angepöbelt wird. Ich dachte immer, so einen gewissen zivilen Grundton können wir doch mal einhalten. Also, bei den Pöblern geht einem dann schon manchmal die Geduld flöten.
Aber ich finde, es lohnt sich, und ich finde, es ist auch dran. Ich bin nicht begeistert über diese Nationalisten. Ich glaube, sie können enormen Flurschaden anrichten. Aber wenn es denn dazu führt, dass man sich zur Verteidigung der offenen Gesellschaft, der repräsentativen Demokratie, der EU einsetzt – dann wird es sich wohl gelohnt haben, hoffe ich.