Politikverdrossenheit

Charismatiker als Hoffnungsschimmer?

Ein beschmiertes Wahlplakt der SPD mit Spitzenkandidat Martin Schulz zur bevorstehenden Bundestagswahl in Berlin-Wedding.
Fehlen den Volksparteien charismatische Politiker? Ein beschmiertes Wahlplakt der SPD mit Spitzenkandidat Martin Schulz. © imago/Seeliger
Von Herfried Münkler |
Nie hat es in Deutschland so lange gedauert, eine neue Regierung zu bilden. Bei den Wählern steigt der Frust. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler geht der Frage nach, ob die deutsche Politik etwa einen Emmanuel Macron braucht?
Den großen Volksparteien laufen nicht nur die Wähler, sondern auch die Mitglieder weg. Die Sozialdemokratie leidet unter dieser Entwicklung seit mehr als einem Jahrzehnt. Auch die CDU hat bei der letzten Bundestagswahl ein historisch schlechtes Ergebnis einstecken müssen. Beiden Parteien sind die äußeren Flügel weggebrochen, und diese Verluste lassen sich im "Kampf um die Mitte" nicht kompensieren.

Die Volksparteien stecken in einer Zwickmühle

Lässt sich diese Entwicklung rückgängig machen, indem sich die Parteien wieder stärker nach rechts und links bewegen, wie ihnen von einigen angeraten wird? Kaum, denn dann würden sie in der Mitte viele Wähler verlieren – und ob sie mehr als die an den Rändern zurückgewinnen können, ist fraglich. Die Volksparteien stecken in einer Zwickmühle: Welchen Zug auch immer sie machen, sie werden dabei Verluste haben. Die Folge dessen ist der auffällige Immobilismus, der sich seitdem breit gemacht hat: Man kann beobachten, dass sie sich bewegen wollen, dazu ansetzen – und dann wieder zurückschrecken.

Politikentkernte Bewegungen sind erfolgreich

Außerhalb Deutschlands konnte man das in Frankreich und in Österreich über mehr als ein Jahrzehnt beobachten: In Frankreich brachte zuerst eine Regierung der rechten und anschließend eine der linken Mitte die nötigen Reformen nicht auf den Weg, und in Österreich verwaltete eine rot-schwarze Koalition den Stillstand. Bis dann Emmanuel Macron und Sebastian Kurz Bewegung in die Sache brachten, und zwar mit politikprogrammatisch entkernten Bewegungen, die sie eilends aus dem Boden gestampft hatten. Sie waren erfolgreich, indem sie sich selber zum Programm machten, indem sie einen jugendlich-dynamischen Auftritt, politische Unverbrauchtheit sowie Distanz zu den etablierten Parteien ins Spiel brachten.

Charismaglaube gedeiht auf Politikverdrossenheit

Der Soziologe Max Weber hat den aus der Religionstheorie stammenden Begriff des Charismas auf Gesellschaft und Politik übertragen. Es sind weniger definierbare Eigenschaften und Fähigkeiten, die damit bezeichnet werden, als vielmehr der Glaube bei den Anhängern, dieser Mann oder diese Frau könne die Lage zum Besseren wenden, er oder sie seien jemand, dem die Projekte gelingen, der notorisch Erfolg habe und zum Retter in einer verzweifelnden Situation werde. Politikverdrossenheit und verbreitete Frustration sind der Nährboden, auf dem dieser Charismaglaube gedeiht. Deutschland ist zurzeit in einer Situation, in der es auf den Charismatiker wartet. Nicht weil es dem Land schlecht geht, sondern aus Überdruss am eingeübten Politikbetrieb. Man will Abwechslung, will die langweiligen Routineäußerungen des politischen Personals nicht mehr hören, aber man will auch jemanden, der das Versprechen verkörpert, sich nicht im Alltagsbetrieb zu verschleißen. Das ist eine gefährliche Stimmung, weil sie der Politik einen Kredit einräumt, der um ein Vielfaches größer ist, als das sonst der Fall ist.

Sehnsucht nach dem Heilsbringer ist gefährlich

Der Glaube an Charismatiker ist gefährlich, und im 20. Jahrhundert haben die Menschen mit solcher Sehnsucht nach dem Heilsbringer nicht unbedingt gute Erfahrungen gemacht. Aber die Beispiele Macrons und Kurz zeigen, dass Charismatiker einem Land neue Zuversicht verschaffen können und allein ihr Auftritt eine Dynamik in Gang setzt, die man zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Es spricht vieles dafür, dass die Volksparteien nur dann politisch überleben werden, wenn sie Männer und Frauen mit Charisma an ihrer Spitze haben. Sie führen dann zusammen, was politisch-programmatisch nicht mehr unter einen Hut zu bringen ist.

Herfried Münkler: Politikprofessor, Buchautor, geboren 1951 in Friedberg, ist Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Er ist mit zahlreichen Studien zur politischen Ideengeschichte und zur Theorie des Krieges hervorgetreten.

Nicht wenige davon sind mittlerweile Standardwerke, so etwa "Machiavelli" (1982) und "Gewalt und Ordnung" (1992). Herfried Münklers jüngste Bücher: "Der Wandel des Krieges", "Die Deutschen und ihre Mythen" und "Mitte und Maß". Sein neuestes Buch erschien 2017: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler
© picture alliance / dpa / Arno Burgi
Mehr zum Thema