Politikwissenschaftler: Gewerkschaften sind "zahme Gummilöwen"
Das Motto "Vereint für Gerechtigkeit", mit dem die Gewerkschaft ver.di ihren Bundeskongress in Leipzig eröffnet, müsse auch auf der Straße umgesetzt werden, meint der Politologe Peter Grottian von der Freien Universität Berlin. Derzeit sei die Kampfbereitschaft der Gewerkschaften zu gering.
Nana Brink: "Vereint für Gerechtigkeit", so lautet der Slogan des ver.di-Bundeskongresses, der heute in Leipzig beginnt. Mehr als 1.000 Delegierte werden die Politik ihrer Gewerkschaft für die nächsten vier Jahre neu ausrichten für knapp zwei Millionen Mitglieder, so steht es auf der Website von ver.di. Aber ist das das richtige Motto? Klingt das nicht angesichts der momentanen Realität gerade für junge Menschen zwar gut gemeint, aber ein wenig altbacken? Und was bedeutet eigentlich Gerechtigkeit für eine Gewerkschaft heute? Fragen, die ich jetzt besprechen möchte mit Professor Peter Grottian, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Einen schönen guten Morgen, Herr Grottian!
Peter Grottian: Einen schönen guten Morgen!
Brink: "Vereint für Gerechtigkeit" – was halten Sie von diesem Slogan für einen Gewerkschaftskongress?
Grottian: Na ja, das ist natürlich ein einheitsstiftender Slogan, da kann man viel dafür sagen, auch viel dagegen sagen, weil er ganz allgemein bleibt, aber die spannende Frage ist ja, wie die Gewerkschaft, egal ob nun bei Mindestlohn, Arbeitszeitverkürzung, bei der Frage der Macht der Banken oder in anderen Feldern, wie sie dieses "Vereint für Gerechtigkeit" denn durchsetzen will. Und darüber müsste ja nun auf dem Gewerkschaftskongress ganz erheblich gestritten werden, nämlich, man kann ja gute Vorsätze haben, wie vereint für Gerechtigkeit zu kämpfen, aber wenn das dann nur ein brüllender Löwe wird, und im Grunde genommen dann eigentlich nicht sehr viel nachliefert, dann ist das für die Kampfbereitschaft einer Gewerkschaft kein sehr gutes Zeichen.
Brink: Kann das sein, dass ich heraushöre, dass Sie etwas skeptisch sind diesem Slogan gegenüber, dass er Ihnen zu nebulös ist?
Grottian: Ja, er müsste schon konkretisiert werden auf die jeweiligen Felder. Was heißt das für die nächsten Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst oder für die Banken oder sonst irgendwas? Er müsste auch konkretisiert werden in der Richtung, dass man dann auch sagt: Welche Protestmittel setzt man denn als Gewerkschaft ein? Und gerade der ver.di-Vorsitzende hat ja über den politischen Streik und über anderes sehr wohl nachgedacht. Und die Gesellschaft wartet auch darauf, dass natürlich die Gewerkschaft sich mit anderen sozialen Bewegungen, mit auch Parteien mehr arrangiert und diesen Konflikt, der in der Gesellschaft doch verbreitet ist und wo große Demokratie-Verdrossenheit in der Bevölkerung vorhanden ist, das sich dann auch zuspitzt. Denn letztes Jahr und vorletztes Jahr hat die Gewerkschaft ein paar Demonstrationen gemacht für die Frage des Sozialen – das war auch alles.
Also, wenn man für einen Mindestlohn ist, dann sollte man möglicherweise auch mal für den Mindestlohn die Arbeit niederlegen, oder wenn man gegen die Macht der Banken ist, dann müsste man sich möglicherweise mit Attac und anderen Gruppierungen zusammentun und auch etwas gegen die Macht der Banken wirklich unternehmen. Das heißt, die Forderungen der Gewerkschaften, auch von ver.di, sind ja in vieler Hinsicht ganz konkret und auch nicht schlecht, aber die Konfliktbereitschaft, die ist sehr, sehr niedrig. Es bleibt papierner Protest, und in dieser Gesellschaft kann man eigentlich nur etwas verändern, wenn man gute alternative Vorschläge hat, aber die gleichzeitig auch mit einer Konfliktbereitschaft bis sogar zum zivilen Ungehorsam eigentlich unterstreicht. Und da ist eigentlich nicht sehr viel zu sehen bei den Gewerkschaften. Man hat beim DGB besonders den Eindruck, dass man eher das geneigte Ohr von Frau Merkel erreichen will, als dass man auf der Straße tatsächlich versuchen will, auch dies und jenes zu verändern.
Brink: Womit begründen Sie das?
Grottian: Na ja, die deutschen Gewerkschaften sind anders als die italienischen und die französischen, sind natürlich eigentlich immer auf Kooperation mit dem Staat, mit den Arbeitgebern eigentlich immer aus gewesen, sind selten sehr radikal geworden – es gab ein paar Ausnahmen. Aber das gehört zur Gewerkschaftskultur zusammen, wobei ich bei ver.di noch sagen will, dass mit dem Vorsitzenden Bsirske schon eine Persönlichkeit vorne steht, die auch mal offen eine Lippe riskiert und sich auch radikal einmischt. Aber das grundsätzliche Problem der Konfliktbereitschaft der Gewerkschaften, der Nicht-Bündnisfähigkeit steht an, und das ist die Voraussetzung dafür, dass Gewerkschaften auch stark bleiben. Denn wenn die Menschen alle sehen, aha, da gibt es papierne Parolen und da wird im Grunde genommen eigentlich dann auch sehr wenig gemacht, das unterhöhlt doch die Glaubwürdigkeit. Das heißt, die Gewerkschaften erweisen sich einen Bärendienst in ihrer Lahmpfötigkeit.
Brink: Kann es denn nicht auch sein, dass viele Gewerkschaftsfunktionäre in einer, sage ich jetzt mal, Art Parallelwelt leben, die gar nicht mehr erreichen, die sie eigentlich erreichen müssten, nämlich zum Beispiel die Arbeitslosen, für die auch gar nicht kämpfen?
Grottian: Ja, aber das ist auch ein Grundproblem der Gewerkschaften. Ich bin ja nun in dieser Erwerbslosenbewegung immer sehr stark aktiv gewesen. Man kann nur immer sagen: Die Gewerkschaften sind eben nicht die Vertreter auch von Erwerbslosen. Dieses Band beschwören sie zwar immer wieder, aber letztendlich interessiert sie das nicht mit den Arbeitslosen. Die kriegen mal ein paar Flugblätter gedruckt, die kriegen auch eine Kaffeemaschine, wenn sie Glück haben, auch mal einen Raum, aber dann ist mit der Solidarität zu Ende. Und man würde wünschen, dass das Band zwischen Gewerkschaften und Erwerbslosen natürlich stärker wird. Ich glaube sogar, dass wenn die Gewerkschaften die Erwerbslosen stärker mit vertreten würden, die Gewerkschaften insgesamt in der Gesellschaft stärker werden. Aber primär – Sie haben die Funktionäre zu Recht angesprochen. Die gucken zunächst mal auf ihren Betrieb, auf ihre Dienstleistung, und nicht etwa darauf, ob sich das solidarische Band im Sinne einer wirklichen Gerechtigkeit auch anders geknüpft gehört.
Brink: Sind dann solche Beschwörungen – wie Sie ja eben auch gerade wieder gesagt haben, dieser papierne Tiger, diese Utopie "Vereint für Gerechtigkeit" – gehört das dann zum guten Ton, das immer wieder zu wiederholen?
Grottian: Na ja, es kommt eben drauf an, was man daraus macht. Und mein Vorwurf war ja, sie haben durchaus gute Ideen, sie haben auch Alternativvorstellungen, aber sie kümmern sich zu wenig um die Konflikte, die sie gleichzeitig mit auslösen müssen, wenn ihre Forderungen denn auf Durchsetzungsfähigkeit tatsächlich abzielen. Das ist das wahre Dilemma, das die Gewerkschaften haben. Sie sind also eher Gummilöwen in der Gesellschaft, und man weiß ganz genau, dass Gummilöwen eben Gummilöwen sind und keine, die tatsächlich ein bisschen provozierendes und gesellschaftliches Verändern verbreiten. Man weiß, dass sie im Prinzip sehr zahm sind.
Brink: Professor Peter Grotian, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, das Gespräch haben wir aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Grottian: Einen schönen guten Morgen!
Brink: "Vereint für Gerechtigkeit" – was halten Sie von diesem Slogan für einen Gewerkschaftskongress?
Grottian: Na ja, das ist natürlich ein einheitsstiftender Slogan, da kann man viel dafür sagen, auch viel dagegen sagen, weil er ganz allgemein bleibt, aber die spannende Frage ist ja, wie die Gewerkschaft, egal ob nun bei Mindestlohn, Arbeitszeitverkürzung, bei der Frage der Macht der Banken oder in anderen Feldern, wie sie dieses "Vereint für Gerechtigkeit" denn durchsetzen will. Und darüber müsste ja nun auf dem Gewerkschaftskongress ganz erheblich gestritten werden, nämlich, man kann ja gute Vorsätze haben, wie vereint für Gerechtigkeit zu kämpfen, aber wenn das dann nur ein brüllender Löwe wird, und im Grunde genommen dann eigentlich nicht sehr viel nachliefert, dann ist das für die Kampfbereitschaft einer Gewerkschaft kein sehr gutes Zeichen.
Brink: Kann das sein, dass ich heraushöre, dass Sie etwas skeptisch sind diesem Slogan gegenüber, dass er Ihnen zu nebulös ist?
Grottian: Ja, er müsste schon konkretisiert werden auf die jeweiligen Felder. Was heißt das für die nächsten Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst oder für die Banken oder sonst irgendwas? Er müsste auch konkretisiert werden in der Richtung, dass man dann auch sagt: Welche Protestmittel setzt man denn als Gewerkschaft ein? Und gerade der ver.di-Vorsitzende hat ja über den politischen Streik und über anderes sehr wohl nachgedacht. Und die Gesellschaft wartet auch darauf, dass natürlich die Gewerkschaft sich mit anderen sozialen Bewegungen, mit auch Parteien mehr arrangiert und diesen Konflikt, der in der Gesellschaft doch verbreitet ist und wo große Demokratie-Verdrossenheit in der Bevölkerung vorhanden ist, das sich dann auch zuspitzt. Denn letztes Jahr und vorletztes Jahr hat die Gewerkschaft ein paar Demonstrationen gemacht für die Frage des Sozialen – das war auch alles.
Also, wenn man für einen Mindestlohn ist, dann sollte man möglicherweise auch mal für den Mindestlohn die Arbeit niederlegen, oder wenn man gegen die Macht der Banken ist, dann müsste man sich möglicherweise mit Attac und anderen Gruppierungen zusammentun und auch etwas gegen die Macht der Banken wirklich unternehmen. Das heißt, die Forderungen der Gewerkschaften, auch von ver.di, sind ja in vieler Hinsicht ganz konkret und auch nicht schlecht, aber die Konfliktbereitschaft, die ist sehr, sehr niedrig. Es bleibt papierner Protest, und in dieser Gesellschaft kann man eigentlich nur etwas verändern, wenn man gute alternative Vorschläge hat, aber die gleichzeitig auch mit einer Konfliktbereitschaft bis sogar zum zivilen Ungehorsam eigentlich unterstreicht. Und da ist eigentlich nicht sehr viel zu sehen bei den Gewerkschaften. Man hat beim DGB besonders den Eindruck, dass man eher das geneigte Ohr von Frau Merkel erreichen will, als dass man auf der Straße tatsächlich versuchen will, auch dies und jenes zu verändern.
Brink: Womit begründen Sie das?
Grottian: Na ja, die deutschen Gewerkschaften sind anders als die italienischen und die französischen, sind natürlich eigentlich immer auf Kooperation mit dem Staat, mit den Arbeitgebern eigentlich immer aus gewesen, sind selten sehr radikal geworden – es gab ein paar Ausnahmen. Aber das gehört zur Gewerkschaftskultur zusammen, wobei ich bei ver.di noch sagen will, dass mit dem Vorsitzenden Bsirske schon eine Persönlichkeit vorne steht, die auch mal offen eine Lippe riskiert und sich auch radikal einmischt. Aber das grundsätzliche Problem der Konfliktbereitschaft der Gewerkschaften, der Nicht-Bündnisfähigkeit steht an, und das ist die Voraussetzung dafür, dass Gewerkschaften auch stark bleiben. Denn wenn die Menschen alle sehen, aha, da gibt es papierne Parolen und da wird im Grunde genommen eigentlich dann auch sehr wenig gemacht, das unterhöhlt doch die Glaubwürdigkeit. Das heißt, die Gewerkschaften erweisen sich einen Bärendienst in ihrer Lahmpfötigkeit.
Brink: Kann es denn nicht auch sein, dass viele Gewerkschaftsfunktionäre in einer, sage ich jetzt mal, Art Parallelwelt leben, die gar nicht mehr erreichen, die sie eigentlich erreichen müssten, nämlich zum Beispiel die Arbeitslosen, für die auch gar nicht kämpfen?
Grottian: Ja, aber das ist auch ein Grundproblem der Gewerkschaften. Ich bin ja nun in dieser Erwerbslosenbewegung immer sehr stark aktiv gewesen. Man kann nur immer sagen: Die Gewerkschaften sind eben nicht die Vertreter auch von Erwerbslosen. Dieses Band beschwören sie zwar immer wieder, aber letztendlich interessiert sie das nicht mit den Arbeitslosen. Die kriegen mal ein paar Flugblätter gedruckt, die kriegen auch eine Kaffeemaschine, wenn sie Glück haben, auch mal einen Raum, aber dann ist mit der Solidarität zu Ende. Und man würde wünschen, dass das Band zwischen Gewerkschaften und Erwerbslosen natürlich stärker wird. Ich glaube sogar, dass wenn die Gewerkschaften die Erwerbslosen stärker mit vertreten würden, die Gewerkschaften insgesamt in der Gesellschaft stärker werden. Aber primär – Sie haben die Funktionäre zu Recht angesprochen. Die gucken zunächst mal auf ihren Betrieb, auf ihre Dienstleistung, und nicht etwa darauf, ob sich das solidarische Band im Sinne einer wirklichen Gerechtigkeit auch anders geknüpft gehört.
Brink: Sind dann solche Beschwörungen – wie Sie ja eben auch gerade wieder gesagt haben, dieser papierne Tiger, diese Utopie "Vereint für Gerechtigkeit" – gehört das dann zum guten Ton, das immer wieder zu wiederholen?
Grottian: Na ja, es kommt eben drauf an, was man daraus macht. Und mein Vorwurf war ja, sie haben durchaus gute Ideen, sie haben auch Alternativvorstellungen, aber sie kümmern sich zu wenig um die Konflikte, die sie gleichzeitig mit auslösen müssen, wenn ihre Forderungen denn auf Durchsetzungsfähigkeit tatsächlich abzielen. Das ist das wahre Dilemma, das die Gewerkschaften haben. Sie sind also eher Gummilöwen in der Gesellschaft, und man weiß ganz genau, dass Gummilöwen eben Gummilöwen sind und keine, die tatsächlich ein bisschen provozierendes und gesellschaftliches Verändern verbreiten. Man weiß, dass sie im Prinzip sehr zahm sind.
Brink: Professor Peter Grotian, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, das Gespräch haben wir aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.