"Große Teile des Volkes sind dumm"
Wenn Herfried Münkler ein Defizit anprangert, gehört für ihn gleichzeitig eine Lösungsempfehlung dazu: Einigen Teilen des Volkes fehle ein bestimmtes Wissen über politische Prozesse, sagt er. Darum müssten die Eliten dafür sorgen, mit ihrem Wissen diese Gruppe zu unterstützen, so der Publizist.
Nicht zufällig gehörte die rechtsnationale Politikerin Marine Le Pen zu den ersten, die Donald Trump zu seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl in den USA gratulierten. Weltweit scheint der Populismus auf der Erfolgsspur. Lässt sich daraus auf ein Versagen der bisherigen Eliten schließen? Nicht automatisch, meint der Politikwissenschaftler Herfried Münkler.
Man müsse anerkennen, dass es große Teile des Volkes gebe, "die sind nicht besonders informiert, geben sich auch keine Mühe, glauben aber dafür umso besser genau zu wissen, was der Fall ist. Also: sie sind dumm." Das heiße aber nicht, dass man sie nicht klüger machen könne. Und das sei die Aufgabe der Eliten.
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur: Der Wahlsieg Donald Trumps in den USA beschäftigt weiterhin viele Menschen, auch im Hinblick auf die Frage, was das für uns in Europa bedeuten mag. Am Anfang der Wahlnachlese stand ja doch so ein bisschen die Wählerbeschimpfung im Vordergrund, die ist jetzt abgelöst worden von Kritik, auch von Selbstkritik, an den Eliten. Ich sage mal Eliten, wahlweise könnte man auch sagen am sogenannten Establishment oder am Mainstream, also Kritik an den machthabenden Institutionen und an den Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten, zum Beispiel Kritik an den amtierenden Regierungen, den etablierten Parteien, der Wissenschaft oder auch den Medien.
Zu Gast in Tacheles ist heute ein Mitglied dieser Elite, einer der führenden Vertreter seines Fachs, nämlich der Politikwissenschaftler Herfried Münkler.
Herfried Münkler: Hallo.
Deutschlandradio Kultur: Schönen guten Tag, Herr Prof. Münkler.
Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hat nach der Trump-Wahl geschrieben, ich zitiere: "Wir als politische Verantwortungseliten sollten aufhören, die Bevölkerung zu kritisieren." Und er meint: Stattdessen sollten sie eben eher die Probleme der Eliten selbst in den Blick nehmen.
Was mich zu der Frage führt, ob man aus der Tatsache, dass Politiker wie Donald Trump oder auch Marine Le Pen Erfolg haben, also, dass Populisten Erfolg haben, schließen kann, dass automatisch die Eliten versagt haben.
Herfried Münkler: Nein, das kann man nicht schließen. Dann müsste man gewissermaßen sich zunächst noch einmal anschauen, welche Alternativen hatten sie, wo haben sie etwas falsch gemacht: Und inwieweit kann man das im Nachhinein, wenn man sehr viel mehr Zeit und sehr viel mehr Wissen hat und es immer leicht fällt, alles besser zu wissen, inwieweit kann man im Nachhinein zeigen, welche Entscheidung von ihnen falsch gewesen ist?
Deutschlandradio Kultur: Wer jetzt "ihnen"?
Herfried Münkler: Also, der Eliten. Das müsste man ihnen ja vor Augen führen.
Es gibt auch Situationen, in denen Alternativen gar nicht gegeben sind. Also, vielleicht war Frau Clinton die falsche Kandidatin gegen Trump. Gut, man kann sagen, der Umstand, dass Bernie Sanders als Gegenkandidat von Frau Clinton ihr so zu schaffen gemacht hat, war eigentlich ein Hinweis darauf, dass es eine sehr grundlegende Anti-Establishment-Stimmung in der amerikanischen Bevölkerung gibt, denn Sanders war ja auch ein Vertreter des Anti-Establishment, und dass man möglicherweise, wenn man jemanden gegen den Republikaner oder den Pseudo-Republikaner Trump stellt, der so sehr mit dem Establishment verbunden ist, einen Fehler macht.
Aber das wissen wir alles im Nachhinein sehr viel genauer als man das im Gefecht selber weiß. Insofern möchte ich jetzt auch für mich reklamieren, dass ich gewissermaßen der Wissenschaftler bin, der, "wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, sein Grau in Grau malt", und nicht der Besserwisser, der im Frühjahr oder Sommer dieses Jahres alles schon gewusst hat.
Deutschlandradio Kultur: Aber das zeigt dann ja doch wiederum ein Versagen, zumindest dann der Elite der demokratischen Partei an, wenn Sie sagen: man kann sich fragen, war Hillary Clinton die richtige Kandidatin? Mir geht’s nur darum, dass man sagt, wir lassen jetzt mal die Wählerbeschimpfung bleiben. Weil, man kann ja auch sagen, die Leute sind einfach dumm und die rennen den Populisten hinterher …
Herfried Münkler: Das sind die ja vermutlich auch.
Deutschlandradio Kultur: … und die sind wütend ...
Herfried Münkler: Aber das hilft ja nichts. Also, man kann das den Leuten sagen, aber dadurch macht man sie nicht klüger. Und man macht Menschen, die in diesem Sinne auch vielleicht bösartig sind, dadurch nicht gutartig, dass man sie beschimpft. Das bringt also nicht sehr viel. Das ist vielleicht eine Feststellung. Das ist eine strategische Disposition. Niccolò Machiavelli, mit dem ich mich mal sehr intensiv beschäftigt habe, sagt: Na ja, der Pöbel folgt sowieso immer nur dem Schein. – Das kann man jetzt auch bestätigt finden.
Aber für Machiavelli ist das jetzt nicht etwas, woraus er schlussfolgert, wir müssen den Pöbel verachten, sondern wir müssen deswegen eine kluge Politik machen, dass der Schein nicht gegen uns spielt, sondern für uns spielt. Letzten Endes ist das die Herausforderung für politische Eliten.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja gerade so ungeniert gesagt, Herr Münkler, ja, die Wähler sind ja wahrscheinlich auch dumm. Das kann natürlich kein Politiker öffentlich sagen. Und von unseren, also den deutschen Politikern, hat man ja gerade in der letzten Zeit, also seit den Wahlerfolgen der AfD vor allem, immer wieder diesen Satz gehört: Man müsse die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Was ja eine kuriose Aussage ist, weil man eigentlich erstmal erwarten würde, dass das ohnehin passiert.
Aber jetzt in diesem Zusammenhang ja noch kurioser, weil ich mich dann frage: Was heißt das: "ernst nehmen"? Also, die politische Atmosphäre ist ja so aufgeheizt, und wenn jetzt jemand sagt, Ausländer sind alle Pack und Dreck und gehören abgeschoben oder Homosexuelle gehören in den Knast, wie soll ich das ernst nehmen?
Herfried Münkler: Ja, Sie haben das ja schon im Kern beschrieben. Selbstverständlich ist Politik Tag und Nacht damit beschäftigt, die sogenannten Sorgen und Nöte der Bürger ernst zu nehmen. Dafür haben sie die Demoskopen, die tagein, tagaus bei der Politik vorsprechen und denen das erläutern und Grundstimmungen darlegen usw.
Und wenn Politiker sagen, sie wöllten hinfort oder sie sollten die Sorgen der Bürger ernst nehmen, dann hat das so eine performative Bedeutung. Das soll gewissermaßen ein bisschen schulterklopfend auf diejenigen zugehen, die das Gefühl haben, sie seien abgehängt, sie würden nicht beachtet. Es hat so eine gewisse Hinwendung, ein Herunterbeugen, fast ein Streicheln, hat vermutlich die Funktion – jedenfalls bei Horst Seehofer würde ich das mal so vermuten – etwas populistisches Wasser in den eigenen Elitenwein hineinzugießen, damit man nicht so elitär aussieht.
Deutschlandradio Kultur: Umgekehrt ist ja das Problem, wenn man sagt, mit diesen lohnt es sich gar nicht zu diskutieren – man denke an die Ereignisse in Dresden am 3. Oktober -, dann bestätigt man ja auch wieder dieses Vorurteil: Na ja, die hören ja sowieso nicht zu.
Herfried Münkler: Ja, ich meine, das ist eine lange Diskussion der Parteiendemokratie. Und in der Interpretation des Grundgesetzes und teilweise im Grundgesetz selber ist ja auch der Gedanke, dass die Parteien an der Willensbildung des Volkes mitwirken. Das muss man vermutlich schon so verstehen, dass sie auch eine gewisse Führungs- und Leitungsaufgabe haben, Willen zu bündeln, Informationen zu verteilen, letzten Endes auch Bevölkerung zu erziehen.
Das sage ich so ganz bewusst, denn in der Geschichte Deutschlands ist es ja so, dass dieses Land mal sich über zwölf Jahre sehr tief nicht nur in Dreck und Niederlage, sondern auch in Schuld und Verbrechen hinein manövriert hat und dass es in dieser Situation keineswegs das Volk gewesen ist, die da revoltiert haben und ihrem Herrn an der Spitze die Gefolgschaft verweigert haben, sondern es waren relativ kleine Teile der Eliten, die versucht haben, in Form eines Staatsstreiches und eines Putsches diese Gruppierung loszuwerden. Das ist im Prinzip etwas, was in die DNA eines politisch bewussten Bundesbürgers Eingang gefunden hat oder haben sollte.
Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben zu Recht gesagt, ein relativ kleiner Teil der Eliten, also nicht, dass es so ankommt, die Eliten hätten Hitler bekämpft und das Volk hätte ihm zugejubelt.
Herfried Münkler: Nein, nein, sicherlich nicht, sondern man kann sagen, Hitler schmiedete ein Bündnis mit den Eliten. Teilweise ist das schon im Vorfeld seiner Ernennung zum Reichskanzler der Fall. Definitiv ist das der Röhm-Putsch. Und das Ende dieses Bündnisses ist das Attentat. Von nun an ist Hitler gegenüber diesem Typ von Eliten, den preußischen Eliten und sicher auch allen, die einen Adelstitel tragen, zutiefst skeptisch und lässt ja auch einen nicht unerheblichen Teil von ihnen in Plötzensee und Moabit hinrichten.
Das sind also zehn Jahre, in denen er ein sehr enges Bündnis mit ihnen gehabt hat. Das gilt im Übrigen so ähnlich für Mussolini. Heißt: Man kann eigentlich gar keine Politik machen, wenn man nicht in einem Bündnis mit bestimmten Eliten steht, weil man sozusagen aus dem Stand heraus so gar nicht weiß, wie Apparate funktionieren.
Ohne jetzt diesen Vergleich zu eng machen zu wollen, gilt das natürlich auch für alle populistischen Politiker, die an die Macht kommen, gilt auch für Trump, der sozusagen einen Anti-Establishment-Kurs, eine Darstellung, eine Rhetorik fahren kann. Aber um den Apparat am Laufen zu halten, braucht er natürlich diese administrativen Eliten und militärischen Eliten, die diplomatischen Eliten. Ohne die kommt er nicht durch. Mit den kulturellen Eliten vielleicht ist das nicht so zwingend. Das sind ja auch eher Deutungs- und Kritikeliten. Gegen die kann man durchaus Politik machen. Aber um das operative Geschäft zu bewältigen, kann man nicht sagen, ich habe hier ein paar Freunde mitgebracht und ich übernehme jetzt diesen Laden.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben vorhin gesagt, Herr Münkler, dass Politiker auch die Aufgabe haben, das Volk zu erziehen. Dann muss ja vielleicht Donald Trump doch seine Erziehungsmethoden ändern, wenn er ein erfolgreicher Präsident sein will.
Ich habe Zahlen noch von vor der Wahl, die habe ich von dem Politologen Jan-Werner Müller, der sie aus Umfragen haben wird, dass 84 Prozent von Trumps Anhängern in Florida meinen, Hilary Clinton gehöre ins Gefängnis. Und vierzig Prozent meinen, sie sei buchstäblich eine Dämonin. – Da ist doch dann was in den Erziehungsmethoden schief gelaufen.
Herfried Münkler: Zweifellos. Ich meine, ich hatte mich in meinem Beispiel ja auch sehr stark auf Deutschland bezogen, was aufgrund seiner eigenen Geschichte im 20. Jahrhundert diesen Gedanken ja bis ins Grundgesetz hineingeschrieben hat, dass nicht immer Volkes Stimme Gottes Stimme sei. Das ist etwas, was wir so nicht glauben, nicht glauben können.
Deutschlandradio Kultur: Okay, dann nehme ich mal eine deutsche Zahl. Die bezieht sich jetzt auf die Medien. Ich glaube, ungefähr vierzig Prozent aller Befragten meinen, dass die Medien in Deutschland von der Bundesregierung gesagt bekommen, was und worüber sie schreiben oder berichten sollen.
Herfried Münkler: Ja, gar keine Frage. Da ist in den letzten Jahrzehnten, muss man, glaube ich, sagen, eine Menge schief gelaufen. Nun ist die Katastrophe des NS mit dem Kriegsende ja auch schon mehr als siebzig Jahre her. Das heißt sozusagen, sie verliert an Präsenz in unserer Wahrnehmung von Strukturen. Man kann freilich sagen, die bundesdeutsche Bevölkerung hat im Vergleich mit anderen europäischen Bevölkerungen eine sehr hohe Populismusresistenz aufgewiesen die ganze Zeit. Aber das hält natürlich nicht auf Dauer. Und politische Erziehungs- oder man sagt vielleicht etwas schicker politische Bildungsprozesse müssen auch immer wieder neu aufgelegt und durchgeführt werden. Also, das ist nicht so leicht.
Nehmen wir mal das Beispiel Kompromissbildung. Je mehr einer Bevölkerung, einer Bürgerschaft an Politik partizipieren, desto mehr haben einen Sinn für Kompromisse, wissen das zu schätzen. Populismus ist unter anderem auch, das ist keine erschöpfende Definition, eine Verachtung gegenüber dem Kompromiss. Die Vorstellung, wir sind das Volk, wie das ja auch bei Pegida in Dresden gerufen wird, wir sind das Volk und wir haben im Prinzip die Letztentscheidungsinstanz, egal, wie klug wir sind.
Dem hat das Grundgesetz schon eine Reihe von Riegeln vorgeschoben durch die Unveränderbarkeit von Teilen der Verfassung, aber auch Zweidrittelmehrheit und letzten Endes das Bundesverfassungsgericht als die Institution, die so manches dann überprüft.
Also, wir haben eine sehr starke Vorstellung davon, dass die Willensbildung des Volkes etwas ist, was schwierig ist und woran Politik teilhaben muss und wo sie den Leuten auch erklären muss, was die Probleme von Entscheidungen sind und was mögliche Folgen sind.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade gesagt, Herr Münkler, es sei in den vergangenen Jahrzehnten viel schief gelaufen in Deutschland, was man ja vielleicht auch an diesen Umfragewerten zur Presse, auch zur sogenannten Lügenpresse sehen kann oder auch an den guten Umfragewerten eben für die AfD, an den Pegida-Demonstrationen. – Was ist denn schief gelaufen?
Herfried Münkler: Vielleicht zwei Dinge, nämlich erstens: Wir haben in wachsendem Maße Politikvermittlung aus dem Parlament heraus in Talk-Shows verlagert. Das Parlament ist sicherlich auch der Ort kontroverser Diskussionen, aber zugleich der Ort der Bildung von Kompromissen. Das ist in Talk-Shows nicht erforderlich, im Gegenteil. Die Logik der Aufmerksamkeitsbündelung von Talk-Shows ist, dass man im Prinzip eine Prämie auf möglichst extreme Auffassungen auszahlt, weil die in höherem Maße Aufmerksamkeit mobilisieren können. Denken wir nur an die eigentümliche Frau Illi , die neulich bei Anne Will gewesen ist in ihrer voll verschleierten Form.
Aber warum man sich gut…
Deutschlandradio Kultur: Was Sie mit dem Parlament gesagt haben, das stimmt ja sozusagen theoriepolitisch, also in der politischen Theorie. In der Praxis sind es ja die Ausschüsse, in denen die Kompromisse gefunden werden, nicht im Parlament.
Herfried Münkler: Ja, richtig, aber in der Wahrnehmung von Politik. Als ich ein junger Mann war, waren Parlamentsdebatten, in denen natürlich auch solche Streiter wie Strauß und Wehner noch eine Rolle gespielt haben, eigentlich ein Ort, an dem die politische Kultur stattgefunden hat. Mit der Erfindung der Talk-Shows im Fernsehen ist das ausgewandert. Also, der Bundestag ist doch eine relativ müde Veranstaltung.
Deutschlandradio Kultur: Das wird aber nicht der einzige Grund sein.
Herfried Münkler: Nein. Ich wollte auch nur sagen, das ist einer, aber es ist eine Prämie auf sehr extreme, ausgestellte Positionen und gleichzeitig eine Prämie auf das unverantwortliche Gerede, das man da haben kann. Im Parlament heißt das, wenn man die Mehrheit hat, muss man gewissermaßen das, was man gesagt hat, auch hinterher einlösen. Jedenfalls ist das der Anspruch. – Das ist der eine Gesichtspunkt.
Der andere ist: Wir haben nach der Wiedervereinigung viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf verwandt, wie in der DDR die Nazizeit verarbeitet worden ist, und haben aus dem Auge verloren, dass die Nationalsozialismus nie gesagt haben, bei denen hieß das immer Faschismus. Das heißt, es ging nur um Kapitalismus, Sozialismus, die Rassenfrage spielte keine Rolle. Und relativ früh hat man sich dort als der Sieger der Geschichte gefühlt. Das heißt, diese Auseinandersetzung mit eigener Schuld, eigenem Tätertum, die hat dort nicht stattgefunden.
Und das ist für mich mit eine der Erklärungen dafür, warum erstens Pegida ein Dresdner oder ein sächsisches Phänomen ist und warum auch, auch wenn die AfD in einer Reihe von westdeutschen Landtagen ist, aber die Zustimmung zur AfD in den neuen Bundesländern sehr viel höher ist. Das ist einfach verabsäumt worden, weil man gedacht hat, mehr als vierzig Jahre nach Kriegsende wird das doch kein Problem mehr sein.
Nur dann stellt sich heraus, es ist doch ein Problem, weil….
Deutschlandradio Kultur: Auch in Baden-Württemberg.
Herfried Münkler: Ja, ja, das will ich ja gar nicht bestreiten, dass es das auch gibt. Aber es gibt auch signifikante Differenzen zwischen Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern auf der einen und Baden-Württemberg auf der anderen Seite.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja auch immer wieder den Vorwurf von konservativer Seite, dass die Mainstr eam-Medien, die Mainstream-Eliten, Wissenschaft, Politik usw. solche großen Zäune, Schutzzäune gezogen hätten im Namen der sogenannten politcal correctness. Donald Trump hat die ja immer eingerissen und ist dafür belohnt worden.
Sehen Sie das in Deutschland wirklich als Problem? Sind die Tabus so groß?
Herfried Münkler: Ich würde jetzt nicht sagen, dass es ein dramatisches Problem ist, aber es spielt sicherlich eine Rolle, dass sozusagen in dem Sinne von political correctness ganz bestimmte Punkte nicht angesprochen werden durften. Und das ist aber etwas, was dadurch nicht aus der Welt ist und auch nicht kommunikativ aus der Welt ist, sondern man kann das ja dann auf den sozialen Medien durchaus finden.
Darüber muss man nochmal nachdenken, also inwieweit Verbeugungen vor political correctness möglicherweise den genau entgegengesetzten Effekt haben und natürlich sozusagen die deftige Sprache von Trump, die herabsetzende Sprache von Trump auch so etwas wie ein demonstratives Werben dafür gewesen, jetzt einmal wirklich wieder richtig das Maul aufzumachen.
Deutschlandradio Kultur: Wobei ich mich immer frage, was eigentlich diese berühmte political correctness, das ist so ein negativer Begriff geworden, was das eigentlich heißen soll. Wenn man sie abschafft, ist das dann ein Freibrief, um alle anderen Menschen zu beleidigen?
Aber es gibt zumindest, meine ich beobachtet zu haben, auch häufig in der politischen Diskussion seitens der sogenannten liberalen aufgeklärten Linken so eine Art Paternalismus. Sie sagten vorhin, ja, die Wähler sind eben auch dumm, die zum Beispiel Trump gewählt haben. Und hierzulande sagt man meinetwegen jetzt über – sagen wir mal – kriminelle Flüchtlinge, lasst uns mal lieber nicht drüber berichten. Das Volk ist zu dumm, um zu differenzieren. Die werden dann sagen, es sind alle Flüchtlinge kriminell.
Herfried Münkler: Ja. Gut, das würde ich jetzt aber auch für mich selber nicht eng schließen, sondern ich würde immer sagen: Ja, ja, das ist schon so, dass viele Leute wenig Ahnung von bestimmten Problemen haben, sei es, weil sie keine Zeit haben, sei es, weil sie sich nicht dafür interessieren. Aber das heißt nicht, dass man es ihnen nicht darlegen darf und nicht darlegen sollte. Denn wenn man das nicht tut, also, wenn man gewissermaßen paternalistisch sozusagen mit bestimmten Sprechverboten, die man sich selber auferlegt, arbeitet, dann öffnet man eigentlich nur über kurz oder lang alle Türen des Misstrauens. Und dann…
Deutschlandradio Kultur: Und auch der Wut und auch berechtigterweise.
Herfried Münkler: Und auch der Wut und des Gefühls, wir werden hier an der Nase herumgeführt und Statistiken werden geschönt und derlei mehr. Also, auch wenn der Satz, glaube ich, nach wie vor gilt, nicht das Volk in seiner Gesamtheit, aber es gibt große Teile des Volkes, die sind nicht besonders informiert, geben sich auch keine Mühe, glauben aber dafür umso besser genau zu wissen, was der Fall ist. Also: sie sind dumm, wenn ich das mal so zusammenfassen darf. Dann heißt das trotzdem nicht, dass man in der Demokratie sagen darf, deswegen sehen wir zu, dass wir sie aus dem Spiel heraus nehmen, indem wir ihnen bestimmte Informationen, die sie missverstehen könnten, missinterpretieren könnten, vorenthalten. Das ist ganz falsch.
Das konnte man vielleicht früher, als man Informationsmonopole hatte. Da das heute nicht mehr der Fall ist, sollte man die Finger davon lassen, sondern Probleme ansprechen, über Probleme sprechen und in diesem Sinne auch darauf setzen, dass man Leute, auch wenn sie dumm sind, doch mit der Zeit klüger machen kann. – Da ich Hochschullehrer bin, bin ich sozusagen mit diesem Problem ja professionell vertraut.
Deutschlandradio Kultur: Und dürfen die Hoffnung natürlich nicht aufgeben.
Herfried Münkler: Das will ich auch nie tun. Ich glaube auch, dass man sagen kann, in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt nicht nur der Satz von Heiner Müller, "zehn Deutsche sind selbstverständlich dümmer als ein Deutscher", sondern es gilt auch die Beobachtung, die haben etwas gelernt im Verlauf ihrer Geschichte. Es müssen nicht unbedingt dieselben gewesen sein, aber als Kollektivsubjekt gibt es ein Lernen. Das kann man schon sagen. Das schließt aber auch ein, dass sie vorher dumm waren.
Deutschlandradio Kultur: Insgesamt kann man ja aber feststellen, dass sich schon der politische Diskurs nach rechts verlagert hat. Also, die AfD hat die Wahlerfolge und es gibt ja den einen oder anderen konservativen Politiker, der sich Erfolg davon verspricht, indem er ihre Parolen kopiert. Oder blicken wir nach Frankreich, wo Nicolas Sarkozy sich häufig genug ja auch anhört wie ein Mitglied des Front National.
Das heißt, auch wenn die AfD in Deutschland noch keine absoluten Mehrheiten einfährt, aber doch dafür gesorgt hat, dass sich die Koordinaten im politischen System schon verschoben haben.
Herfried Münkler: Ja, das ist eine interessante Beobachtung, die Sie da ins Spiel bringen. Denn gleichzeitig hat man ja auch immer gesagt, und das gilt vermutlich bis heute: Frau Merkel hat die CDU nach links verschoben oder sie hat sogar die Mitte nach links verschoben. Der Raum für die Sozialdemokraten ist kleiner geworden. Und dann könnte man zweierlei daraus schlussfolgern. Nämlich erstens, dass es sozusagen eine Gleichzeitigkeit gibt der Verschiebung des Mainstreams der politischen Auffassungen.
Deutschlandradio Kultur: Zu den Rändern hin?
Herfried Münkler: Eher gewissermaßen zu einer linken Mitte hin und damit ein Sichtbarwerden nicht eingebundener rechter Auffassungen, konservativer Auffassungen, nationalistischer Auffassungen, also ein Problem innerhalb der CDU. Und andererseits befinden wir uns gesellschaftlich in einer Situation, in der wir nicht mehr sagen können so ohne Weiteres, wir sind eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft, wie Schelsky das formuliert hat. Das heißt, den sichtbar werdenden Spaltungslinien in der Gesellschaft sozialer Art entsprechen auch stärkere Unterschiede politischer Art.
Viele derer, die populistisch wählen, ich vermute mal, ziemlich egal, ob links- oder rechtspopulistisch, sind enttäuscht von dem System, fühlen sich ausgegrenzt, abgehängt und machen gewissermaßen politisch einmal ihr Bäuerchen. Das heißt nicht, dass sie eine sehr genaue Vorstellung davon haben, wie Politik anders läuft. Das weiß man ja auch aus den Umfragen, dass viele AfD-Wähler sich gar nicht mit deren Programmatik beschäftigt haben. Sondern sie wollen Denkzettel verteilen, gelbe Zettel ankleben und drauf schreiben: Hallo, das Volk, also ich, war hier.
Deutschlandradio Kultur: Genau, Denkzettel verteilen. Jürgen Kaube schrieb neulich in der FAZ so schön, dass die Politiker nicht begriffen hätten, dass es nicht darum geht, dass da unbedingt was Kluges drauf steht. Hauptsache der Denkzettel wird verteilt.
Herfried Münkler: Das hat der Jürgen Kaube ganz richtig gesehen, glaube ich.
Deutschlandradio Kultur: Es stehen ja einige Wahlen an in Europa in den kommenden Wochen und Monaten, also zuerst die Präsidentschaftswahl in Österreich, wenn sie denn stattfindet, ist gemein, nicht? – dann die Parlamentswahlen …
Herfried Münkler: .. haben die Ösis verdient.
Deutschlandradio Kultur: .. in den Niederlanden im März, Präsidentschaftswahlen in Frankreich April und Mai. Und bei all diesen Wahlen haben Populisten, sagen wir mal, doch realistische Chancen, an die Spitze zu kommen.
Herfried Münkler: Ja, ich glaube, was wir zurzeit konstatieren können - in die Liste, die Sie aufgeführt haben, könnte man ja auch noch Brexit, die Viségrad-Staaten und deren nationalkonservative bis rechtspopulistische Regierungen und schließlich den Wahlsieg von Donald Trump einrechnen -, all das, ein Bedürfnis, die Welt kleinräumiger zu gestalten, eine Rückkehr zu Staaten mit klaren Grenzen, weg von komplexen globalen Zusammenhängen, die auch keiner durchschaut und bei denen man möglicherweise investiert, ohne dass man ausschließlich selber als Investor das auch konsumiert.
Was ich damit im Auge habe, ist ein in der Tat intellektuelles Vermittlungsproblem großräumiger Ordnung, also, sagen wir mal, der EU oder von Welthandelssystemen, nämlich dass es so etwas gibt wie kollektive Güter, die für alle bereit gestellt werden und von deren Genuss auch diejenigen nicht ausgeschlossen werden können, die zu deren Zustandekommen nichts beigetragen haben.
Das ist natürlich für das so genannte gesunde Gerechtigkeitsempfinden ein Skandalon. So sind aber nun mal kollektive Güter – wie saubere Luft. Da gibt es also welche, die sie verpesten und kaputtmachen. Und die haben trotzdem denselben Anspruch darauf wie möglicherweise Leute, die nur mit dem Fahrrad fahren oder mit dem Roller oder was auch immer.
Deutschlandradio Kultur: Aber das ist interessant. Sie sprechen von einem Vermittlungsproblem. Das ist ja, was viele Politiker tun und was ja dann auch wieder viele Menschen ärgert, weil da drin ja steckt: Wir haben Recht, du hast es nur noch nicht verstanden.
Herfried Münkler: Ach, ich weiß nicht, ob das heißt, wir haben Recht, sondern: Wenn du willst, dass wir eine großräumliche Ordnung haben, die in ganz anderer Weise an der Frage der Generierung der Summe des Gesamtwohlstands orientiert ist, dann musst du bereit sein, bestimmte Konsequenzen zu tragen. Also, dann muss man bereit sein zu akzeptieren, dass die Bundesrepublik Deutschland sehr viel mehr in die EU investiert, als sie von ihr heraus bekommt. Das ist nun mal so.
Nun könnte man sagen, okay, dann gefällt uns die EU aber nicht mehr, wie das ja in den Anfangsgründen der AfD in der Frage des Euros und überhaupt der EU-Skepsis der Fall gewesen ist, und wir scheiden aus, mit der Vorstellung, ja, dann zahlen wir aber diese Milliarden nicht mehr ein und die bleiben dann bei uns.
Das ist natürlich sehr kurz gesprungen, und da zeigt sich ein strukturelles Problem, das den Prozess der Globalisierung in demokratietheoretischer Hinsicht begleitet, nämlich dass man ein ausgesprochen kluges, weitsichtiges, mit hoher Urteilskraft ausgestattetes Volk braucht, um in einem solchen System an den zentralen Gelenkstellen sitzen zu können.
Die Franzosen haben das nicht. Schauen Sie: Wenn man erklären will, warum die deutsch-französische Lokomotive nicht mehr funktioniert, kann man vielerlei sagen, aber ein wichtiger Punkt ist die Stärke des Front National in Frankreich mit dem Ergebnis, dass die Franzosen, weder eine sozialistische Regierung, noch eine bürgerliche Regierung, die Strukturreformen hinbekommen hat, die dringend erforderlich wären, weil sie immer sozusagen in den rechten oder linken Rückspiegel gucken und sich fragen: Was macht die Blonde?, also Marine Le Pen. Und dann zaudern sie wieder, weil sie ihr unter keinen Umständen Futter geben wollen – mit dem Ergebnis, dass Frankreich in Europa nicht mehr die Rolle spielt, die es mal gespielt hat, mit der Folge, dass Deutschland noch eine sehr viel stärkere Rolle spielt.
Heißt aber: Wenn wir eine starke AfD im Bundestag haben, wird Deutschland diese Rolle nicht mehr spielen können, wird vermutlich das auch auf eine weitere Erosion oder Agonie der EU hinauslaufen etc.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben das Stichwort gegeben. Wir haben ja gerade diese ganzen Länder aufgezählt, ich ein paar, Sie ein paar mehr, wo ein Rechtsruck droht oder schon stattgefunden hat. Im Spätsommer, Frühherbst wird es ja Bundestagswahlen geben. Und Sie haben eingangs gesprochen von der Populismusresistenz der Deutschen. – Setzen Sie noch auf die?
Herfried Münkler: In gewisser Hinsicht schon. Und wenn wir auch die von mir aus besorgniserregenden Ergebnisse der AfD in Deutschland vergleichen mit dem, was unsere Nachbarn in ihrem Wahlverhalten an den Tag legen, dann – glaube ich – kann man sie immer noch beobachten, aber sie ist nicht mehr so stark. Sie ist sozusagen kein Bollwerk mehr. Man muss sich wieder um sie bemühen. Man muss auch wieder investieren in die Sachverständigkeit des Bürgers oder des Wählers.
Das ist kein Vorgang, den man ein für allemal gemacht hat und danach hat man nur noch kluge Wähler, sondern das ist eigentlich ein tagtäglicher Prozess oder ein tagtägliches sich Abmühen.
Deutschlandradio Kultur: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Herfried Münkler: Gerne.