Politikwissenschaftler Herfried Münkler über die 2020er-Jahre

Die Zeiten werden instabiler

29:24 Minuten
Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, 2018.
"Wir werden eine neue Weltordnung haben, die keinen Hüter mehr hat, wie das die USA gewesen sind", sagt Politikwissenschaftler Herfried Münkler. © picture alliance / dpa / Soeren Stache
Von Gerhard Schröder |
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Der Rechtspopulismus und die Erosion der Volksparteien, wirtschaftliche Umbrüche und eine neue Weltordnung: Das neue Jahrzehnt werde unruhiger als das alte, sagt Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Zugleich warnt er vor zu viel Schwarzmalerei.
Vergleiche mit den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, mit der Weimarer Republik, sind derzeit in Mode. Tatsächlich könne man einiges lernen aus der Geschichte, meint Herfried Münkler: Zum Beispiel, wie eine Weltwirtschaftskrise ins politische Verderben führen könne; oder wie die Domestizierung der Faschisten um Hitler scheiterte.
Dies könne auch eine Lehre für die heutige Zeit sein, sagte Münkler mit Blick auf die rechtspopulistische Alternative für Deutschland AfD. Dort hätten sich auf breiter Front die radikalen Kräfte des völkisch-nationalen Flügels durchgesetzt. "Insofern kann ich da nur abraten zu sagen, wir machen Koalitionen mit der AfD, um diese auf diese Weise zu entzaubern", sagt Münkler. Weil gleichzeitig die großen Parteien schrumpften, werde die Regierungsbildung in den nächsten Jahren aber schwieriger.
Noch sei die wirtschaftliche Lage, anders als in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stabil. Allerdings hinke Deutschland wie Europa auf vielen Feldern hinter China und den USA her, bei der Digitalisierung zum Beispiel oder bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz.
Bestehen könne Europa in diesem Wettbewerb nur, wenn es gelinge, das wirtschaftliche und politische Auseinanderdriften stoppen. Denn auch die geopolitischen Rahmenbedingungen hätten sich grundlegend geändert: "Wir werden eine neue Weltordnung haben, die keinen Hüter mehr hat, wie das die USA gewesen sind."
Europa müsse auf eigenen Beinen stehen, fordert Münkler. Dabei komme Deutschland eine entscheidende Führungsaufgabe zu. "Da bin ich ein bisschen skeptisch mit Blick auf den amtierenden Außenminister, der viel zu wenig davon begreift, was die damit verbundenen Herausforderungen sind."

Herfried Münkler, geboren 1951, zählt zu den renommierten Politikwissenschaftlern in Deutschland. Er lehrte an der Humbold-Universität in Berlin, sein Schwerpunkt ist die Politische Theorie und Ideengeschichte. Bekannt wurde er durch seine Arbeiten über Macchiavelli, den Aufstieg und Zerfall von Imperien und die Logik der modernen Kriegsführung. Immer wieder schaltet er sich in die aktuellen politischen Debatten ein, zuletzt mit seiner Schrift "Abschied vom Abstieg - Eine Agenda für Deutschland".

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Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Wir blicken heute, am 4. Januar 2020 auf das gerade angebrochene Jahrzehnt. Und wir fragen: Was bringen die neuen 20er-Jahre? Wie gefestigt ist unsere Demokratie? Und welchen Sinn machen eigentlich historische Vergleiche, Vergleiche mit der Weimarer Republik? Darüber wollen wir sprechen mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler.
Herr Münkler, Deutschland im Jahr 2020 ist eine reiche Nation, ein reiches Land, eine gefestigte Demokratie, gewachsen in Jahrzehnten des Friedens. Deutschland im Jahr 1920 war eine junge Republik nach einem verheerenden Krieg, geprägt von Armut und Massenelend. Können wir trotzdem etwas aus der Geschichte lernen? Machen historische Vergleiche in diesem Sinne Sinn?
Herfried Münkler: Wenn man den Vergleich versteht als eine andere Herangehensweise als eine Gleichsetzung, das wird ja häufig miteinander verwechselt, dann, glaube ich, macht das durchaus einen Sinn, weil man Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede beobachten kann. Unterschiede, wie Sie sie eben gerade angesprochen haben, so dass man also nicht in die Selbstsuggestion hinein gerät, alles, was vor hundert Jahren gewesen sei, werde sich heute so wiederholen. Der große Vorzug ist, wir haben die Vergangenheit als Spiegel.
Wir können daraus lernen, also – was weiß ich – wie man eine Weltwirtschaftskrise beziehungsweise ihren Ablauf nach 1929 vermeiden kann durch eine andere Wirtschaftspolitik, als die von Heinrich Brüning etwa. Man kann auch etwas lernen im Hinblick auf Friedensordnung, also die Probleme in der Regel des Versailler Vertrags, aber eigentlich müsste man sagen, der Pariser Friedensordnung. Insofern kann man schon was lernen, aber man sollte nicht in die Suggestion verfallen, dass sich Geschichte 1:1 wiederholt.

Risiken im kollektiven Gedächtnis

Deutschlandfunk Kultur: Und wir können auch etwas daraus lernen, wie wir das Scheitern einer Demokratie verhindern?
Münkler: Im Prinzip ja. Aber da ist vielleicht jetzt die Weimarer Situation nur begrenzt lehrreich. Natürlich kann man sagen, die Erosion der sozialen Mitte aufgrund der von Ihnen schon angesprochenen ökonomischen Probleme, etwa der Enteignung oder Verarmung von Teilen des Mittelstandes durch die Inflation von ’23; die Wiederholung dessen, jedenfalls in ihren sozialen Folgen, die Intensivierung noch einmal durch die Weltwirtschaftskrise, das hat auch dazu geführt, dass die gesellschaftliche Mitte politisch auseinandergebrochen ist, dass die Extreme, insbesondere von rechts, bis weit, weit, weit in die Mitte hineingedrungen sind.
Deutschlandfunk Kultur: Aber da, sagen nun viele unter Blick auf die Statistiken, ist die Situation heute eine ganz andere. Wir haben so eine lange Aufschwungsphase hinter uns, wie wir das auch in den Jahrzehnten des Nachkriegsdeutschlands selten erlebt haben. Ist das nicht der gravierendste Unterschied zu den 1920er-Jahren?
Münkler: Das ist sicherlich eine der ganz zentralen Differenzen. Da kann man auch sagen, dass jetzt in den 10ern, in den zurückliegenden 10er-Jahren die Deutschen doch eine relativ lange und in mancher Hinsicht nach wie vor zu beobachtende Resistenz gegenüber den Suggestionen vor allem des Rechtspopulismus haben, hat auch etwas damit zu tun, dass sie die 1920er-Jahre gewissermaßen im kollektiven Gedächtnis präsent haben und eine ganz andere Vorstellung von den Risiken, die damit verbunden sind, rechtspopulistischen Sirenengesängen da zu folgen.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist eine gewagte These, weil gerade in einer Phase von einer so großen wirtschaftlichen Stabilität entdecken wir ja genau das, nämlich das Erstarken des rechten Randes – einer Bewegung, die diese Demokratie doch fundamental infrage stellt.
Münkler: Ja, das ist richtig. Aber wenn wir mal vergleichen mit unseren europäischen Nachbarn, kann man sagen, die Deutschen sind von einer erstaunlichen Gelassenheit, jedenfalls, wenn man in die Geschichte zurückguckt, von einer erstaunlichen Gelassenheit im Unterschied zu den Franzosen, im Unterschied zu den Italienern, die ja im Prinzip eine Koalition aus Rechts- und Linkspopulisten bis vor kurzem gehabt haben und jetzt einen Regierungswechsel durchgeführt haben, der aber sehr instabil ist – auch im Unterschied in vieler Hinsicht zu den skandinavischen Ländern, also all jenen, die meiner Generation jedenfalls immer wieder als kritischer Spiegel mit Blick auf den Untergang der Weimarer Republik vorgehalten worden sind.

AfD bundesweit bei 15 Prozent eingependelt

Hier in Deutschland kann man sagen: Na ja, bei 15 Prozent scheint sich die rechtspopulistische AfD eingependelt zu haben. Im Osten ist sie höher. Aber im Osten ist die Zeit des Untergangs der Weimarer Republik und vor allen Dingen die Zeit des Nationalsozialismus auch anders behandelt worden, nämlich unter der Überschrift "Faschismus", wohingegen die alte Bundesrepublik – sagen wir mal ab den späten 60er-, frühen 70er-Jahren – das Thema auch betrachtet hat im Hinblick auf bestimmte Volksgemeinschaftsvorstellungen, antiindividualistische Dispositionen, die Herausarbeitung des Antisemitismus als Bestandteil des Rassismus und derlei mehr. Das scheint doch eine gewisse Imprägnierung bewirkt zu haben.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt: 30 Prozent würden Sie der AfD oder einer rechtspopulistischen Bewegung in Westdeutschland nicht zutrauen?
Münkler: Nein. Das zeigen alle Umfragen im Augenblick. Ein Argument war ja: "Prosperität schützt vor politischer Erosion der Mitte". Das tut sie in gewisser Hinsicht auch – aber wir können natürlich nicht sicher sein, wie lange angesichts der Herausforderungen – Stichwort Globalisierung, Digitalisierung – diese Prosperität in Deutschland halten wird.
Deutschlandfunk Kultur: Da kommen wir gleich noch zu. Das Erstarken des Rechtspopulismus ist begleitet oder vielleicht auch erst möglich geworden durch die Erosion der Volksparteien. Da stellen wir doch fest, dass viele diesen großen Parteien, die jahrzehntelang doch eine politische Stabilität garantiert haben, nicht mehr zutrauen, dass sie die gravierenden Probleme lösen. Nach den jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland war vom Verlust der politischen Mitte die Rede. Da ist dann ja schon die Frage, wenn in der Mitte ein Vakuum entsteht: Wer füllt das aus?
Münkler: Gut. Nun muss man, wie ich es ja schon gesagt habe, doch deutlich unterscheiden zwischen der politischen Entwicklung in Ostdeutschland und in Westdeutschland. Das ist nicht nur eine Frage des Sozioökonomischen – zweifellos auch, sondern auch eine Frage der politischen Kultur, die sich nun mal im Osten ganz anders entwickelt hat, wo die Volksparteien eigentlich immer eine ziemlich überschaubarer Mitgliederzahl hatten, sodass sie also auch – Beispiele jüngster Art aus Sachsen-Anhalt lassen da grüßen – relativ leicht unterwanderbar ist durch Leute, die auf der Grundlage gewisser Kadervorstellungen im Prinzip Volksparteien auf kommunaler Ebene kapern können.

Erosion der Volksparteien

Deutschlandfunk Kultur: Aber die Erosion der Volksparteien sehen wir auch in Westdeutschland.
Münkler: Ja.
Deutschlandfunk Kultur: Ist der Unterschied, dass da andere Kräfte, etwa die Grünen, dort in der Mitte Fuß fassen?
Münkler: Ja, ich meine, wenn man davon ausgeht, dass die Grünen auch in einiger Zeit noch so um die 20 Prozent sich positioniert haben und diese Verluste auch zu Lasten der CDU, aber vor allen Dingen zu Lasten der SPD gehen, wenn man das mit einiger Ruhe betrachtet, kann man sagen: Rechnen wir sie noch einmal zusammen, SPD und Grüne und die Linkspartei, dann hat sich innerhalb des Parteienspektrums so dramatisch viel gar nicht verschoben. Die einzige folgenreiche Verschiebung ist das Auftauchen der AfD, die in gewisser Hinsicht eine ähnliche Funktion hatte für die CDU wie es für die SPD die Grünen waren, also einen Teil ihres Wählerpotenzials abgezogen hat.
Wobei man sagen kann, bei der AfD dürften auch materielle Werte, also das Bedrohtheitsgefühl durch andere, Fremde, was auch immer, die gesamte xenophobe Grundierung innerhalb des Auftritts der AfD auf der einen Seite Rolle spielen, auf der anderen Seite aber auch postmaterielle Erwägungen wie etwa kulturelle Tradition, Identität und Ähnliches mehr.
Wir sollten davon ausgehen, dass die Volksparteien jedenfalls nicht mehr in der Lage sein werden, Werte über 40 Prozent zu erreichen. Bei der Sozialdemokratie würde ich auch sagen, wenn sie über 20 Prozent kommen, dann können sie sich rechts und links auf die Schulter klopfen – jedenfalls in der augenblicklichen Situation.
Das heißt im Ergebnis, um Ihre Frage aufzunehmen: Regierungsbildung ist schwieriger.
Deutschlandfunk Kultur: Aber das macht Ihnen keine Sorge?
Münkler: Na ja, gut. Ich meine, es wäre doch furchtbar, wenn die Republik immer so wäre, wie sie in den 60er und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewesen ist; sondern natürlich gehört mit veränderten Herausforderungen, veränderten europapolitischen, weltpolitischen Lagen auch eine Veränderung der Parteienlandschaft dazu. Und Parteien haben mitunter auch ihre Programme verbraucht beziehungsweise die Werturteile – sagen wir mal bei der CDU die ausgesprochene Kirchenbindung – erodieren auch. Das können wir beobachten. Und so wie bei der CDU die Kirchenbindung in ihrem Rückgang ein Problem ist, ist es bei den Sozialdemokraten vermutlich die Erosion der Gewerkschaften, auch im Hinblick auf ihre Mitglieder. Dass das Folgen hat, also ein aufsteigender Individualismus innerhalb einer Gesellschaft Folgen hat, das ist eigentlich ziemlich klar und zu erwarten.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Münkler, Sie haben eben die Grünen erwähnt und deren Bedeutung für die SPD und dass sich im Prinzip auf dem linken Flügel so viel mathematisch auch nicht verändert hat, aber dass die AfD im Prinzip das für die CDU jetzt bedeutet. Die Integration der Grünen ist ja ganz gut gelungen. Also, würden Sie da sagen, auch die AfD ins demokratische System zu integrieren kann gelingen und vielleicht sogar belebend, beflügelnd wirken, weil sie Themen einbringt, weil sie Bevölkerungsgruppen für das demokratische System bindet?
Münkler: "Hätte gelingen können", würde ich darauf antworten.
Deutschlandfunk Kultur: Die Chance ist vorbei?
Münkler: Ja. Es spricht ja vieles dafür, dass der Flügel, also, würde man das jetzt auf die Grünen blenden, die kleinen Gruppierungen, die früher beim KBW gewesen sind und die in die Grünen eingetreten sind und dort dann politische Karriere gemacht haben, gewissermaßen das als eine Plattform benutzt hätten, um ihre ursprünglichen steinzeitkommunistischen Vorstellungen mit Nordkorea und Albanien als Vorbild umzusetzen.
Deutschlandfunk Kultur: Bei den Grünen haben sich die Realos durchgesetzt.
Münkler: Ja.

In der AfD haben sich die radikalen Kräfte durchgesetzt

Deutschlandfunk Kultur: Bei der AfD scheint sich der völkische Flügel durchzusetzen.
Münkler: Das macht den Unterschied. Strukturell auf den ersten Blick ist es eine Spiegelung der jeweiligen Außenseiten. Bei den Grünen ist aber die Entwicklung ganz anders gelaufen. Man kann sagen, den Grünen ist das tatsächlich gelungen, was Gauland immer nur behauptet, nämlich die Entwicklung zu einer bürgerlichen Partei.
Und wenn für die 20er-Jahre zu erwarten steht, dass es sogenannte Schwarz-Grüne-Koalitionen gibt, ist das ja der Ausweis dessen, dass hier ein arriviertes Bürgertum, dem es nicht wesentlich darauf ankommt, noch mehr an materiellen Gütern und Steuererleichterungen zu haben, sondern gewisse Werte und Zukunft im Auge zu haben, dass die Koalition mit liberal-konservativen Parteien, etwa der CDU, eingehen.
Das, glaube ich, wird bei der AfD nicht der Fall sein. Dafür haben sich in den letzten zwei, drei Jahren zu viele Entwicklungen vollzogen – von dem Sturz von Lucke, Sturz von Petri und der Durchsetzung eigentlich immer stärker national-konservativer, um nicht zu sagen "national-sozialer" Positionen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber jetzt gibt es ja auch einen konservativ-bürgerlichen Flügel in der AfD. Der völkische Flügel ist vor allem in Ostdeutschland sehr stark dominant. Also, ist das für Sie schon klar, dass die AfD auch als Bündnispartner für die anderen demokratischen Parteien ausfällt?
Münkler: Na ja, das eine ist sozusagen der Blick auf die Gegenwart. Nun kann man sagen, in Baden-Württemberg, aber auch in Bayern hat dieser völkische Flügel sich ganz schön durchgesetzt, offenbar darum, weil er besser organisiert ist, besser strukturiert ist, in höherem Maße kooperiert und einen Plan hat. Das ist offenbar auf der konservativ-bürgerlichen Seite so nicht der Fall. Deswegen verlieren die eine Auseinandersetzung tendenziell nach der anderen.
Und da ist es nicht uninteressant, nochmal zurückzuschauen in die späte Phase der Weimarer Republik. Denn da scheinen mir dann doch auffällige Ähnlichkeiten zu bestehen, wo man ja auch sagen kann: Koalition der radikalen Elemente, also Teilen der NSDAP, war eine Koalition mit konservativ-bürgerlichen Gruppierungen, von der DNVP bis hin auch zu Teilen des Zentrums, die dann übergelaufen sind. Letzten Endes konsolidiert Hitler seine Macht, indem er den linken Teil der NSDAP in der "Nacht der langen Messer", also 1934, liquidieren lässt und begründet darauf ein Bündnis mit den konservativen Eliten – mit dem Ergebnis allerdings, dass politisch die konservativen Eliten ziemlich stillgestellt sind.

AfD kein Koalitionspartner

Deutschlandfunk Kultur: Also, die Integration oder die "Domestizierung", wie das ja auch damals genannt wurde, der nationalsozialistischen Bewegung ist gescheitert. Können wir daraus, wenn ich Sie richtig verstehe, die Folgerung ziehen, diese Domestizierung sollte man heute auch nicht in Erwägung ziehen? Also, die AfD als Bündnispartner fällt aus.
Münkler: Ja, in der augenblicklichen Situation, wo man beobachten kann, dass der Flügel ganz eindeutig die AfD strukturell im Griff hat und dass andere Personen so ein bisschen was wie Maskierungen sind oder vorgeschobene Zeichen von Bürgerlichkeit, hinter denen sich aber ganz andere Kräfte verbergen und organisiert haben. Insofern kann ich mir auf absehbare Zeit nicht vorstellen, dass es eine Domestizierung der AfD gibt oder ein Aufsaugen durch eine große Volkspartei, wie man das etwa in den 1950er Jahren mit BHE und anderen beobachten kann. Die FDP ist im Prinzip die einzige, die sich da als Alternative behauptet. Insofern kann ich da nur abraten zu sagen, "wir machen Koalitionen mit der AfD, um diese auf diese Weise zu entzaubern, denn dann müssten sie gewissermaßen an den Fleischtöpfen der Macht zeigen, dass sie auch nur mit Wasser kochen". Oder gar die radikalen Elemente in solchen Koalitionen auszuschalten, das sehe ich nicht, sondern da lohnt auch der vergleichende Blick sonst nach Europa. Salvini etwa in Italien ist in der Koalition mit Cinque Stelle, also einem eher linkspopulistischen, einer eher linkspopulistischen Organisation stark und stark und stärker geworden. Und es ist überhaupt keine Domestizierung gelungen und auch keine Entzauberung. Ich denke, dass man im Konrad-Adenauer-Haus so etwas durchaus vor Augen hat und deswegen auch entsprechenden Überlegungen von einigen Polit-Desperados in den neuen Bundesländern innerhalb der CDU, Koalitionen mit der AfD einzugehen – beziehungsweise, die sagen das so nicht, sondern "Minderheiten-Regierung", die da von der AfD toleriert würden – dass man denen eine Absage erteilt.

Nachholbedarf gegenüber Asien und USA

Deutschlandfunk Kultur: Herr Münkler, wenn in einer Phase wirtschaftlicher Stabilität, wir haben das angesprochen, dieses demokratische System schon infrage gestellt hat, lohnt der Blick auf das, was kommt, nämlich möglicherweise wirtschaftlich unruhigere Zeiten – Stichwort demographischer Wandel, Stichwort Digitalisierung. Da sind wirtschaftliche Strukturwandel zu erwarten. Was bedeutet das für die politische Stabilität? Müssen wir uns da dann nicht wirklich Sorgen machen, dass eine echte Krise vielleicht erst noch kommen kann und dann auch das demokratische System vielleicht doch noch mehr infrage gestellt wird?
Münkler: Das kann man sicher nicht ausschließen, wenn Sie das so beschreiben. Die 20er-Jahre werden vermutlich nicht durch eine doch so hohe wirtschaftliche und politische Stabilität gekennzeichnet sein. Es kommt ja nicht nur hinzu, dass die von Ihnen angesprochenen Probleme – demographischer Wandel, Digitalisierung und derlei mehr – da sind, sondern auch natürlich Dekarbonisierung, also der Ausstieg unserer Wirtschaft aus fossilen Energien auf der einen Seite, ohne gleichzeitig in massiver Weise auf Atomenergie zurückgreifen zu können, weil wir das so politisch nicht wollten.
Das sind natürlich auch Chancen. Ich würde jetzt nicht nur die Probleme beschreiben für die 20er-Jahre, sondern auch die Möglichkeiten und Herausforderungen etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz, wo die Europäer in ihrer Gesamtheit einen dramatischen Nachholbedarf gegenüber Ostasien, gegenüber den USA und anderen haben. Wenn man da, gerade als Bundesrepublik Deutschland, innerhalb des europäischen Verbundes sich als eine wirtschaftlich-technologische Lokomotive erweisen kann, dann sollte eigentlich da auch relativ viel an Prosperität in dieses Land hineinfließen. Das sind aber natürlich Konditionalsätze. Ob das gelingt, weiß keiner.

Deutschland kommt in Europa eine Führungsrolle zu

Deutschlandfunk Kultur: Die Lissabon-Strategie mit genau diesem Ziel, nämlich Europa zur modernsten Wirtschaftsform der Welt zu machen, gab es schon vor 15 Jahren. Viel rausgekommen ist nicht. Europa befindet sich eigentlich in einem permanenten Abwehrkampf, um den Zerfall der politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft zu verhindern.
Münkler: Ja gut, das ist ein klassisches Problem Europas. Wir beobachten es zurzeit in Frankreich, sozusagen im Kampf zwischen Macron und – na sagen wir mal "der Straße", was auch immer das ist, erst Gelbwesten, jetzt sozusagen die Antireformbewegung im Hinblick auf die Renten und Pensionen; Italien, das seine Probleme durch immer weiter wachsende Verschuldung zu lösen versucht und dadurch natürlich nicht lösen kann. Hier kommt, wenn man so will, der Bundesrepublik eine Führungsrolle zu.
Deutschlandfunk Kultur: Die Sie ihr zutrauen?
Münkler: Ja, würde ich ihr schon zutrauen. Das hat natürlich etwas damit zu tun, wer die nächste Regierung stellt, wie die aufgestellt ist, wie energisch sie die Herausforderungen annimmt und Chancen nutzt. Aber ich glaube, dass das als Problem innerhalb der politischen Klasse in Berlin erkannt ist. Natürlich kann man sagen: "Angst essen Seele auf". Denn sich auf so was wirklich langfristigerweise einzulassen, hat auch seine Risiken, nicht nur seine Chancen. Wenn man alle Risiken vermeiden will, dann kann man auch keine Chancen wahrnehmen. Insofern wird das Kabinett nach diesem letzten Kabinett Merkel Entscheidungen von weitreichender Art zu treffen haben, die letzten Endes ausschlaggebend dafür sein werden, wie die 20er-Jahre verlaufen.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist ja auch insofern interessant: Um nochmal die Parallele zur Weimarer Zeit herzustellen, das war eine Phase, die unter einer instabilen internationalen Ordnung gelitten hat, das eigentlich nie hat kompensieren können – Versailler Vertrag als eine Grundlage. Das unterscheidet die Weimarer Zeit von der Nachkriegszeit. Jetzt stellen wir fest, eine stabile Ordnung mit einer Führungsmacht USA, das war die Grundlage. Müssen wir sagen "war" oder "ist" sie das noch?
Münkler: Sie war das, aber sie ist es nicht mehr, klar. Obama war der Erste, der das schon infrage gestellt hat im Hinblick auf die Präferenz der USA für den pazifischen gegen den atlantischen Raum. Und den Rest von Geschirr, der noch im Schrank war, hat Donald Trump jetzt zerschlagen.

"Wir werden eine neue Weltordnung haben"

Das heißt, wir werden eine neue Weltordnung haben, die keinen Hüter mehr hat, wie das die USA gewesen sind. Das wird zur Folge haben, dass Weltordnung entnormativiert wird, dass Regeln und Verträge eine andere Bedeutung haben, als das zuletzt der Fall war.
Und da wird es darauf ankommen, ob die Europäer Objekt oder Subjekt bei der Gestaltung dieser neuen Weltordnung sein werden. Hier kommt der Bundesrepublik dann auch eine entsprechende Aufgabe zu. Da bin ich ein bisschen skeptisch mit Blick auf den amtierenden Außenminister, aber der muss es ja dann nicht mehr sein, der sozusagen viel zu wenig davon begreift, was die damit verbundenen Herausforderungen sind.
Aber wenn es gelingt, Europa als einen der großen Akteure aufrechtzuerhalten oder gar wieder ins Spiel zu bringen, dann ist das erstens eine deutsche Aufgabe und zweitens setzt das auch viel politische Weitsicht und Klugheit voraus. Das ist aber keine schlechte Anforderung dafür, dass im Ergebnis auch gute Politik gemacht wird.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben viele Konjunktive benutzt. Sie haben eben selber ein Bild von Europa gezeichnet mit Blick auf Italien, mit Blick auf Frankreich – einst die Garanten von europäischer Einigungspolitik – die fallen quasi aus. Auch der deutsch-französische Motor ist jetzt nicht wirklich vielversprechend. Also: Woher nehmen Sie den Optimismus, dass das trotzdem gelingen kann und wir nicht in ein paar Jahren vor einem europäischen Scherbenhaufen stehen, der dann wiederum die Ähnlichkeit mit Weimarer Verhältnissen doch heraufbeschwört?
Münkler: Ja, sowas kann man natürlich nie ausschließen. Ich weiß auch, dass es eine gewisse Suggestivität der Medien gibt, sozusagen Schwarz in Schwarz zu malen, und dass das natürlich sehr viel mehr sexy ist für manche Zuschauer und Zuhörer. Aber ich bin doch der Überzeugung, dass Zuversicht und Selbstvertrauen die Voraussetzungen dafür sind, dass man Chancen wahrnimmt.
Wenn man gewissermaßen nur Probleme beschreibt und nicht das, was damit auch an Herausforderungen verbunden ist, dann wird man vermutlich im Sinne der Pascal'schen Wette das auch verloren, diese Auseinandersetzung. Also, Zuversicht und Zuvertrauen, wie ich das jetzt auch zu kommunizieren versucht habe, sind die Voraussetzungen dafür, dass wir den Untergangsszenarien entkommen und eine gute Zukunft haben.

Der Euro hat sich als Spaltpilz erwiesen

Deutschlandfunk Kultur: Das ist ja auch insofern wichtig, weil die Herausforderungen nicht gerade geringer werden. Nun erleben wir, Ursula von der Leyen, die neue EU-Kommissionspräsidentin, bringt einen "Green Deal" auf den Weg. Könnte das ein Projekt sein, das den Glauben an ein entscheidungsfähiges, politisch geeintes Europa aufleben lässt? Oder wie kann dieses Europa belebt werden? Dieser Glaube scheint ja doch mehr und mehr verloren zu gehen.
Münkler: Also, er kommt sicherlich nicht von der Wirtschaft, sondern der Fiskalpolitik. Denn Euro und alles, was damit zusammenhängt, dem man mal diese Funktion zugedacht hat, haben sich eher als Spaltpilz erwiesen und die Trennlinien zwischen den einzelnen Ländern sehr viel stärker und deutlicher gemacht, vor allen Dingen die zwischen dem Norden und dem Süden in der Europäischen Union.
Von daher könnte "Green Deal" eine Möglichkeit sein, aber auch das andere, nämlich die Annahme der Herausforderung durch eine zerbröselnde Peripherie, also Investitionen sehr viel stärker in eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Denn es ist keine Frage: Der zerfallende und zerbrechende Nahe Osten wird unser Problem sein, genauso wie die gegenüberliegende Mittelmeerküste, also Maghreb-Region und die dahinter liegende Sahelzone.
Ich glaube, wenn aus der sogenannten "Flüchtlingskrise" von 2015 eines in die 20er-Jahre hinüberreicht, dann dies, dass man solche Entwicklungen nicht wird verhindern können, wenn man nicht langfristig in die ökonomische und politische Stabilität der Peripherie investiert. Das ist ein Projekt, das können die Europäer nur gemeinsam schultern, so wie sie vielleicht auch begriffen haben, dass 2015 eine gemeinsame Herausforderung für alle Europäer waren, auch wenn man im Schluss sagen kann: Gelöst haben sie letzten Endes doch wesentlich die Deutschen.

Konzentration auf ein liberales Kerneuropa?

Deutschlandfunk Kultur: Nun zeigt der Blick zum Beispiel auch nach Osteuropa, nach Polen, nach Ungarn, nach Tschechien auch, dass dieses Europa schon Schwierigkeiten hat, sich auf gemeinsame demokratische Grundwerte noch zu einigen – etwa Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz. Das macht jetzt nicht gerade Hoffnung, dass dieses Europa weiter zueinander findet. Deshalb die Frage: Wäre eine Konzentration auf die Länder, die wollen, ein liberales Kerneuropa möglicherweise der Ausweg aus diesem Dilemma?
Münkler: Ich glaube schon, dass angesichts der Spaltungslinien, die in der EU ja erkennbar sind zwischen Norden und Süden und Westen und Osten, die einen eher politisch-kultureller Art, die anderen eher sozio-ökonomischer Art, dass man angesichts dessen herausfinden muss: Wer ist eigentlich die Kraft des Zentripetalen, also diejenige, die zusammenhält angesichts dieser Fliehkräfte, die Sie ja auch beschrieben haben?
Das könnte entweder eine Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse sein – unter der Voraussetzung, dass Macron in Paris durchhält und eben nicht nur Sprüche macht, sondern es ihm auch tatsächlich gelingt, das Land wieder ökonomisch robust zu machen. Oder es müsste die Bundesrepublik in Verbindung mit einer Reihe von Small Countries, also kleineren Ländern, diese Aufgabe übernehmen.
Wenn man etwas, was in der EU ja angelegt ist aufgrund der Inkongruenz von Europäischer Gemeinschaft, Schengen-Raum und anderem mehr, Euroraum, das System als einen Kreis aus Kreisen oder eine Ellipse aus Ellipsen weiterentwickelt, auch in formeller Hinsicht, dann könnte das eine Lösung für dieses Problem darstellen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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