Weshalb Tabubrüche Wirkung zeigen
Gegen Flüchtlinge an der Grenze könne man durchaus auch mit Waffengewalt vorgehen, ließen die führenden AfD-Politikerinnen Frauke Petry und Beatrix von Storch am Wochenende wissen. Unter dem Strich zeigten solche Tabubrüche Wirkung, beklagt der Politikwissenschaftler Michael Lühmann.
Im Ton und aber auch in vielen Forderungen der etablierten Parteien sei der Einfluss der AfD unverkennbar, sagte Lühmann. Dabei begingen die Politiker immer wieder den gleichen Fehler - nämlich, "dass man immer wieder diese Forderungen quasi mit eingemeindet" und so versuche, den radikalisierten Teil der Gesellschaft zurückzuholen. Auch die Bezeichnung "besorgte Bürger" für die Demonstranten der AfD beweise dies.
Lühmann: "Da hat man sich ein ganzes Stück weit in diesen Diskurs mit hineinbegeben - und übersieht dabei, dass man quasi immer nur den Nährboden noch vergrößert und die Radikalisierung vorantreibt." Die Demonstranten fühlten sich durch die Übernahme von Vokabular und Inhalten im Nachhinein "ins Recht gesetzt" - und könnten sich dadurch noch mal an der eigenen Stärke berauschen, "weil sie eben als kleine Bewegung doch sehr, sehr viel erreicht haben".
Das Gespräch im Wortlaut:
Dieter Kassel: Es ist so gut wie sicher, dass die AfD nach den Wahlen im März in die Landtage von Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt einziehen wird. Noch nie hatte die Partei so viele Anhänger wie jetzt. Umfragen sagen das ziemlich eindeutig. Warum das so ist, und wie die anderen Parteien darauf reagieren können, darüber wollen wir jetzt mit Michael Lühmann reden, Politikwissenschaftler am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Schönen guten Morgen, Herr Lühmann!
Michael Lühmann: Guten Morgen!
Kassel: Beamen wir uns doch kurz so sieben, acht Monate zurück, in den vergangenen Sommer, als die AfD sich aufspaltete, als Parteigründer Bernd Lucke austrat und die Umfragewerte dann plötzlich in den Keller sanken. Zählten damals auch Sie zu den relativ zahlreichen Experten, die gedacht haben, jetzt ist der Spuk eigentlich auch schon wieder vorbei?
Lühmann: Ja, im Prinzip ist man davon ausgegangen, weil im Prinzip so was wie der demokratischere Flügel oder der demokratie-offene Flügel der AfD verschwunden ist, der ja so ganz offen gar nicht war und eben auch schon mit zu diesem Teil des Rechtspopulismus gehörte, der mit der AfD selbst aufgekommen ist. Aber vorstellbar, dass quasi der etwas der Mitte zuneigendere Teil der AfD verschwindet und dadurch erst quasi die Partei so in den Umfragen steigen würde, auch Pegida wieder so stark werden würde, davon wäre man zu dem Zeitpunkt noch nicht ausgegangen.
Was dann natürlich kam, war diese Rede von Flüchtlingsstrom, Flüchtlingskrise. Überhaupt Krise, dieses Reden von Krise, was wir in Europa die letzten Jahre so viel hatten. Und immer – es kamen dann – oder mit aller Macht kam ein Thema zurück oder kam auf uns zu, was natürlich da war, aber eben mit der Sprache schon der AfD bearbeitet wurde. Also "Asyl-Tsunami", jeden Tag kamen neue Meldungen, wie viele Menschen denn kommen würden, und dort sind auch sprachlich einfach so ein paar Grenzen überschritten worden schon in dem Bericht über die Menschen, die kämen. Und das hat plötzlich wieder einen Schub gegeben für diese Partei, die eigentlich schon verschwunden war, tatsächlich.
Kassel: Das heißt, nicht nur die AfD ist radikaler geworden, unsere Gesellschaft hat sich auch radikalisiert?
Lühmann: Ja, ein ganzes Stück weit hat sie sich, glaube ich, radikalisiert. Man sieht es am Anfang, als Pegida aufkam, da warnte man noch, dass man diese Fehler von 1993 nicht wiederholen dürfte nach den Pogromen von Rostock und Hoyerswerda und so weiter, dass man eben nicht das Asylrecht schleifen dürfe, dass man nicht auf diese rechtspopulistische Versuchung hereinfallen dürfe, sondern standhaft und wehrhaft gegen diese Partei und gegen diesen ganzen Stimmungsumschwung, gegen Pegida vorgehen müsse. Und das hat sich eben komplett aufgelöst in eine Aufnahme, Übernahme von Positionen, in einer Radikalisierung bis in alle Parteien hinein, auch bis in die Linksparteien hinein, die man so eigentlich nicht haben wollte, wo man sich bewusst war, das könnte ein Problem geben, und man ist trotzdem in dieses offene Messer hineingelaufen.
Kassel: Es gibt dafür ja viele Beispiele. Kanzleramtsminister Altmaier hat am Wochenende vorgeschlagen, Flüchtlinge eventuell auch in Drittstaaten zurückzuschicken wie die Türkei. Sigmar Gabriel hat nach den Ereignissen in der Silvesternacht in Köln gesagt, es könne doch nicht sein, dass der deutsche Steuerzahler kriminellen Ausländern die Haft bezahle. Heute nun hat in einem Interview Andrea Nahles gesagt, man müsse nicht integrationswilligen Ausländern auch die Sozialleistungen kürzen. Führen Sie das alles auch auf die AfD zurück, zumindest den Ton?
Etablierte Parteien liefern indirekte Bestätigung
Lühmann: Den Ton auf jeden Fall, aber auch einen Teil der Forderungen. Man glaubt ja immer wieder, und das hat man immer wieder falsch gemacht, das hat man auch in anderen Ländern falsch gemacht, in Österreich sieht man das immer wie in einem Brennglas, weil dort vieles deutlich früher eingesetzt hat, was etwa Rechtspopulismus angeht, dass man immer wieder diese Forderungen quasi mit eingemeindet und versucht, so den radikalisierten Teil der Gesellschaft irgendwie doch wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Das hat auch was damit zu tun, dass man die Demonstranten von Dresden "besorgte Bürger" nennt und die Gegenwehr aber "linksradikal".
Also, dort hat man sich ein ganzes Stück weit in diesen Diskurs mit hineinbegeben und übersieht dabei, dass man quasi immer nur den Nährboden noch vergrößert und die Radikalisierung vorantreibt und den Leuten im Prinzip im Nachhinein, wie etwa in Dresden, die dort demonstrieren und ähnliche Forderungen aufstellen, dass die sich dann ins Recht gesetzt fühlen und dadurch noch mal sich an der eigenen Stärke berauschen. Nichts anderes ist Pegida ja mehr. Und das ist, weil sie eben als kleine Bewegung doch sehr viel erreicht haben. Und das ist etwas, wo die Politik ganz deutlich Verantwortung für trägt, dass sie quasi sich von besorgten Bürgern treiben lässt, statt über diese Menschen, die dort sprechen und die dort aufmarschieren, statt über die aufzuklären. Sie versuchen immer noch, diese Leute aufzuklären und Positionen von denen aufzunehmen, statt aufzuklären über diese Leute und zu sagen, was für eine Gefahr für die Demokratie sie eigentlich darstellen
Kassel: Der niederländische Soziologe Paul Schäffer sagt heute in einem Gespräch mit der "Süddeutschen Zeitung", Zitat: "Die Gesellschaften sind umso friedlicher, je offener über die Probleme gesprochen wird", und beklagt dann, dass sei in Deutschland nicht der Fall. Ist das vielleicht etwas, was auch die AfD so stark macht, diese Radikalisierung auf beiden Seiten? Man ist entweder für Angela Merkels Flüchtlingspolitik oder dagegen, man kann eigentlich dazwischen in einer Grauzone gar nicht diskutieren und sich positionieren?
Lühmann: Das ist dann so eine beliebte Forderung, wie man dann quasi eigene Forderungen ins Recht setzt, indem man sagt, das würde nicht offen besprochen werden und so weiter, und so fort. Ich erinnere mich an die letzten, sagen wir mal, zehn Jahre, wo die ganze Zeit diskutiert wurde, in Deutschland würde nicht mehr genug gestritten, es sei alles so fürchterlich konsensmäßig. Aber das kann nicht bedeuten, dass man dann gerade an dieser sensiblen Frage, wo man eben auch sprachlich sensibel sein muss gegenüber Menschen, die auf der Flucht vor Folter und Mord sind, dass man dann plötzlich anfängt, den großen Streit an kulturellen Fragestellungen anzufangen, statt vorher mal, wo es eben um Wirtschaftsreformen ging, wo es um Wirtschaftspolitik ging, Sozialpolitik ging, da ist vieles im Konsens geregelt worden, und das ist mit Sicherheit ein Problem.
Aber jetzt an dieser sensiblen Stelle, wo eben tatsächlich ganz schnell man in rechte Sprachmuster verfällt, dann plötzlich den großen Streit zu fordern, das halte ich auch für nicht ganz richtig. In einer Demokratie muss es natürlich den offenen Dialog geben, aber der braucht Regeln, und diese Regeln überschreiten Personen wie Beatrice von Storch und Frauke Petry ständig, indem sie lügen, indem sie eben Forderungen aufstellen, die die Menschenwürde antasten. Und das geht mit unserer Verfassung nicht überein, und da ist eben die Grenze dessen, was im Dialog stattfinden darf, eben schon längst erreicht.
Hauptsache Tabubruch
Kassel: Aber damit spielen Sie ja unter anderem nicht nur jetzt auch auf die jüngsten Äußerungen beider zum Schusswaffengebrauch an den deutschen Außengrenzen an. Frauke Petry hat da angefangen, ihre Berliner Landesvorsitzende noch mal deutlich nachgetreten – schadet denn so etwas nun doch der AfD, oder ist da Hopfen und Malz verloren bei ihren Anhängern?
Lühmann: Das ist schwierig zu beantworten. Ob ihr das wirklich schadet, das kann sein im Prinzip, weil im Osten Deutschlands, wo sie doch relativ viele Wähler hat, dann so was wie ein Schießbefehl an der Grenze möglicherweise doch so ein letzter Schritt ist, den man eigentlich nicht übertreten darf. Aber so ganz sicher ist das nicht. Wenn man weiß, was Björn Höcke so öffentlich von sich absondert, was auch der Lebensgefährte von Frau Petry, Herr Pretzell, schon seit Monaten absondert, das kennt man, das weiß man eigentlich. Und das ist kein Hinderungsgrund, diese Partei gut zu finden.
Ich glaube, es ist inzwischen völlig egal, was die AfD sagt. Es geht nur noch darum, eben gegen den Mainstream, gegen die Parteien an sich, gegen die Politik an sich, also diesen antipolitischen Affekt stark zu machen. Und da ist noch jeder Tabubruch recht, weil das am Ende wieder bedeutet, man kann sich dann an der Gegenwehr der anderen Parteien, die dann eben natürlich empört sind, da kann man sich wieder dran berauschen. Das ist im Prinzip so ein Selbstverstärkereffekt, den sollte man einfach mal verlassen.
Kassel: Michael Lühmann vom Göttinger Institut für Demokratieforschung über die AfD und das, was sie so erfolgreich macht. Herr Lühmann, vielen Dank für das Gespräch!
Lühmann: Gern, ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.