Politikwissenschaftler über "Reichsbürger"

"Dieses Milieu wurde viel zu lange ignoriert"

Mehrere Wappen als Statement für eine Monarchie nach Vorbild des Deutschen Reichs kleben auf einem kleinen Wagen für Menschen mit Gehproblemen.
"Reichsbürger" erkennen die Bundesrepublik Deutschland nicht als Staat an. © imago stock&people
Jan Rathje im Gespräch mit Nicole Dittmer und Julius Stucke |
Ist die Zahl der rechtsextremen "Reichsbürger" sprunghaft gestiegen? Laut Verfassungsschutz sollen jetzt mehr als 15.000 Menschen die Legitimität der Bundesrepublik anzweifeln. Politikwissenschaftler Jan Rathje ist skeptisch: Die "Reichsbürger" würden lediglich sichtbarer.
"Reichsbürger" sind Menschen, die sich mit Fantasiedokumenten ausstatten und nicht daran glauben, dass die Bundesrepublik Deutschland das legitime Land sei, in dem sie leben. Ihrer Ansicht nach bestehe das "Deutsche Reich" auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. Es sind Menschen, die Verschwörungstheorien mit rechtsextremen Ideologien mischen. Mittlerweile soll es mehr als 15.000 von ihnen geben. Nicht wenige von ihnen besitzen Waffen, einige sollen sogar den Aufbau einer eigenen Armee planen.

"Zersplittertes Milieu"

Der Politikwissenschaftler Jan Rathje hat für die Amadeu Antonio Stiftung die Broschüre "Wir sind wieder da" und auch ein Buch über die "Reichsbürger" verfasst. Er erklärt das "stark zersplitterte Milieu":
"[Es] lässt sich idealtypisch in vier Gruppierungen einteilen: zum einen klassische Rechtsextreme seit 1945, (...) die eine Wiederherstellung des Deutschen Reiches im Nationalsozialismus anstreben. Dann gibt es neuere Strömungen seit den 80er-Jahren, die man aktuell unter dem Begriff 'Reichsbürger' fassen würde, also die ein Deutsches Reich in den Grenzen von X wiederherstellen wollen. Und dann gibt es noch die Gruppierung der sogenannten Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter, die glauben aus der Bundesrepublik Deutschland austreten und einen eigenen Staat gründen zu können. Und dann noch ein Scharnier-Milieu der Souveränisten, die nur mit einer Kommunikationsstrategie das Thema behandeln, nämlich dass sie behaupten, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht souverän sei."

Die Gruppe der Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter

Als besonders problematisch stuft er vor allem die Gruppe der sogenannten Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter ein, die an Zulauf gewännen und sich an US-amerikanischen Vorbildern wie der Sovereign Citizen Movement orientierten.
"Wenn die nämlich davon ausgehen, dass sie einen eigenen Staat repräsentieren, dann wird es schwierig, sobald der Repressionsdruck ihnen gegenüber steigt. Wenn die Polizei kommt, um auf dem Gelände von diesen Menschen eine Zwangsvollstreckung auf Grund von Schulden oder anderen Dingen durchzuführen, dann glauben sie im Recht zu sein, wie ein Staat zu handeln, und ein Staat verteidigt sein eigenes Territorium gegen fremde bewaffnete Truppen mit den eigenen Waffen."

Gestiegene Sichtbarkeit

Nach Auffassung von Jan Rathje sind die "Reichsbürger" zahlenmäßig nicht mehr, sondern vielmehr sichtbarer geworden. Seine Kritik richtet sich aber auch gegen den Verfassungsschutz:
"Im Gegensatz zu dem [Fokus-]Artikel, der seit heute Morgen kursiert, sind die Zahlen nicht sprunghaft angestiegen, also es sind nicht 56 Prozent mehr Menschen in dieses Milieu gekommen seit 2016, sondern sie sind einfach sichtbarer geworden für die Behörden. Es deutet eher daraufhin, dass gerade vonseiten des Bundesamtes für Verfassungsschutz dieses Milieu viel zu lange ignoriert wurde und deshalb diese Zahlen so nach oben schnellen, weil man sich jetzt erst gewahr wird, wie viele Menschen wirklich schon seit Jahren vielleicht auch innerhalb dieses Milieus aktiv sind."

Vorstellungen vom Weltuntergang

Seiner Ansicht nach besteht dringender Handlungsbedarf:
"Das Problematische ist, dass diese Verschwörungsideologien ganz stark verbunden sind mit Endzeit- und Weltuntergangsvorstellungen (...), dass dadurch bei diesen Menschen ein Handlungsdruck entsteht. Und wenn sie dann im Besitz von Waffen sind und vielleicht bestimmte psychische Dispositionen haben, können sie sich in die Lage gedrängt fühlen, diese Waffen auch zum Einsatz zu bringen, weil sie glauben, dass jetzt das letzte Gefecht ansteht, der große Bürgerkrieg oder wie auch immer die Untergangsszenarien aussehen, die ja auch zum Teil von der Neuen Rechten oder auch von Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten aktuell verbreitet werden."
(cosa)
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