Zur Person: Die Politikwissenschaftlerin Claudia Major ist seit 2010 Mitglied im "Beirat zivile Krisenprävention" des Auswärtigen Amtes. Sie lehrte am Center for Security Studies an der ETH Zürich, am European Union Institute for Security Studies in Paris und dort auch am Institut d'Etudes Politiques/Sciences Po Paris.
Ist die Nato bald überflüssig?
Der neue US-Präsident Donald Trump hält die Nato für obsolet. Wie geht es weiter mit dem Nordatlantikpakt? Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin sieht darin eine Aufforderung an die Europäer, endlich mehr für die eigene Sicherheit zu tun.
Deutschlandradio Kultur: Obsolet sei sie, die Nato. Das hat der neue US-Präsident Trump kürzlich in einem Interview gesagt. Seither rätselt man in West und wahrscheinlich auch in Ost, wie es weitergeht mit dem Nordatlantikpakt unter dem neuen Mann an der Spitze seiner Führungsmacht. Darüber und über die Probleme, die das Bündnis auch ohne Trump hat, möchte ich mit Dr. Claudia Major reden von der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. – Guten Tag, Frau Major.
Claudia Major: Guten Tag, Herr Garber.
Deutschlandradio Kultur: Obsolet soll sie also sein, die Nato, sagte Trump. Das klingt nach altem Eisen. Wie ist der Satz bei Ihnen angekommen, wo Sie sich ja schon seit Jahren mit der Nato wissenschaftlich beschäftigen?
Claudia Major: Bei mir ist es vor allen Dingen angekommen als eine Aufforderung an die Europäer, endlich mehr für die eigene Sicherheit zu tun, also, als ein durchaus etwas aggressiver Weckruf, aber als der Hinweis: Liebe Europäer, wir werden in Zukunft nicht mehr wie früher immer da sein und für euch einstehen und euch helfen.
Dass die Nato Probleme hat, ist bekannt. Dass sie natürlich wie alle großen Organisationen Reformbedarf hat, ist bekannt. Aber dass sie überflüssig wäre, halte ich für ganz stark überzogen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass keines der europäischen alliierten Nato-Mitglieder diese Einschätzung teilen wird.
Deutschlandradio Kultur: Der neue US-Verteidigungsminister Mattis hat das sehr relativiert und erklärt, dass also die Zugehörigkeit zur Nato nicht zur Disposition stünde. Also, es geht dann wohl vor allem um Burden Sharing, also um die Lastenverteilung innerhalb des Bündnisses. Auch Barack Obama, der vorige US-Präsident, hat ja von den Nato-Mitgliedern verlangt, mehr Geld auszugeben für die gemeinsame Verteidigung. Also, es geht vor allem ums Geld?
"Sharing burden, die gerechte Lastenverteilung ist ein Thema"
Claudia Major: Es geht viel um Geld und es geht auch viel um den politischen Beitrag, den die Alliierten zur Nato leisten.
Ich möchte nochmal einen Schritt zurückgehen und sagen, dass wir momentan von den USA nicht genau wissen, was die Linie ist. Das heißt, es gibt durchaus widersprüchliche Aussagen vom US-Präsidenten, von seinem Verteidigungsminister. Aussagen wie von Mattis, dass er die Nato sehr schätzt, ist etwas, das hätten wir vor einem halben Jahr von Barack Obama völlig langweilig gefunden. Und jetzt freuen wir uns enorm über eine Aussage, dass die Nato wichtig ist. Das deutet nochmal an, wie viel Veränderungspotenzial wir hier haben. Wir wissen nicht, was kommt, aber wir können uns darauf einstellen, dass es für die Europäer sehr ungemütlich werden wird.
Gleichzeitig ist gerade für die Europäer klar, dass ein solidarisches politisches und militärisches Verteidigungsbündnis die absolute Lebensversicherung ist, die wir in Europa haben und brauchen. Das heißt, ein Szenario, wie wir es gerade in der Europäischen Union beobachten, dass sich Großbritannien bewusst entscheidet rauszugehen, kann ich mir bei der Nato überhaupt nicht vorstellen in Europa. Das heißt, die Wertigkeit, die Bedeutung, die die Allianz in Europa hat, ist enorm hoch und sollte man nicht unterschätzen.
Burden Sharing, die gerechte Lastenverteilung, ist ein Thema, das fast so alt ist wie die Nato. Regelmäßig haben alle neuen US-Präsidenten die Europäer aufgefordert, mehr in Verteidigung zu investieren und sich mehr, vor allen Dingen militärisch, im Bündnis zu engagieren. Man kann ja mal so ein paar Zahlen ins Spiel bringen: Die Amerikaner geben über 3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zur Verteidigung aus. Die Deutschen liegen bei 1,2 Prozent. Und das ist schon besser geworden.
Deutschlandradio Kultur: Aber jetzt gibt es ja so eine Art Verpflichtung seit dem Nato-Gipfel in Wales 2014. Da haben sich ja alle mehr oder weniger darauf verpflichtet, mal 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts als Ziel der Rüstungsausgaben anzupeilen. Aber so sehr viel ist da noch nicht passiert – zum Beispiel bei Deutschland.
Claudia Major: Also, die Verpflichtung von 2014 ist vor allen Dingen eine politische Verpflichtung. Und die Verpflichtung lautet, dass sich alle Nato-Staaten bemühen werden, in den kommenden zehn Jahren, also nicht morgen oder übermorgen, sondern in den kommenden zehn Jahren mehr in Verteidigung zu investieren, also nicht weiter zu kürzen, und sich den 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts anzunähern und 20 Prozent ihres Verteidigungshaushalts in Investitionen zu stecken. – Es ist eigentlich ein zweigeteiltes Ziel: 2 Prozent generell für Verteidigung und 20 Prozent davon für Investitionen.
Bis auf sehr wenige Staaten, USA, Griechenland, Polen und Estland, glaube ich, und Großbritannien, erreicht das keiner. Das sind vier Staaten, die dieses Zweiprozentziel erreichen. Deutschland ist weit davon entfernt, 1,2 Prozent mittlerweile. Deutschland kommt aber diesen 20 Prozent Investitionsziel sehr nahe, hat also einen Teil dieser Vorgabe erreicht.
Ich finde dieses Ziel trotzdem etwas schwierig, weil nämlich mit diesem Zweiprozentziel gemessen wird, was in Verteidigung investiert wird, also, wie viel Geld wir dort reinstecken. Es wird aber nicht gemessen, wie viel wir dafür wirklich rausbekommen. Das heißt, man kann auch unheimlich viel Geld in einen Verteidigungshaushalt investieren. Wenn das aber dann zu großen Teilen für Personal drauf geht oder für Liegenschaften oder wie in einigen Ländern für die Nuklearstreitkräfte, aber nicht unbedingt in die Beschaffung von neuem Material, sagt das herzlich wenig aus.
Deutschlandradio Kultur: Aber Deutschland steht ja dann doch auch in der Pflicht, irgendwann mal dieses Zweiprozentziel zu erreichen. Was würde das für Deutschland bedeuten? Müsste man dann noch mehr neue Waffen kaufen, mehr Soldaten anwerben? Der Wehrbeauftragte hat ja vor ein paar Tagen ein ziemlich düsteres Bild der Personallage bei der Bundeswehr gezeichnet. Also, was kommt da auf die Bundeswehr zu?
"Auf Deutschland kommt eine enorm große Herausforderung zu"
Claudia Major: Auf die Bundeswehr und auf Deutschland kommt damit eine enorm große Herausforderung zu. Von 1,2 auf 2 Prozent ist es fast eine Verdoppelung. Das heißt, von 36 Milliarden kämen wir auf sechzig wahrscheinlich. Das ist eine enorm große Summe.
Deutschlandradio Kultur: Pro Jahr.
Claudia Major: Die Herausforderung ist einerseits, dass man das Geld bereitstellen muss. Die andere Herausforderung ist nicht minder groß, ist, das Geld sinnvoll auszugeben. Große Rüstungsbeschaffungsprojekte dauern lange. Man kann nicht von heute auf morgen einen neuen Panzer bestellen, sondern die müssen entwickelt werden, die müssen hergestellt werden und die müssen der Truppe übergeben werden. Das heißt, selbst wenn man jetzt über Nacht entscheiden würde, wir erhöhen den Verteidigungshaushalt, hätte man nicht sofort einen direkten Effekt.
Deutschland steht vor der Herausforderung, mehr investieren zu müssen, um mehr Personal zu haben, was schwierig ist, weil die Bundeswehr momentan große Probleme hat, genug qualifiziertes Personal anzuwerben. Man muss die teilweise sehr veraltete Ausrüstung modernisieren. Man muss die Lücken schließen, die man in den letzten Jahren wissentlich gerissen hat. Und man muss neue Beschaffungen machen, also neues Material anschaffen.
Das heißt auch, dass die Bundeswehr einen gewissen Schwenk machen muss. In der Vergangenheit, noch 2011, ging man in Deutschland davon aus, dass sich die Bundeswehr eigentlich auf Stabilisierungseinsätze und Krisenmanagement so im Sinne Afghanistan konzentrieren könnte, weil man Landesverteidigung und Bündnisverteidigung doch als so ein bisschen obsolet angesehen hat.
Und seit der Annexion der Krim 2014 und dem Krieg in der Ost-Ukraine ist man sich in Deutschland und in ganz Europa bewusst geworden, dass Landes- und Bündnisverteidigung wirklich eine Herz-, eine Kernaufgabe für die Europäer und für die Nato ist. Und jetzt macht man den Schwenk zurück. Von der vorherigen Ausrüstung auf Krisenmanagement – leichte Ausrüstung, keine schweren Panzer, schnelle Verlegefähigkeit – macht man jetzt die Rückkehrtwende und sagt: Nee, Landes- und Bündnisverteidigung erfordert schweres Gerät, andere Formationen und andere Herausforderungen. Es ist eine Riesen-Herausforderung nicht nur für die Bundeswehr, sondern für fast alle europäischen Streitkräfte.
Deutschlandradio Kultur: Kann das in Deutschland auch dazu führen, dass die Wehrpflicht, die ja nur ausgesetzt, aber nicht abgeschafft ist, wieder eingeführt oder wieder aktiviert wird, wenn die Bundeswehr solche großen Probleme hat, qualifiziertes Personal zu werben und deutlich mehr Soldaten braucht, wie Sie sagen?
Claudia Major: Die Frage ist ja, ob man durch eine Wiedereinführung der Wehrpflicht wirklich mehr Personal bekommen würde und das Personal, was man haben möchte. Die Bundeswehr erwägt gerade auch andere Möglichkeiten, die Personalreserven aufzustocken, etwa das Konzept der Reservisten zu überdenken und den neuen Herausforderungen anzupassen. Also, da gibt es wahrscheinlich mehrere Wege, die man verfolgen sollte.
Deutschlandradio Kultur: Kommen wir nochmal auf die Amerikaner zurück. Sie werden ja so oder so nicht locker lassen, mit oder ohne Trump, dass die Bündnispartner mehr Anstrengungen leisten müssen. Wie ist denn die Interessenlage der USA gegenüber der Nato? Wozu braucht diese Supermacht das Bündnis eigentlich noch, nachdem der Kalte Krieg doch schon eine Weile vorbei ist?
"Die USA hat wie jedes Land ein Interesse an Partnern"
Claudia Major: Die USA hat wie jedes Land ein Interesse an Partnern, weil in der jetzigen Zeit kein Land alleine viel bewerkstelligen kann. Das heißt, auch große Länder wie die USA brauchen Partner. Aber das Interesse liegt möglicherweise nicht so auf der Hand oder leuchtet möglicherweise nicht allen aktuellen US-Entscheidungsträgern ein. Aber bislang schien es doch recht eindeutig, dass die USA davon profitieren, wenn sie verlässliche Partner haben, wie die europäischen Nato-Mitglieder, mit denen sie ähnliche Wertvorstellungen haben, mit denen sie gleiche Ziele vereinbaren können, also in der Analyse übereinstimmen, dass der IS ein Problem ist, dass Russland Völkerrecht verletzt hat. Also ähnliche Ziele und auch ähnliche Wertvorstellungen, beispielsweise dass man nicht foltert oder dass der Bezug auf bestimmte völkerrechtliche Grundwerte sinnvoll ist. Also, ein verlässlicher starker Partner ist für die USA wichtig. Das heißt, politisch ist es wichtig.
Es ist aber auch militärisch wichtig, wenn man auf eine stehende multinationale Struktur zurückgreifen kann, die funktioniert – auf Planungsfähigkeiten, auf logistische Möglichkeiten, auf eingespielte Abläufe, auf die man sich verlassen kann. Das heißt, die Nato und ihre Mitglieder sind für die USA politisch und militärisch eine große Stütze, auch wenn es möglicherweise gerade nicht allen einleuchtet.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem hört man ja immer wieder, auch schon vor Trump, dass die Europäer in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik näher zusammenrücken müssen, auch wegen der militärischen Muskelspiele Russlands. Das haben wir ja schon kurz angeschnitten. – Wie kann so eine stärkere europäische Verteidigungsorganisation organisiert werden? Macht man das besser unter dem Dach der Nato oder besser unter dem Dach der Europäischen Union? Oder kann man die beiden Sachen miteinander kombinieren?
Claudia Major: Die Frage ist, welche Aufgabe man erfüllen möchte. Und wenn es um die Aufgabe geht, Landes- und Bündnisverteidigung, also die traditionelle Verteidigung der territorialen Integrität und der Souveränität der Staaten, gibt es momentan keine Alternative zur Nato. Das klingt etwas hart, aber der große Unterschied zwischen der Europäischen Union und der Nato ist momentan die USA als der größte militärische Beitragssteller. Und das brauchen die Europäer im Augenblick. Das heißt, momentan ist die Nato in dem Bereich Bündnis- und Landesverteidigung nicht ersetzbar durch die Europäische Union.
In anderen Bereichen, wie beispielsweise Krisenmanagement, ist die Europäische Union ein wichtiger Akteur geworden in den letzten Jahren, hat da ihre Fähigkeiten entwickelt und hat sich da auch in großem Maße engagiert, meinetwegen in Mali oder in anderen Regionen.
Wenn jetzt die Europäer mehr machen müssen, möglicherweise weil die USA das Interesse an der Nato verlieren oder das Interesse an Europa verlieren, müssen sich die Europäer langfristig auf den Weg machen, immer stärker eigenständig handeln zu können. Das wird aber sehr, sehr, sehr lange dauern in dem klassischen Bereich Landes- und Bündnisverteidigung. Im Bereich Krisenmanagement ist es anders, aber in dem Bereich Landes- und Bündnisverteidigung werden sie Fähigkeiten aufbauen müssen. Aber das wird sehr lange dauern.
Diese beiden Foren, die wir in Europa haben, also die Europäische Union und die Nato, arbeiten aber auch in letzter Zeit immer besser zusammen und versuchen in der Lageanalyse, in Übungen und so immer mehr zusammenzuarbeiten, und versuchen da, wo es Anknüpfungspunkte gibt, sich besser abzustimmen.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja schon einige Kooperationen im militärischen Bereich, zum Beispiel die deutsch-französische Brigade oder das multinationale Korps Nordost, für das Deutschland, Dänemark und Polen Truppen bereithalten. – Wie sind die Erfahrungen mit solchen Kooperationen? Funktioniert das oder sind das mehr propagandistische oder politische Veranstaltungen?
Kooperation in Europa im militärischen Bereich
Claudia Major: Es funktioniert in vielerlei Hinsicht, aber es ist nicht einfach. Das muss man ganz ehrlich sagen. Kooperation in Europa im militärischen Bereich ist in der Regel mehr aus der Notwendigkeit geboren als aus der tiefen Überzeugung. Politisch wird häufig die große Überzeugung deklariert, aber letztendlich ist Kooperation häufig ein Ergebnis der Analyse, dass man einfach alleine nicht mehr viel schafft.
In den letzten zwanzig Jahren vor der Krim-Krise haben alle Europäer ihre Verteidigungshaushalte komplett geschrumpft, haben ihre Armeen extrem reduziert, haben ganz viel abgebaut – und haben das auch gemacht, ohne sich innerhalb von Europa abzusprechen. Jeder hat so vor sich hin gespart. Und irgendwann haben die Europäer festgestellt, dass sie eigentlich militärisch nicht mehr sehr viel haben. Es gibt dafür den Begriff der "Bonsai-Armeen", sehr schön anzuschauen, aber viel zu klein, um tatsächlich noch allein irgendwas zu bewirken.
Das heißt: Die Frage ist, wenn wir es alleine nicht mehr können, dann müssen wir uns wahrscheinlich mit unseren Partnern zusammenlegen. Dafür gibt es Beispiele wie beispielsweise die Niederländer, die eine Brigade komplett ins deutsche Heer integriert haben. Es gibt das Beispiel des Korps in Stettin, das aber mehr eine Führungsstruktur ist, eine Planungs- und Führungsstruktur. Es gibt das Beispiel der Marinekooperation zwischen Polen und Deutschland, die auch auf das Heer ausgeweitet werden soll. Also, es gibt viele kleine Inseln, wo Staaten bilateral oder multilateral zusammenarbeiten.
Das geht langsam voran, aber es ist schwierig, weil das natürlich immer sehr, sehr schmerzhafte Fragen von Souveränität aufwirft. Wer entscheidet denn, wo ich meine Soldaten hinschicke? Wer steht denn im Endeffekt dafür gerade, wenn denen was passiert? Wer übernimmt die Verantwortung? Wer zahlt? Wer rüstet aus?
Hinter dieser relativ einfachen Erkenntnis, gemeinsam können wir mehr machen, kommen ganz schwierige Fragen der Souveränität, der Entscheidung, der Verantwortung, der Finanzierung, die da dran hängen, die es so schwer machen.
Deutschlandradio Kultur: Zumal ja vielleicht dann auch unterschiedliche Weltsichten bzw. Sichten der sicherheitspolitischen Situation dahinter stehen können. Das sieht man ja immer wieder bei der Gretchenfrage: Wie halten wir es mit den Russen? Da ticken die Polen und die Balten ja ganz anders als zum Beispiel die Deutschen oder die Italiener. – Wie weit gehen diese Sichtweiten in der Sicherheitspolitik auseinander in Europa?
"Die Sichtweisen in Bezug auf Russland gehen sehr weit auseinander"
Claudia Major: Die Sichtweisen gerade in Bezug auf Russland gehen sehr weit auseinander. Das heißt, Polen und die drei baltischen Staaten sehen in Russland eine existentielle Bedrohung, auf die man vor allem mit einer klaren militärischen Abschreckung reagieren sollte.
Andere Staaten in Europa, beispielsweise Deutschland, sehen auch die existentielle Bedrohung durch Russland, schlagen aber einen Ansatz vor der Abschreckung, also ein Abhalten, ein Abwehren von militärischen Angriffen – mit einem Dialog kombiniert, die sagen: Wir müssen trotzdem versuchen im Gespräch zu bleiben, um eine gewisse Planbarkeit zu haben, um mögliche Konflikte zu deeskalieren. Und wir müssen das kombinieren mit der Abschreckung.
Das heißt, möglicherweise sind die Staaten in der Analyse gar nicht weit auseinander. Sie sind alle einig, dass Russland ein fundamentales Problem ist. Aber wie man damit umgeht, nur militärische Abschreckung oder Abschreckung und Dialog, da gibt es große Unterschiede.
Dazu kommt, dass gerade die Länder an der Südflanke, also Italien, Frankreich, Spanien, darauf hinweisen, dass es im Süden genauso große Probleme gibt wie im Osten. Also, nicht nur Russland ist ein Problem für die Integrität und die Souveränität der Staaten und die Stabilität, sondern Terrorismus, instabile Staaten, die kollabieren können, wie Libyen zum Beispiel oder Syrien, sind natürlich für Länder an der Südflanke eine Bedrohung, die ihnen viel näher steht, die sie viel unmittelbarer spüren als Russland.
Und die Nato als eine Organisation, die von Norwegen bis nach Süditalien reicht und von Estland bis nach Amerika, muss natürlich all den Sorgen Rechnung tragen. Die Norweger haben Angst in der Arktis. Polen und die Balten denken mehr an Russland. Und Italien und Spanien denken mehr an die Südflanke. Das müssen sie alles irgendwie voreinander kriegen.
Deutschlandradio Kultur: Frau Major, die Bedrohungsängste der Polen und der Balten sind ziemlich konkret. Wir haben ja gerade darüber gesprochen. Russland führt Großmanöver nahe seiner Westgrenze durch. Russische Kampfflugzeuge fliegen riskante Patrouillen hart an der Grenze zum Nato-Luftraum. Die russische Exklave Kaliningrad wird massiv aufgerüstet, auch mit atomwaffenfähigen Raketen. – Wie ernst ist die Lage an der Ostgrenze der Nato nach Ihrer Auffassung?
Claudia Major: Ich denke, dass die Lage sehr ernst ist und dass sich die einzelnen Staaten dort direkt an der Grenze und auch die Nato als Staatenverbund seit 2014 sehr bemüht haben, die Verteidigungsfähigkeiten gerade in der Region zu verstärken, aber dass durchaus noch viel zu tun ist.
Deutschlandradio Kultur: Da ist sicherlich noch viel Luft nach oben. Das hat eine Studie der US-amerikanischen Denkfabrik RAND Corporation kürzlich hervorgebracht. Die haben nämlich mal durchgespielt: Was passiert, wenn ein baltischer Staat tatsächlich angegriffen werden würde von Russland? Dann müssten ja gemäß Artikel 5 des Nato-Vertrags die Bündnispartner diesem Staat rasch zu Hilfe eilen. – Ist die Nato denn überhaupt in der Lage? Die RAND Corporation sagt, die Nato könne das Baltikum im Ernstfall gar nicht verteidigen.
Claudia Major: Die RAND Corporation spielt einen relativ traditionellen konventionellen Angriff durch. Das ist ein Szenario von vielen, die durchdacht werden, die von der Nato bearbeitet werden. Man könnte sich ja genauso einen Angriff vorstellen, der eher auf eine Destabilisierung von innen abzielt, also über Kämpfer ohne Hoheitsabzeichen, die infiltrieren, oder Cyber-Angriffe. In solch einem traditionellen Szenario, wie es die RAND Corporation durchgespielt hat, wäre die Nato nicht in der Lage gewesen, das Baltikum zu verteidigen.
"Wir wissen nicht, wie eine mögliche Bedrohung aussehen kann"
Ich denke, es gibt jedoch mehrere Aspekte, die dabei ein bisschen hinten runterfallen. Das eine ist, dass die Erfahrung gezeigt hat, dass der nächste Krieg in der Regel nicht so aussieht wie der letzte Krieg, Militärs sich aber häufig auf den letzten Krieg nochmal vorbereiten, weil das häufig eine Orientierungs- oder Planungsgröße ist. Was ich damit sagen will, ist: Wir wissen nicht, wie eine mögliche Bedrohung oder ein möglicher Angriff aussehen kann. Und wir müssen uns auf ein sehr breites Spektrum vorbereiten.
Unstrittig ist, dass in einem traditionellen, konventionellen militärischen Szenario die Nato große Probleme hätte dort zu bestehen.
Deutschlandradio Kultur: Das ist natürlich ein Problem der Glaubwürdigkeit dann für die Nato. Darum zeigt das Bündnis jetzt verstärkt Flagge an seiner Ostgrenze. Die Nato schickt vier Kampf-Bataillone ins Baltikum und nach Polen. Ein deutsches Vorauskommando ist diese Woche in Litauen eingetroffen. – Meinen Sie, das macht Eindruck in Moskau?
Claudia Major: Abschreckung ist ein sehr kompliziertes Konstrukt. Abschreckung hat eine militärische Komponente: Das heißt, wie viel Truppen oder wie viel Material stelle ich irgendwo hin? Und es hat eine sehr starke psychologische Komponente: Glaubt der Gegner, dass ich es wirklich ernst meine? Abschreckung heißt ja, dass man dem Gegenüber klar macht: Wenn du probierst mich anzugreifen, sind die Verluste, die du damit in Kauf nimmst, viel, viel höher als der Gewinn, an den du glaubst. Das heißt: Abschreckung sagt, du kannst das machen, wenn du willst. Aber das und das und das und das sind die Folgen.
Abschreckung basiert also zu großen Teilen darauf: Glaubt der Gegner, dass ich meine Ansagen wirklich ernst meine und im Endeffekt umsetze? Das heißt, es gibt die politische Dimension der Erklärungen – wir verteidigen alle Alliierten. Riga ist genauso viel wert wie Chicago, Berlin, Warschau und Paris. Und es gibt die militärische, die Fähigkeitsdimension. Habe ich wirklich genug Material vor Ort und zur Verfügung, um meine politischen Deklarationen glaubwürdig zu machen? Und bin ich bereit, das wirklich zu tun?
Deshalb ist es sehr schwer, das finde ich auch kritisch an der RAND-Studie, zu sagen, wir brauchen jetzt 35.000 Leute oder wir brauchen sechs bis sieben Brigaden, weil dieses fein austarierte psychologische Konstrukt der Abschreckung – glaubt Russland, dass die Nato handeln wird, glaubt Russland, dass der Nato Riga genauso viel wert ist wie Berlin…
Deutschlandradio Kultur: "Mourir pour Danzig?" war ja die Frage, die sich die Franzosen gestellt haben nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939, und gesagt haben, erst mal nicht, sich nicht in den Krieg eingemischt haben. Wenn sich die Frage stellen würde, "Mourir pour Riga? – sterben wir für Riga?", ist die Nato bereit, mit so einer Frage umzugehen?
Claudia Major: Ich bin kein Nato-Botschafter. Ich denke, ja. Die Nato, das muss man aber auch dazu sagen, ist eine Allianz von 28 Mitgliedsstaaten. 28 Staaten entscheiden gemeinsam, wann und wie sie intervenieren werden. Der Artikel 5 im Washingtoner Vertrag sagt, dass die Mitgliedsstaaten im Falle eines Angriffs Beistand leisten, schreibt aber nicht vor, wie dieser Beistand auszusehen hat. Militärisch ist möglich, ist aber nicht zwingend.
Wichtig ist, dass das Bündnis politische Einigkeit ausstrahlt und vermittelt: Wir stehen zusammen. Das ist die wichtigste Botschaft. Deshalb sind alle Versuche, Zwietracht zu säen in der Nato, so problematisch, weil es um die politische Einigkeit geht. Deswegen ist auch, um den Bogen zum Anfang zu spannen, die Position von Trump für die Nato so schwierig. Sie ist nicht nur militärisch schwierig, wenn die Amerikaner sich zurückziehen würden mit ihren Fähigkeiten. Sie ist auch politisch so schwierig, weil es nämlich die Einigkeit und damit das Gewicht der Nato unterminiert, wenn einer aus der Reihe tanzt. Das ist die Kernidee dahinter: Alle stehen für einen ein.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben jetzt, Frau Major, vor allem über militärische Angriffsszenarien spekuliert. Was definiert man denn eigentlich genau als Angriff? Ist das nur der bewaffnete Angriff durch die regulären Streitkräfte eines Staates – mit Panzern und wehenden Fahnen? Oder sind das auch schon sogenannte hybride Angriffe? Also, wenn zum Beispiel in Estland die Stromversorgung komplett zusammenbrechen würde als Folge eines Internetangriffs russischer Hacker? So etwas ist ja denkbar. Wäre das ein Angriff? Wäre das eine Artikel-5-Situation? Müsste die Nato dann einschreiten?
Claudia Major: Ob es eine Artikel-5-Situation ist, entscheiden die 28 Nato-Staaten. Das klingt etwas formalistisch, aber es ist in der Tat so, dass die Entscheidung, ob der Artikel 5 ausgerufen wird, eine zutiefst politische Entscheidung ist, die die Staaten in dem Augenblick treffen werden. Es gibt keinen Automatismus, der sagt, wenn A passiert, tritt Artikel 5 ein. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen. Es ist eine zutiefst politische Entscheidung, ob sich die Nato-Staaten darauf einigen können, dass das ein Artikel-5-Fall ist.
Die Nato hat in den letzten Jahren festgelegt, dass der Cyber-Bereich ein Bereich ist wie Land, Luft und See, in dem sie genauso verteidigungsfähig sein möchte wie in den traditionellen Bereichen. Dazu hat es jetzt auch mehrere Schritte gegeben – Zusammenarbeit mit der Industrie, ein Cyber Defence Pledge im letzten Gipfel, dass die Staaten dort sich besser aufstellen wollen.
Das Schwierige bei Cyber-Angriffen ist, dass diese Schwelle zwischen: Da ist was passiert und: Der Staat ist wirklich in seiner Souveränität getroffen, eine unheimlich hohe Grauzone ist. Wann entscheiden sie, dass es ein Angriff ist?
Und dann ist die nächste Frage: Wer hat denn eigentlich angegriffen? Können wir einwandfrei beweisen, von wo der Angriff kommt? Und selbst wenn uns das gelingen würde, was sehr schwierig ist, ist ja auch die Frage: Wie reagiere ich auf einen Cyber-Angriff? Auch mit Cyber oder konventionell oder politisch?
Das heißt, von der ursprünglichen Aussage der Nato, Artikel 5 gilt jetzt auch im Cyber-Bereich, zur praktischen Umsetzung ist es ein enorm weiter und sehr schwieriger Weg.
Deutschlandradio Kultur: Das eine Problem bei der hybriden Kriegsführung sind ja diese Cyber-Attacken, also Attacken aus dem Internet mit oft unklarem Absender. Das andere, was wir ja auch gesehen haben auf der Halbinsel Krim und in der Ost-Ukraine, sind Destabilisierung durch Milizen, die da plötzlich auftauchen ohne Hoheitsabzeichen, wo man nicht so genau weiß, wer das ist und von wem die gesponsert werden. – Wie kann ein Bündnis wie die Nato auf solche Szenarien reagieren, was ja zum Beispiel im Baltikum auch denkbar wäre bei der großen russischen Minderheit, die es da in einigen dieser Länder gibt?
Claudia Major: Das ist nur in begrenztem Maße wirklich eine Aufgabe für die Nato. Da muss man auf Landesebene de facto anfangen. Das heißt, es geht um eine Stärkung der Polizei. Es geht um eine Stärkung der nationalen Streitkräfte und in den Ländern, die Gendarmerie-Kräfte haben, um die Stärkung dieser Gendarmerie-Kräfte.
Deutschlandradio Kultur: Gendarmerie, also paramilitärische Polizei.
Claudia Major: Genau, die ja die ersten Kontaktpunkte sein werden. Also, es geht darum, dass sie entsprechend ausgebildet sind. Es geht allerdings auch um die gute Verknüpfung der Landesebene mit der Ebene der Nato und mit der Ebene auch der EU. Wenn es zum Beispiel um Sabotageakte geht wie Energie, Wasserversorgung, ist möglicherweise die EU der erste Ansprechpartner.
Also, hier muss man – ganz wichtig – darauf achten, dass man auf der Landesebene anfängt, die aber ständig mit der Nato eben rückgebunden ist. Aber der erste Kontaktpunkt wären hier in der Tat die nationalen Streitkräfte, die Polizei und Ähnliches.
Deutschlandradio Kultur: Und wenn es um Cyber-Angriffe geht, wahrscheinlich auch zivile Behörden, wenn zum Beispiel die Strom-Infrastruktur angegriffen wird. Ist man denn darauf einigermaßen vorbereitet in Europa? Wie sind wir in Deutschland auf solche Szenarien vorbereitet?
Cyber-Angriffe
Claudia Major: Wir sind noch nicht genug vorbereitet. Es gibt in letzter Zeit sehr viele Anstrengungen unter dem Motto Resilienz daran zu arbeiten. Resilienz bedeutet eine größere Belastbarkeit. Und es bedeutet auch ein schnelles Wiederauferstehen, wenn ich es mal so nennen darf. Also, es wird häufig das Beispiel der Paris-Attentate vom November 2015 zitiert, wo die Krankenhäuser in der Lage waren, sehr schnell auf die große Anzahl von Verletzten zu reagieren, ohne darunter zusammenzubrechen. Aber Resilienz heißt halt auch, Stromversorgung zu sichern, Wasserversorgung zu sichern, Müllabfuhr zu sichern, solche Sachen, die das normale Leben zusammenhalten.
Deswegen sind Cyber-Angriffe unheimlich problematisch, weil sie erlauben, die Zivilbevölkerung direkt zu treffen, ohne sozusagen vorher den Staat zu treffen, also die Zivilbevölkerung in ihrem Alltag zu treffen – wenn der Strom ausfällt, wenn die U-Bahn nicht mehr funktioniert, wenn es kein Wasser mehr gibt – und weil sie es ermöglichen, in die Innenpolitik reinzuspielen. Das haben wir auch gerade in den USA erlebt mit dem Vorwurf der manipulierten Wahlen oder des Einmischens in die Wahlvorgänge.
Das heißt, das Cyber-Instrument ist ein sehr schwieriges Instrument, weil es in verschiedene Bereiche reingeht und unheimlich schwer zu fassen ist.
Deutschlandradio Kultur: Resilienz, wie Sie das nennen, gegen hybride Angriffe ist dann mithin eine Sache nicht nur der Behörden und des Militärs, sondern eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Verteidigungsanstrengung. Sind wir nach 25 Jahren, wo wir uns als Gewinner des Kalten Kriegs gesehen haben, im Westen darauf eigentlich vorbereitet auf solche gesamtgesellschaftlichen Aufgaben in der Verteidigung?
Claudia Major: Wir sind darauf nicht sehr gut vorbereitet. Also, da ist noch viel…
Deutschlandradio Kultur: Auch psychologisch?
Claudia Major: Ich denke, dass die Veränderungen in Europa, die mit der Annexion der Krim 2014 und dem Krieg in der Ost-Ukraine begonnen haben und sich dann fortgesetzt haben – über den Krieg in Syrien und weiteres –, in der Tat ein Paradigmenwechsel für die Sicherheitspolitik sind.
Bis dahin haben wir Westeuropäer – ich betone Westeuropäer – und die Deutschen allen voran uns doch relativ sicher in der Annahme gefühlt, dass die Zeiten der großen kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa eigentlich vorbei sind. Dass wir Militär als Instrument in unserem Instrumentenkasten nicht sehr schätzen, sondern immer erst probieren andere Instrumente einzusetzen, sondern das sozusagen als Mittel der letzten Möglichkeit ansehen, aber doch andere klar bevorzugen. Und dass wir glaubten, dass in einer Welt, die viel auf Handel, auf Austausch, auf Ideen aufbaut und von der wir enorm profitieren, wir in Deutschland profitieren enorm von der Globalisierung und der Vernetzung mit der ganzen Welt, und dass so ein freiheitlicher Staat sich doch im Endeffekt bewährt hat und sich durchsetzen wird.
Und 2014, also die russische Annexion der Krim und das Vorgehen in der Ukraine, waren für uns ein unheimlich hartes Erwachen, weil wir merken, da ist jemand in Europa, der sieht Militär als ein völlig normales Mittel in seinem Instrumentenkasten an und scheut nicht davor, Völkerrecht zu verletzen und sich ein Stück Land eines anderen Landes einzuverleiben. Das ist für unsere Vorstellungen einer regelbasierten internationalen Sicherheitsordnung, indem wir versuchen Konflikte friedlich zu lösen, aufbauend auf den OSZE-Grundlagen, eine Katastrophe und damit auch ein Paradigmenwechsel für unser Verständnis von Sicherheit.
Wir können zwar glauben, dass Militär kein gutes Mittel ist, wenn aber unser Nachbar der Meinung ist, Militär ist ein ziemlich nützliches Mittel, dann haben wir ein fundamentales Problem.
Deutschlandradio Kultur: Gut, dass wir über Militär und über die Nato gesprochen haben. Vielen Dank für dieses Gespräch.