Politische Aktivistin aus der Ukraine Oleksandra Bienert
Oleksandra Bienert, spricht auf der Demo "Stoppt den Krieg!" in Berlin, 27.02.2022. © picture alliance / SULUPRESS.DE / Marc Vorwerk
In Angst um die Mutter in Kiew
33:31 Minuten
Vor mehr als 100.000 Menschen eine Rede zu halten auf der großen Friedensdemonstration in Berlin – das erfordert Mut und Entschlossenheit. Beides hat die gebürtige Ukrainerin Oleksandra Bienert. Sie bangt um ihre Familie und Freunde vor Ort.
Mehrmals am Tag telefoniert Oleksandra Bienert mit ihrer Mutter in Kiew. „Ich bin in Gedanken in der Ukraine“, sagt die gebürtige Ukrainerin, die 2005 zum Studium nach Berlin gekommen ist. „Es ist sehr schwierig, hier zu sein, wenn man sieht, dass man die Familie nicht direkt unterstützen kann. Und ich wäre jetzt am liebsten eigentlich bei ihr.“ Sie sei in ständiger Sorge um ihre Mutter: „Es kann eine Rakete in ein Wohnhaus treffen, und es kann zufällig das Haus sein, wo sie wohnt. Sie kann auch unterwegs sein, und alles, was sich bewegt, kann beschossen werden. Es werden ja auch zivile Objekte beschossen.“
Blind „auf dem russisch imperialistischen Auge“
Die deutsche Öffentlichkeit sei zu lange blind gewesen „auf dem russisch imperialistischen Auge“, so die studierte Informatikerin und Ethnologin. Deshalb habe sie am vergangenen Sonntag auf der großen Friedensdemonstration in Berlin gesprochen und dabei auch Waffen für ihr Land gefordert. Die Ukraine lebe bereits seit 2014, seit der Annexion der Krim, im Kriegszustand. Spätesten jetzt müssten allen hierzulande die Augen geöffnet sein: „Es ist ein imperialistischer Krieg. Und es ist unser Krieg für die Unabhängigkeit. Das war meine Kernbotschaft, und so empfinden das auch die Menschen in der Ukraine: Wir wollen Frieden mit Russland haben. Wir sind ein eigenständiges Volk. Wir wollen es sein und bleiben.“ Umso beeindruckter sei sie von der großen Unterstützung: „Für uns ist es ein enorm wichtiges Zeichen der Solidarität.“
Konfrontation mit bitteren Klischees
Oleksandra Bienert ist 1983 in Czernowitz geboren. 1991, als die Ukraine unabhängig wird, ist sie acht Jahre alt. Die wechselhafte Geschichte des Landes hat sich auch in ihrer Familie niedergeschlagen. Ihre Großeltern sprachen noch ukrainisch, ihre Eltern dann russisch. In den 20er und 30er Jahren ermordeten und deportierten die Bolschewiki zigtausende ukrainische Intellektuelle, Kleriker, Schriftsteller und Künstler; die Ukraine wurde russifiziert. „Und was passiert eigentlich mit jemandem, der nicht mehr seine Sprache sprechen kann und der nicht mehr seine Dichter hat?“
2005 kommt Oleksandra Bienert nach Berlin, der Liebe wegen. Und wird mit bitteren Klischees konfrontiert. Ein Freund ihres späteren Mannes fragt: „Ach, hast du dir jetzt eine neue Putzfrau aus der Ukraine geholt?“ Dieser Satz habe sie sehr getroffen, denn er habe das Vorurteil gezeigt: „Ukrainische Frauen kommen als Putzfrauen, als Prostituierte oder sonst was nach Deutschland. Und das tut natürlich sehr weh.“
Die Brückenbauerin
Oleksandra Bienert studiert Informatik in Kiew und Europäische Ethnologie in Berlin, sie arbeitet unter anderem bei der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, gibt Fortbildungskurse in Jobcentern, um Führungskräfte für den Umgang mit Geflüchteten zu sensibilisieren. Heute arbeitet sie in der Stadtentwicklung im Berliner Bezirk Marzahn und kümmert sich „um Menschen, die manchmal von der Politik vergessen werden.“
Und sie engagiert sich seit vielen Jahren für die deutsch-ukrainische Verständigung, gründet Initiativen für Menschenrechte, auch einen ukrainischen Kinoclub, will Brücken bauen, wie sie sagt. Doch aktuell gilt ihr ganzes Engagement der Hilfe der Menschen in der Ukraine und den Geflüchteten. Gerade hat sie eine junge Mutter mit ihrem dreijährigen Sohn von der polnischen Grenze abgeholt und nach Berlin gebracht. Täglich würden es mehr Hilfsbedürftige.
Arbeit für die Geflüchteten aus der Ukraine
Deshalb brauche es jetzt nicht nur scharfe politische und wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Die humanitäre Aufnahme müsse auch erleichtert werden, so die Aktivistin. „Wir brauchen Zugang zum Arbeitsmarkt für diese Menschen, die gekommen sind, einen erleichterten Zugang für diese Mütter, die jetzt mit ihren Kindern geflohen sind.“
Und als sei das alles noch nicht genug, ist Oleksandra Bienert auch leidenschaftliche Fotografin. Gemeinsam mit der Plattform „Kyjiwer Gespräche“ hat sie ukrainisch-stämmige Persönlichkeiten an deren Lieblingsorten in Berlin portraitiert. Die Fotos hängen seit heute an 300 Orten in der Berliner U-Bahn.
(sus)