Politische Bücher als Hörbücher
"Es ist tatsächlich die Substanz der Sprache und des Tonfalls, den Helmut Schmidt da im Buch hat", sagt Florian Felix Weyh über "Außer Dienst". In "Der Baader-Meinhof-Komplex" geht es um den RAF-Terror.
Heute über Hörbücher mit Maike Albath Herzlich Willkommen zur Lesart, dem politischen Buchmagazin auf Deutschlandradio Kultur.
1953 wurde das erste deutsche Hörbuch produziert - Goethes "Faust". Inzwischen gibt es längst nicht nur Klassiker in diesem Format. Wir wollen Ihnen einige der interessantesten Hörbücher aus dem Bereich politisches Buch vorstellen. Dazu begrüße ich meinen Kollegen, den Journalisten Florian Felix Weyh im Studio. Guten Tag, Herr Weyh.
Florian Felix Weyh: Guten Tag.
Maike Albath: Als Erstes soll es um einen Mann gehen, der vorgestern seinen 90. Geburtstag gefeiert hat und zu den markantesten Gestalten der bundesrepublikanischen Politik und Kultur zählt, nämlich um Helmut Schmidt, zwischen 1974 und 82 Bundeskanzler. Er ist jetzt seit 25 Jahren Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit". Der Bundeskanzler a. D. hat Bilanz gezogen. "Außer Dienst" heißt sein Buch. Es hat sich weit über 300. 000 Mal verkauft, ist also eines der erfolgreichsten Bücher des Siedler Verlages im vergangenen Herbst. Inzwischen ist auch eine Hörbuchfassung herausgekommen. Gelesen hat sie der Schauspieler Hanns Zischler.
Faszinierend an Helmut Schmidt, Florian Felix Weyh, ist ja das Staatsmännische, dass er so eine kritische Gelassenheit ausstrahlt, mit der er die Dinge beurteilt, und dass er auch eine sehr große rhetorische Begabung immer wieder an den Tag gelegt hat. Merkt man das denn auch an dem Hörbuch?
Florian Felix Weyh: Das merkt man an dem Hörbuch auch, denn es ist tatsächlich die Substanz der Sprache und des Tonfalls, den Helmut Schmidt da im Buch hat. Diesen Tonfall transportiert Hanns Zischler genauso mit demselben Understatement. Er verkneift sich auch, was bei Hörbüchern nicht unbedingt nahe liegend ist, jegliche Angleichung an den Schmidtschen Duktus. Also, er spricht nicht hanseatisch. Er macht nicht das "Spitze-Stein-St", sondern er trägt das ganz nüchtern und sachlich vor. Er gibt im Grunde den Helmut Schmidt genauso trocken, wie Helmut Schmidt im wahren Leben ist.
Maike Albath: Wie sich Helmut Schmidt - gelesen von Hanns Zischler - anhört, davon bekommen wir jetzt einen Eindruck.
Einspielung:
"Worauf es mir ankommt, sind Tugenden, die ich die ‚bürgerlichen Tugenden’ nenne, die Tugend des Verantwortungsbewusstseins, die Tugend der Vernunft und die Tugend der inneren Gelassenheit. Wenngleich ich in meinem Leben innerlich nicht gebetet habe, so haben mich doch zwei Gebete tief angerührt, nämlich das Vater Unser und sehr viel später das ‚Serenity Praye’" des Amerikaners Reinhold Niebuhr. ‚Gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Gib mir die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden’."
Hanns Zischler war das, mit einem Ausschnitt aus dem Hörbuch "Außer Dienst" von Helmut Schmidt.
Florian Felix Weyh, das war eine Passage, die eigentlich eher so eine private Anmutung hat. Wer steht denn im Vordergrund? Die Person Helmut Schmidt oder der Politiker?
Florian Felix Weyh: Gar nicht die Person. Es ist geradezu himmelschreiend auffallend, wie zurückgenommen Helmut Schmidt mit 90 Jahren die politische Bilanz seines Lebens zieht. Also, es ist nicht nur so, dass er sich selbst völlig in den Hintergrund nimmt, sondern er schreibt auch fast nichts Privates über Kollegen, Politiker, die ihm in seiner Zeit begegnet sind. Es gibt zwei, drei Ausnahmen, ganz kurze Passagen - ein Absatz über Willy Brandt und das Zerwürfnis, das die beiden gegen Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt hatten. Ansonsten ist das tatsächlich so was, ja, man könnte sagen, ein römischer Senator oder ein römischer Konsul in der Antike gibt die politische Lebensbilanz zu Papier, in dem Fall hier zum Hören dargebracht. Und die nachfolgende Generation soll daraus vielleicht noch ein paar Lehren ziehen.
Diese Lehren sind zum Beispiel - das fehlt allerdings im Hörbuch, das ist im Buch drin - ein kleiner Absatz, dass alle jungen Politiker doch bitte nicht nur Englisch lernen sollen, sondern auch Französisch. Schmidt hat das immer bedauert, dass er nur eine Sprache beherrschte. Aber es sind eben auch ganz klare Worte gegen das Berufspolitikertum, gegen das Karrierestreben, das Denken, man könne eine politische Karriere machen.
Maike Albath: Er legt ja auch sehr viel Wert auf Wissen, auf Bildung. In der Geschichte solle man sich auskennen. Reisen ist etwas, was sehr hochgehalten wird. Und der persönliche Kontakt zu anderen Staatsmännern kommt auch in dem Buch ausführlich vor und in der Hörbuchfassung. Kann man denn so etwas wie eine Ethik der Politik erkennen? Sie haben es ja jetzt schon ein bisschen angedeutet.
Florian Felix Weyh: Ja, die Ethik ist sozusagen die Emotionsfreiheit, die Affektfreiheit. Schmidt steht für den typischen, eigentlich angloamerikanischen Typus des pragmatischen Politikers: Keine Ideologie, Vernunftentscheidungen, nach Sachlage seine Schlüsse ziehen und seine Entscheidungen treffen und sich bloß nicht in irgendwelche ideologischen Fahrwässer begeben.
Maike Albath: "Deutschland muss sich ändern." So lautet auch eine Passage in dem Hörbuch. Was meint er damit?
Florian Felix Weyh: Das ist vielleicht für einige Leute sehr erstaunlich. Er stärkt damit dem letzten sozialdemokratischen Bundeskanzler, nämlich Gerhard Schröder, noch mal nachträglich den Rücken und sagt: Die Agenda 2010 war nicht nur richtig, sie war eigentlich nicht radikal genug. Das ist ein Programm, auch ein ursozialdemokratisches Programm, das betont er immer wieder. Er verwahrt sich auch extrem gegen die Vereinnahmungsversuche anderer Parteien, die immer gesagt haben, "Helmut Schmidt ist der Kanzler mit dem falschen Parteibuch, der hätte in der FDP oder der CDU sein müssen". Nein, er sagt, "ich bin Sozialdemokrat immer gewesen und dieses Reformprogramm ist ein sozialdemokratisches Reformprogramm. Das müssen wir weiter fortsetzen".
Maike Albath: Eine Bilanz von Helmut Schmidt, jetzt auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Hanns Zischler, erschienen im Random House Verlag. Helmut Schmidt war Bundeskanzler in einer Zeit, die für die Bundesrepublik zu den schwierigsten Phase gehört hat, nämlich 1977. Der Generalbundesanwalt Buback und der Bankier Ponto wurden von der RAF ermordet. Im September wurde der Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer entführt. Fünf Wochen später brachten palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine "Landshut" in ihre Gewalt, die schließlich am 18. Oktober in Mogadischu befreit wurde. In derselben Nacht begingen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim Selbstmord. Einen Tag später wurde Schleyer tot aufgefunden.
Helmut Schmidt, damals zum deutschen Herbst:
Einspielung:
"Ein Mord, bei dem behauptet wird, er diene einem politischen Zweck, bleibt nichtsdestoweniger Mord."
Ein Tondokument aus dem Hörbuch "Der Baader-Meinhof-Komplex" von Stefan Aust. Der ehemalige Chefredakteur des Magazins "Der Spiegel" hat nicht nur bei dem gleichnamigen Film von Bernd Eichinger mitgearbeitet, der gerade in den Kinos läuft, sondern er hat schon Mitte der 80er Jahre eine umfangreiche Studie unter demselben Titel vorgelegt. Und jetzt ist ein Hörbuch erschienen "Der Baader-Meinhof-Komplex". Gerade bei diesem Thema, Florian Felix Weyh, bietet sich die Form des Hörbuchs wegen der vielen Zeitzeugen und Tondokumente natürlich an. Ist vielleicht das Hörbuch sogar dem schlichten Text überlegen?
Florian Felix Weyh: Ich würde sogar sagen, es ist nicht nur dem schlichten Text überlegen, es ist auch der medialen Bearbeitung im Spielfilm oder auch Doku-Dramen überlegen. Was Aust hier zusammengesammelt und kompiliert hat, ist höchst erstaunlich, ganz überraschend und - obwohl es ja ein schreckliches Thema ist, für alle Nachgeborenen, die diese Zeit als Kinder erlebt haben oder vielleicht noch gar nicht auf der Welt waren - sie zurückversetzt in eine Atmosphäre, in die Stimmung dieser Zeit und einen völlig neuen Blick, allerdings einen stark emotionalisierten Blick auf diese Zeit zulässt. Ich muss sagen, ich habe diese vier CD in einem Rutsch, vier Stunden, fünf Stunden durchgehört und war richtig aufgewühlt von diesen Tondokumenten.
Maike Albath: Es ist Zeitgeschichte, die einem da entgegenschlägt. Und die wird natürlich transportiert durch die Stimmen. Wir hören Ulrike Meinhof in einem Tondokument, das bisher unveröffentlicht war.
Einspielung:
"Den bewaffneten Widerstand organisieren, die Klassenkämpfe entfalten, die Rote Armee aufbauen. Die Frage, ob es richtig ist, bewaffnete, das heißt, illegale Widerstandsgruppen in der Bundesrepublik und Westberlin zu organisieren, ist die Frage, ob es möglich ist. Die Antwort darauf kann nur praktisch ermittelt werden. Alles andere sind Spekulationen. Einige Genossen haben sich zu dieser Praxis entschlossen. Daran wird sich zeigen, ob genug Leute, ob genug psychische und physische Energie, genug Schlauheit, genug Disziplin, genug Unzufriedenheit und genug Klassenhass aktivierbar sind aus der Konkursmasse der Studentenbewegung als Folge der sich international und national verschärfenden Klassenkämpfe, um in der imperialistischen Bundesrepublik und Westberlin den Imperialismus tatsächlich angreifen zu können."
Ulrike Meinhof war das in einem bisher unveröffentlichten Tonbandausschnitt, der enthalten ist in dem neuen Hörbuch von Stefan Aust, "Der Baader-Meinhof-Komplex". Dieser O-Ton stammt aus dem Jahr 1970, als die RAF gegründet wurde.
Kann man denn anhand dieses Hörbuchs, Florian Felix Weyh, die Radikalisierung von Ulrike Meinhof nachvollziehen?
Florian Felix Weyh: Man kann sogar noch mehr. Es ist nicht nur die Radikalisierung, die hier einsetzt. Da sieht man ja schon an dieser mechanischen Sprechweise und auch dieser entlarvenden Sprache - ein "aktivierbarer Klassenhass" ist etwas, was uns heute überhaupt als Terminologie völlig fremd ist. Viele dieser Originaltöne aus der Terroristenszene sind eben diese völlig funktionalistisch entmenschte stalinistische Sprache. Aber man kann anhand von Ulrike Meinhof in diesem Hörbuch auch die völlige psychische und menschliche Zerrüttung dieser Frau, die im Laufe der Jahre stattgefunden hat, auf eine wirklich bestürzende Weise nachvollziehen.
Aber lassen Sie mich noch einen Satz sagen: Wir gucken immer auf die Täter. Von denen haben wir die Dokumente. Die Opfer sind tot. Sie schweigen. Von denen gibt es keine O-Töne. Aber dankenswerterweise hat Stefan Aust hinten in dem Booklet dieser CD sämtliche Opfer der RAF aufgeführt mit einer Kurzbiographie. Er verneigt sich sozusagen vor den Toten und zeigt damit, dass es ihm nicht darum geht, irgendwie die Täter zu erklären. Es geht darum die Zeit zu erklären.
Maike Albath: Und auch die Zeugen, die mit den Opfern verbunden waren, zum Beispiel der Sohn von Hans-Martin Schleyer, kommen durchaus vor.
Florian Felix Weyh: Die kommen auch zu Wort.
Maike Albath: Die sind enthalten im Hörbuch. Es gibt natürlich auch immer wieder Familienmitglieder, die zu Wort kommen. Der Vater von Gudrun Ensslin, ein Pfarrer aus dem Schwäbischen, äußert sich zu der Wandlung, die seine Tochter durchgemacht hat.
Einspielung:
"Was sie anzumahnen hat oder was sie sagen wollte mit einem Mittel, das wir alle nicht gutheißen, ist doch dies, dass wir, die eine Generation, die nun erlebt hat im eigenen Volk und im Namen des Volkes: Völkermord, Judenhass, KZ, über 1945 mit allen ordentlichen, legitimen, vor allem auch in der Kirche, mit allen wachen Leuten, die nun der Meinung waren, dass nun nicht Restauration am Platze ist, sondern ein Neuanfang, Reformation, Neugeburt und dass eine nach der anderen Hoffnung verschlissen worden ist. Und das sind junge Menschen, die nicht gewillt sind, nun diese dauernden Frustrationen zu schlucken."
Der Vater von Gudrun Ensslin nach dem Brandanschlag auf die Frankfurter Kaufhäuser 1968, den Gudrun Ensslin mit Andreas Baader begangen hat, enthalten auf dem Hörbuch von Stefan Aust, "Der Baader-Meinhof-Komplex".
Maike Albath: Florian Felix Weyh, nun ist ja die Gefahr bei diesen vielen Stimmen, die wir hören, dass das Analytische gegenüber den O-Tönen ins Hintertreffen gerät. Wie löst Aust dieses Dilemma? Ist es schon so, dass er auch das Ganze bewertet und in einen Zusammenhang bringt?
Florian Felix Weyh: Aust spricht selber die Zwischentexte dieses Features. Wir können es eigentlich mit der Radioform des Features vergleichen. Diese Aust-Stimme kennt man aus unzähligen Spiegel-TV-Einspielern. Die ist ja fast ein bisschen zynisch, also eine ganz bekannte Off-Stimme. Er ist da selbst sehr zurückgenommen. Aber erstens kommentieren ja selbst die Interviewpartner, das ist eines der großen Mankos des Hörbuchs, man weiß nie, aus welcher Zeit diese O-Töne sind. Manchmal kann man es historisch rückschließen, wie hier bei dem Vater von Gudrun Ensslin. Aber zum Beispiel einer, der extrem hellsichtig die Vorgänge der frühen RAF kommentiert, ist selbst eine ganz, ganz schlimme zwielichtige Gestalt, nämlich der heute rechtsradikale Horst Mahler. Wir wissen nicht, wann diese Interviewtöne von Horst Mahler entstanden sind. Er wird dann auch immer zeitnah "etikettiert". Das heißt dann in der Anfangsphase "der Anwalt Horst Mahler", später heißt es "der Terrorist Horst Mahler". Diese Analyse wird geleistet in den O-Tönen selbst, auch durch die Gegenüberstellung von verschiedenen Opfer-O-Tönen oder auch Gefängnisbeamten, der Gefängnisdirektor in Stammheim usw. Das ist hochinteressant, sehr intelligent gemacht. Aust selber hält sich eigentlich ziemlich mit der Bewertung zurück.
Maike Albath: Es ist insgesamt eine ungeheure Ernüchterung, die man da erfährt, denn die Figuren, die beteiligt sind, die Terroristen entlarven sich durch ihre Art zu sprechen häufig auch selbst. Sie können hier, anders als in dem Film, nicht pop-kulturell vereinnahmt werden. Das ist vielleicht auch ein Verdienst des Hörbuches.
Wir hören jetzt noch eine Passage von Peter-Jürgen Boock, der auch im Nachhinein Auskunft gibt über seine Phase bei der RAF:
Einspielung:
"Für das, was wir da angeworfen haben, sind eine ganze Menge Menschen drauf gegangen. Und ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher, ob das nicht sehr viel selbstsüchtiger war und so viel mehr ausgerichtet auf ihre Person als auf irgendein großes hehres Ziel."
Peter-Jürgen Boock war das. In dem Hörbuch von Stefan Aust ist er zu hören. Florian Felix Weyh, dieser Peter-Jürgen Boock taucht ebenfalls sehr oft auf. Was für eine Rolle spielt er? Wird das deutlich?
Florian Felix Weyh: Es gab mal, ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat, das böse Wort über ihn: "Das ist der Bereuer vom Dienst." Peter-Jürgen Boock ist, glaube ich, der erste aus der RAF, der begriffen hat, dass es ein Fulltime-Job in den Medien sein kann, als Zeitzeuge zu dienen, darüber zu schreiben, Auskunft zu geben. Sie hören ja auch sofort akustisch den Unterschied. Dieser O-Ton ist ein Studio-O-Ton. Das ist mit Sicherheit nicht in den 70er oder 80er Jahren entstanden, sondern später, also schon reflexiv. Es ist schon ausgedacht. Er weiß genau, was er sagen will. Er redet auch druckreif an einer anderen Stelle. Sehr eindrücklich sagt er, bei der Vorbereitung der Schleyer-Morde, wo beschlossen wurde, die Polizisten absichtlich hinzurichten, um an Schleyer ranzukommen: "Das war unsere Wannseekonferenz." Das ist kein spontaner Impuls, sondern das ist ein überlegter Satz. Und Peter-Jürgen Boock zeigt die eine Hälfte der RAF-Terroristen, die sich mit der Mediengesellschaft auch nach Haftentlassung arrangiert haben und die Deutungshoheit versuchen zu halten über diesen ganzen Prozess und diese historische Epoche.
Die andere Fraktion, die es ja auch gibt, es gibt ja etliche Terroristen, wie zum Beispiel Susanne Albrecht, die nach ihrer Haftentlassung in die Anonymität abgetaucht sind, heute unter völlig anderen Verhältnissen leben. Wir wissen nichts über die.
Aber lassen Sie uns noch einen kurzen Blick auf einen ganz andere, in dem Hörbuch auch stark thematisierten Strang richten, nämlich: Was hat der Staat gemacht? Es ist gerade für uns, die wir nicht dabei gewesen sind, auch erschreckend zu erleben, welche Hilflosigkeit der Staat gegenüber diesen Terroristen zeigt in diesen Stammheimer Jahren. Einerseits einen ganz harten Prozess führen, andererseits aber die Verhältnisse im Gefängnis Stammheim, und da sind O-Töne von den Gefängniswärtern, von dem Direkter, ich glaube, auch von dem Anstaltspsychologen oder Priester und man sieht, das war eine große Kommune. Die hatten also Freiheiten, die es in keinem anderen Gefängnis gibt, weil der Staat so Angst hatte vor dem Vorwurf der Isolationsfolter. Man ist Verdachtsmomenten nicht nachgegangen. Die hatten ja Sprechanlagen und alles. Also, das ist wirklich ein Abriss der Geschichte, der ganz nah an einen heran geht und man schon Kopf schüttelt, wenn man das hört.
Maike Albath: Da wurde dann der Kampf im Grunde über den Körper ausgetragen und über den Vorwurf der Isolationshaft, auch von den Terroristen. Gibt es denn auch Leerstellen? Gibt es Leute, die man eigentlich erwarten würde, dass sie in diesem Hörbuch vorkommen, und die nicht auftauchen?
Florian Felix Weyh: Es gibt eine ganz auffallende Leerstelle. Das ist Otto Schily. Otto Schily wird ein-, zweimal erwähnt, ich glaube, mit einem ganz kurzen O-Ton aus dem Stammheimer Prozess, drin, aber da die anderen Anwälte eine große Rolle in diesem Hörbuch auch spielen, wundert man sich schon, dass also unser späterer Bundesinnenminister aus Gründen, die wir nicht kennen, in diesem Hörbuch kaum vorkommt.
Maike Albath: In dem Buch von Stefan Aust taucht er allerdings schon auf. 30 Einträge hat er dort. Wir sprachen jetzt über das neue Hörbuch von Stefan Aust, "Der Baader-Meinhof-Komplex. Fakten, Dokumente, Originaltöne", erschienen bei Hoffmann und Campe.
Wie bereitet man eine Reise vor? Man kann es auch inzwischen akustisch tun, denn es gibt Hörbücher, die fremde Länder hörbar machen wollen. Die wollen wir Ihnen gleich vorstellen. Und wir wollen auch noch sprechen über einen dichtenden Politiker, der es schafft, während seiner vielen Verpflichtungen auch noch zum Stift zu greifen und sich Lyrik auszudenken. Jetzt noch drei Hörbuchempfehlungen kurz und knapp:
Kurz und kritisch:
"König Kasimir ist bestens gelaunt. Er denkt augenscheinlich an alles Mögliche, nur nicht an einen feigen Verrat. Seine grandiosen wirtschaftlichen und politischen Erfolge für Sachsen und die allgemeine Beliebtheit, der er sich erfreuen darf, haben ihn im Laufe der Jahre mit Blindheit geschlagen."
Wir schreiben das Jahr 2020. Sachsen ist wieder, was es immer schon am liebsten war, eine Monarchie. Doch Regierungssprecher Übü will selber König werden und stürzt das Land ins Unglück. Übü?, richtig. Alfred Jarrys prädadaistischer Theaterschurke feiert in Peter Eckhart Reichel Hörspiel eine zeitgenössische Wiederauferstehung - als Politsatire. Was sich im sächsischen Freistaat 2020 zuträgt, erinnert nicht selten an höchst aktuelle Geschehnisse."
"Bist du etwa eener von diesen bekloppten Kahlköppen, die hier seit Jahrzehnten rumkraxeln und sich einbilden, aus unserer schönen Sächsischen Schweiz eene No-Go-Area machen zu können?"
Von Skinheads bis zu Biedenköpfen reicht der Wiedererkennungseffekt. Und es verblüfft, wie gut sich Jarrys Charaktere und Wortspielereinen, wie die von den Pfuinanzen in die Gegenwart einfügen. Mit Andreas Mannkopff, Irm Hermann und Gerd Wameling opulent produziert, ist dieser sächsische Übü ein reines Vergnügen.
Peter Eckard Reichel "Übü - Rex Saxonia", zwei CD, 147 Minuten Spieldauer, Hörbuchedition Words & Music.
"Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass das Weltgewissen seinen Sitz im UN-Hauptquartier in Manhattan hat."
Hier spricht - deutlich hörbar - eine Nachrichtenfrau. So könnte Petra Gerster auch die Heute-Sendung beginnen. Kann das die richtige Intonation für ein viereinhalbstündiges Hörbuch sein? Zunächst ist man entgegen gesetzter Meinung, doch legt sich diese Skepsis rasch. Warum? Die unerhört erschreckende Reportage des amerikanischen Journalisten Benjamin Skinner über das Fortleben der Sklaverei in vielen Ländern der Welt, auch bei uns in Europa, über Sex mit Kindern und brutalste Formen der Unterwerfung geht schon in Schriftform an die Schmerzgrenze. Vorgelegen erträgt man die Szenen überhaupt nur, weil Petra Gerster den Text so nüchtern, sachlich und neutral vorträgt, wie dies im Nachrichtenjournalismus eben üblich ist. Den Zuhörer zu empören, reicht auch dieser distanzierte Ton. Und das ist gut so.
Sklaverei ist eine Schande für die Menschheit. Tun wir alles, um die endlich abzuschaffen. Benjamin Skinner, "Menschenhandel", gelesen von Petra Gerster, 4 CD, 262 Minuten Spieldauer, Lübbe Audio.
Keiner will hier rein, alle wollen wieder raus. Doch wie klingt es hinter Gittern? Etwa so:
".. guten Tag, Ihren Ausweis bitte…"
Die Insassen der Hamburger Vollzugsanstalt Fuhlsbüttel, im Volksmund "Santa Fu" genannt, haben eine CD über ihr Leben im Gefängnis gemacht: Atmosphärische Eindrücke aus dem Zellentrakt, der Anstaltsbäckerei, dem Kraftsportraum wechseln sich mit der Hipp-Hopp-Musik eines Ex-Insassen ab. Technisch ist es manchmal low-fidelity. Vor allem bei den Unterhaltungen muss man genau hinhören.
Dafür vermittelt die CD einen authentischen Eindruck. Das ist kein Ort, an dem man gerne wäre. Akustische Verbrechensprävention, besonders gut für Jugendliche mit falschen Vorstellungen vom kriminellen Heldenleben.
"Knast live", Lieder, Stimmen und Geräusche aus Santa Fu, 49 Minuten Spieldauer, zu beziehen nur über www.santa-fu-shop.de.
Maike Albath: Wer sich mit einem fremden Land vertraut machen will, kann natürlich einen Reiseführer kaufen, er kann aber auch nach Hörbüchern fahnden, die ihm das Fremde akustisch nahe bringen.
Im Verlag Silberfuchs ist eine ganze Serie erschienen. "Länder hören, Kulturen entdecken" heißt sie und sie wurde schon mehrfach preisgekrönt. Neben Deutschland, Israel und Russland sind auch Frankreich und die Türkei vertreten - 2008 das Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse.
Einspielung:
"Die Turksprachen werden den altaischen Sprachen und damit dem Mantschurischen und dem Mongolischen zugerechnet. Der Name "Türke" - "Tutiö", der erstmals in chinesischen Quellen des 6. Jahrhunderts auftaucht, bezeichnet ein Nomadenvolk, das gerade damit beginnt, in Asien ein gigantisches Steppenreich zu errichten. Aus dem 8. Jahrhundert stammt die älteste erhaltene türkische Schrift. Die in Stein gehauenen Runen des Orkhon-Alphabets wurden an der Mündung des Orchon-Flusses gefunden, in der heutigen Mongolei."
"Türkei hören", gelesen von Erkan Durmas. Florian Felix Weyh, das ist ein neues Hörbuch, das einen Reiseführer ersetzen soll. Nach welchen Kriterien ist denn hier überhaupt die Auswahl der geschichtlichen Stationen erfolgt?
Florian Felix Weyh: Das ist schon falsch. Das kann keinen Reiseführer ersetzen. Auch der Titel "Länder hören" der Reihe führt ein bisschen in die Irre, denn dann wären da Soundscapes angebracht. Das gibt es auch. Es gibt Hörbücher, die Städteportraits in Geräuschcollagen machen. Hier handelt es sich eigentlich um ein Projekt der kulturgeschichtlichen Aufarbeitung eines kulturstaatlichen, kulturnationalen Profils. Das ist ganz, ganz musiklastig. Die beiden Herausgeberinnen und Verlagsleiterinnen kommen aus der Musikszene.
Es sind natürlich historische Dinge, die da erzählt werden, aber es sind auch sehr oft literarische Zitate. Es beginnt, wie wir hier gehört haben, bei fast jeder dieser CDs ganz archaisch, ganz weit vorne. Also, die Deutschland CD, "Deutschland hören" beginnt mit der Sonnenscheibe von Nebra irgendwann in grauer Vorzeit vor 5.000 Jahren. Also, es ersetzt keinen Reiseführer. Es ersetzt auch letztlich keine Lektüre, wenn man sich mit einem Land befassen möchte.
Maike Albath: Hat Sie das denn ästhetisch überzeugt? Ist es zumindest ansprechend in der Art, wie es aufbereitet ist?
Florian Felix Weyh: Na ja, also, da muss ich einfach mal mein Alter in die Waagschale werfen. Ich glaube, das ist ein Produkt, das sehr gut ist für Abiturienten, für junge Menschen, die noch keinen kulturellen Background haben. Ich habe vier oder fünf aus der Reihe gehört. Es gab bei der Türkei-CD ein einziges Faktum, das ich nicht kannte, bei der Deutschland-CD überhaupt keine, Frankreich keine. Es ist einfach so: Das ist die minimale Basic-Variante von Kulturgeschichte. Ästhetisch finde ich es überfrachtet. Es ist zu viel Musik drin und dies dann in vielen Fällen doch sehr klischiert. Also, wenn wir über "Faust" hören in der "Deutschland-CD", dann kommt da die Carmina Burana mit den Klassikerhits und so. Es sind natürlich extreme Brüche drin.
Aber vielleicht sollte man noch einen Punkt zu dem ganzen Unternehmen sagen. Es ist natürlich ein Geschäftsmodell. Denn fast jede dieser CDs hat Sponsoren. Israel hat sechs oder sieben Sponsoren. Es sind Vor-Worte von Politikern drin. Das ist sicher auch gedacht, um es sozusagen im Marketing der Staaten einzusetzen.
Maike Albath: "Türkei hören", "Frankreich hören", "Deutschland hören", so lauten die einzelnen Titel der CDs. Es ist eine Serie und diese Hörbuchserie ist erschienen im Silberfuchs Verlag.
Politiker machen in ihrer Freizeit alles Mögliche. Franz-Joseph Strauß ging Jagen. Heiner Geißler vergnügte sich beim Drachenfliegen und Carlo Schmid hat Baudelaire übersetzt und manchmal - besonders pikant für einen Politiker - auch Machiavelli. Und es gibt noch jemanden, der sich in seiner Freizeit mit Gedichten und Literatur vergnügt. Das ist der SPD-Bundestagsabgeordnete Hans-Ulrich Klose, langjähriger Hamburger Erster Bürgermeister, ein SPD-Spitzenpolitiker. Er ist eigentlich immer noch in Hamburg zu Hause, aber auch die Hauptstadt Berlin hat ihn zu lyrischen Beobachtungen inspiriert.
"Berliner Sommer", ein Gedicht von Hans-Ulrich Klose:
"Die Männer gehen im Unterhemd spazieren,
das Drumherum des Tages schert sie nicht.
Kühlung von außen und nach zwei, drei Bieren
von innen gurgelnd und im Gleichgewicht.
Die Linden tropfen und die Straßen brennen.
Es riecht nach Hund, nach Bier und alles klebt.
Wer Formen wahren will, muss bald erkennen,
dass er in dieser Stadt gesondert lebt.
Die Politik locht ein mit Kleinigkeiten.
Der Sommer nährt den sommerlichen Geist,
den Kleinlich-Kleinigkeiten-Geist der Zeiten,
der sich durch Klebrigkeit beweist.
Ich liebe diese Stadt. Sie ist mir über,
ist Haupt- und Unterstadt, ist wund und rot,
ist sieben Himmel und noch einer drüber,
seh ich den achten, bin ich mausetot.
Es reimt sich alles eins und eins zusammen:
Die Politik, die Stadt, die Klebrigkeit,
die äußere und auch die Schrammen auf meiner Seele,
die nach vorne schreit."
"Berliner Sommer", ein Gedicht von Hans-Ulrich Klose aus einem neuen Hörbuch des Politikers. Florian Felix Weyh, was ist das für ein Genre? Alltagsgedichte, Kalendergedichte?
Florian Felix Weyh: Na, Sie gehen da schon wieder literaturkritisch ran. Die Literaturkritik, die über die gedruckten Varianten geschrieben hat, ist da etwas gönnerhaft gewesen. Ich würde sagen, man hat das Gefühl, es gibt auch Vorreden oft bei diesen Gedichten privater Natur, man hat das Gefühl man sitzt mit Hans-Ulrich Klose und fünf, sechs Leuten im Kaminzimmer irgendwo in Hamburg in einer Villa und er sagt, ich lese euch jetzt mal ein paar meiner Gedichte vor.
Die sind sehr konventionell, sehr klassisch. Die Metrik ist ganz sauber. Es ist gereimt. Es ist eigentlich ganz schöne, einfach schöne Lyrik, viel Liebeslyrik, ein paar ein bisschen satirische politische Gedichte. Mir hat das gefallen. Ich kann mir vorstellen, es ist nicht die Speerspitze der Avantgarde, dass das Lyrikkritiker anderer Meinung sind.
Maike Albath: Wer den Politiker Hans-Ulrich Klose einmal anders erleben will, der kann sich diese Hörbuch - CD besorgen. "Zeitschreiben" heißt sie, erschienen im Bouvier Verlag, Bonn.
Florian Felix Weyh, noch ein Kurztipp von Ihnen, ein besonderes Hörbuch des vergangenen Jahres, das sich Ihnen eingeprägt hat?
Florian Felix Weyh: Also, mir hat sich - auch um mein Altersargument wieder umzudrehen - ein ganz jugendliches Hörbuch sehr eingeprägt. Das hat einen ganz langen Titel. Das heißt "Wir sind Helden. Informationen zu Touren und anderen Einzelteilen". Wir sind Helden ist eine berühmte deutsche Pop-Band um die Sängerin Judith Holofernes. Das ist ein Kunstname. In Wirklichkeit kommt sie aus einem Journalistenhaushalt eines relativ bekannten Journalisten. Das ist eben nicht nur gelesen, ein Hörbuch, sondern es sind Passagen, sie erzählen aus ihrem Bandleben, wie sie aufsteigen vom unbedarften Musikstudenten zu wirklich großen Stars in Deutschland. Das ist sehr uneitel, sehr selbstkritisch, sehr vergnüglich und das ist ein Hörbuch für die ganze Familie.
Maike Albath: Die persönliche Hörbuchempfehlung von Florian Felix Weyh. Erschienen ist die CD im Argon Verlag. Vielen Dank, Florian Felix Weyh, dass Sie in der Lesart zu Gast waren. Heute gab es eine Lesart Spezial. Morgen gibt es eine neue Ausgabe unseres politischen Buchmagazins über Bildung.
1953 wurde das erste deutsche Hörbuch produziert - Goethes "Faust". Inzwischen gibt es längst nicht nur Klassiker in diesem Format. Wir wollen Ihnen einige der interessantesten Hörbücher aus dem Bereich politisches Buch vorstellen. Dazu begrüße ich meinen Kollegen, den Journalisten Florian Felix Weyh im Studio. Guten Tag, Herr Weyh.
Florian Felix Weyh: Guten Tag.
Maike Albath: Als Erstes soll es um einen Mann gehen, der vorgestern seinen 90. Geburtstag gefeiert hat und zu den markantesten Gestalten der bundesrepublikanischen Politik und Kultur zählt, nämlich um Helmut Schmidt, zwischen 1974 und 82 Bundeskanzler. Er ist jetzt seit 25 Jahren Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit". Der Bundeskanzler a. D. hat Bilanz gezogen. "Außer Dienst" heißt sein Buch. Es hat sich weit über 300. 000 Mal verkauft, ist also eines der erfolgreichsten Bücher des Siedler Verlages im vergangenen Herbst. Inzwischen ist auch eine Hörbuchfassung herausgekommen. Gelesen hat sie der Schauspieler Hanns Zischler.
Faszinierend an Helmut Schmidt, Florian Felix Weyh, ist ja das Staatsmännische, dass er so eine kritische Gelassenheit ausstrahlt, mit der er die Dinge beurteilt, und dass er auch eine sehr große rhetorische Begabung immer wieder an den Tag gelegt hat. Merkt man das denn auch an dem Hörbuch?
Florian Felix Weyh: Das merkt man an dem Hörbuch auch, denn es ist tatsächlich die Substanz der Sprache und des Tonfalls, den Helmut Schmidt da im Buch hat. Diesen Tonfall transportiert Hanns Zischler genauso mit demselben Understatement. Er verkneift sich auch, was bei Hörbüchern nicht unbedingt nahe liegend ist, jegliche Angleichung an den Schmidtschen Duktus. Also, er spricht nicht hanseatisch. Er macht nicht das "Spitze-Stein-St", sondern er trägt das ganz nüchtern und sachlich vor. Er gibt im Grunde den Helmut Schmidt genauso trocken, wie Helmut Schmidt im wahren Leben ist.
Maike Albath: Wie sich Helmut Schmidt - gelesen von Hanns Zischler - anhört, davon bekommen wir jetzt einen Eindruck.
Einspielung:
"Worauf es mir ankommt, sind Tugenden, die ich die ‚bürgerlichen Tugenden’ nenne, die Tugend des Verantwortungsbewusstseins, die Tugend der Vernunft und die Tugend der inneren Gelassenheit. Wenngleich ich in meinem Leben innerlich nicht gebetet habe, so haben mich doch zwei Gebete tief angerührt, nämlich das Vater Unser und sehr viel später das ‚Serenity Praye’" des Amerikaners Reinhold Niebuhr. ‚Gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann. Gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Gib mir die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden’."
Hanns Zischler war das, mit einem Ausschnitt aus dem Hörbuch "Außer Dienst" von Helmut Schmidt.
Florian Felix Weyh, das war eine Passage, die eigentlich eher so eine private Anmutung hat. Wer steht denn im Vordergrund? Die Person Helmut Schmidt oder der Politiker?
Florian Felix Weyh: Gar nicht die Person. Es ist geradezu himmelschreiend auffallend, wie zurückgenommen Helmut Schmidt mit 90 Jahren die politische Bilanz seines Lebens zieht. Also, es ist nicht nur so, dass er sich selbst völlig in den Hintergrund nimmt, sondern er schreibt auch fast nichts Privates über Kollegen, Politiker, die ihm in seiner Zeit begegnet sind. Es gibt zwei, drei Ausnahmen, ganz kurze Passagen - ein Absatz über Willy Brandt und das Zerwürfnis, das die beiden gegen Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt hatten. Ansonsten ist das tatsächlich so was, ja, man könnte sagen, ein römischer Senator oder ein römischer Konsul in der Antike gibt die politische Lebensbilanz zu Papier, in dem Fall hier zum Hören dargebracht. Und die nachfolgende Generation soll daraus vielleicht noch ein paar Lehren ziehen.
Diese Lehren sind zum Beispiel - das fehlt allerdings im Hörbuch, das ist im Buch drin - ein kleiner Absatz, dass alle jungen Politiker doch bitte nicht nur Englisch lernen sollen, sondern auch Französisch. Schmidt hat das immer bedauert, dass er nur eine Sprache beherrschte. Aber es sind eben auch ganz klare Worte gegen das Berufspolitikertum, gegen das Karrierestreben, das Denken, man könne eine politische Karriere machen.
Maike Albath: Er legt ja auch sehr viel Wert auf Wissen, auf Bildung. In der Geschichte solle man sich auskennen. Reisen ist etwas, was sehr hochgehalten wird. Und der persönliche Kontakt zu anderen Staatsmännern kommt auch in dem Buch ausführlich vor und in der Hörbuchfassung. Kann man denn so etwas wie eine Ethik der Politik erkennen? Sie haben es ja jetzt schon ein bisschen angedeutet.
Florian Felix Weyh: Ja, die Ethik ist sozusagen die Emotionsfreiheit, die Affektfreiheit. Schmidt steht für den typischen, eigentlich angloamerikanischen Typus des pragmatischen Politikers: Keine Ideologie, Vernunftentscheidungen, nach Sachlage seine Schlüsse ziehen und seine Entscheidungen treffen und sich bloß nicht in irgendwelche ideologischen Fahrwässer begeben.
Maike Albath: "Deutschland muss sich ändern." So lautet auch eine Passage in dem Hörbuch. Was meint er damit?
Florian Felix Weyh: Das ist vielleicht für einige Leute sehr erstaunlich. Er stärkt damit dem letzten sozialdemokratischen Bundeskanzler, nämlich Gerhard Schröder, noch mal nachträglich den Rücken und sagt: Die Agenda 2010 war nicht nur richtig, sie war eigentlich nicht radikal genug. Das ist ein Programm, auch ein ursozialdemokratisches Programm, das betont er immer wieder. Er verwahrt sich auch extrem gegen die Vereinnahmungsversuche anderer Parteien, die immer gesagt haben, "Helmut Schmidt ist der Kanzler mit dem falschen Parteibuch, der hätte in der FDP oder der CDU sein müssen". Nein, er sagt, "ich bin Sozialdemokrat immer gewesen und dieses Reformprogramm ist ein sozialdemokratisches Reformprogramm. Das müssen wir weiter fortsetzen".
Maike Albath: Eine Bilanz von Helmut Schmidt, jetzt auch als Hörbuch erhältlich, gelesen von Hanns Zischler, erschienen im Random House Verlag. Helmut Schmidt war Bundeskanzler in einer Zeit, die für die Bundesrepublik zu den schwierigsten Phase gehört hat, nämlich 1977. Der Generalbundesanwalt Buback und der Bankier Ponto wurden von der RAF ermordet. Im September wurde der Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer entführt. Fünf Wochen später brachten palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine "Landshut" in ihre Gewalt, die schließlich am 18. Oktober in Mogadischu befreit wurde. In derselben Nacht begingen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in Stammheim Selbstmord. Einen Tag später wurde Schleyer tot aufgefunden.
Helmut Schmidt, damals zum deutschen Herbst:
Einspielung:
"Ein Mord, bei dem behauptet wird, er diene einem politischen Zweck, bleibt nichtsdestoweniger Mord."
Ein Tondokument aus dem Hörbuch "Der Baader-Meinhof-Komplex" von Stefan Aust. Der ehemalige Chefredakteur des Magazins "Der Spiegel" hat nicht nur bei dem gleichnamigen Film von Bernd Eichinger mitgearbeitet, der gerade in den Kinos läuft, sondern er hat schon Mitte der 80er Jahre eine umfangreiche Studie unter demselben Titel vorgelegt. Und jetzt ist ein Hörbuch erschienen "Der Baader-Meinhof-Komplex". Gerade bei diesem Thema, Florian Felix Weyh, bietet sich die Form des Hörbuchs wegen der vielen Zeitzeugen und Tondokumente natürlich an. Ist vielleicht das Hörbuch sogar dem schlichten Text überlegen?
Florian Felix Weyh: Ich würde sogar sagen, es ist nicht nur dem schlichten Text überlegen, es ist auch der medialen Bearbeitung im Spielfilm oder auch Doku-Dramen überlegen. Was Aust hier zusammengesammelt und kompiliert hat, ist höchst erstaunlich, ganz überraschend und - obwohl es ja ein schreckliches Thema ist, für alle Nachgeborenen, die diese Zeit als Kinder erlebt haben oder vielleicht noch gar nicht auf der Welt waren - sie zurückversetzt in eine Atmosphäre, in die Stimmung dieser Zeit und einen völlig neuen Blick, allerdings einen stark emotionalisierten Blick auf diese Zeit zulässt. Ich muss sagen, ich habe diese vier CD in einem Rutsch, vier Stunden, fünf Stunden durchgehört und war richtig aufgewühlt von diesen Tondokumenten.
Maike Albath: Es ist Zeitgeschichte, die einem da entgegenschlägt. Und die wird natürlich transportiert durch die Stimmen. Wir hören Ulrike Meinhof in einem Tondokument, das bisher unveröffentlicht war.
Einspielung:
"Den bewaffneten Widerstand organisieren, die Klassenkämpfe entfalten, die Rote Armee aufbauen. Die Frage, ob es richtig ist, bewaffnete, das heißt, illegale Widerstandsgruppen in der Bundesrepublik und Westberlin zu organisieren, ist die Frage, ob es möglich ist. Die Antwort darauf kann nur praktisch ermittelt werden. Alles andere sind Spekulationen. Einige Genossen haben sich zu dieser Praxis entschlossen. Daran wird sich zeigen, ob genug Leute, ob genug psychische und physische Energie, genug Schlauheit, genug Disziplin, genug Unzufriedenheit und genug Klassenhass aktivierbar sind aus der Konkursmasse der Studentenbewegung als Folge der sich international und national verschärfenden Klassenkämpfe, um in der imperialistischen Bundesrepublik und Westberlin den Imperialismus tatsächlich angreifen zu können."
Ulrike Meinhof war das in einem bisher unveröffentlichten Tonbandausschnitt, der enthalten ist in dem neuen Hörbuch von Stefan Aust, "Der Baader-Meinhof-Komplex". Dieser O-Ton stammt aus dem Jahr 1970, als die RAF gegründet wurde.
Kann man denn anhand dieses Hörbuchs, Florian Felix Weyh, die Radikalisierung von Ulrike Meinhof nachvollziehen?
Florian Felix Weyh: Man kann sogar noch mehr. Es ist nicht nur die Radikalisierung, die hier einsetzt. Da sieht man ja schon an dieser mechanischen Sprechweise und auch dieser entlarvenden Sprache - ein "aktivierbarer Klassenhass" ist etwas, was uns heute überhaupt als Terminologie völlig fremd ist. Viele dieser Originaltöne aus der Terroristenszene sind eben diese völlig funktionalistisch entmenschte stalinistische Sprache. Aber man kann anhand von Ulrike Meinhof in diesem Hörbuch auch die völlige psychische und menschliche Zerrüttung dieser Frau, die im Laufe der Jahre stattgefunden hat, auf eine wirklich bestürzende Weise nachvollziehen.
Aber lassen Sie mich noch einen Satz sagen: Wir gucken immer auf die Täter. Von denen haben wir die Dokumente. Die Opfer sind tot. Sie schweigen. Von denen gibt es keine O-Töne. Aber dankenswerterweise hat Stefan Aust hinten in dem Booklet dieser CD sämtliche Opfer der RAF aufgeführt mit einer Kurzbiographie. Er verneigt sich sozusagen vor den Toten und zeigt damit, dass es ihm nicht darum geht, irgendwie die Täter zu erklären. Es geht darum die Zeit zu erklären.
Maike Albath: Und auch die Zeugen, die mit den Opfern verbunden waren, zum Beispiel der Sohn von Hans-Martin Schleyer, kommen durchaus vor.
Florian Felix Weyh: Die kommen auch zu Wort.
Maike Albath: Die sind enthalten im Hörbuch. Es gibt natürlich auch immer wieder Familienmitglieder, die zu Wort kommen. Der Vater von Gudrun Ensslin, ein Pfarrer aus dem Schwäbischen, äußert sich zu der Wandlung, die seine Tochter durchgemacht hat.
Einspielung:
"Was sie anzumahnen hat oder was sie sagen wollte mit einem Mittel, das wir alle nicht gutheißen, ist doch dies, dass wir, die eine Generation, die nun erlebt hat im eigenen Volk und im Namen des Volkes: Völkermord, Judenhass, KZ, über 1945 mit allen ordentlichen, legitimen, vor allem auch in der Kirche, mit allen wachen Leuten, die nun der Meinung waren, dass nun nicht Restauration am Platze ist, sondern ein Neuanfang, Reformation, Neugeburt und dass eine nach der anderen Hoffnung verschlissen worden ist. Und das sind junge Menschen, die nicht gewillt sind, nun diese dauernden Frustrationen zu schlucken."
Der Vater von Gudrun Ensslin nach dem Brandanschlag auf die Frankfurter Kaufhäuser 1968, den Gudrun Ensslin mit Andreas Baader begangen hat, enthalten auf dem Hörbuch von Stefan Aust, "Der Baader-Meinhof-Komplex".
Maike Albath: Florian Felix Weyh, nun ist ja die Gefahr bei diesen vielen Stimmen, die wir hören, dass das Analytische gegenüber den O-Tönen ins Hintertreffen gerät. Wie löst Aust dieses Dilemma? Ist es schon so, dass er auch das Ganze bewertet und in einen Zusammenhang bringt?
Florian Felix Weyh: Aust spricht selber die Zwischentexte dieses Features. Wir können es eigentlich mit der Radioform des Features vergleichen. Diese Aust-Stimme kennt man aus unzähligen Spiegel-TV-Einspielern. Die ist ja fast ein bisschen zynisch, also eine ganz bekannte Off-Stimme. Er ist da selbst sehr zurückgenommen. Aber erstens kommentieren ja selbst die Interviewpartner, das ist eines der großen Mankos des Hörbuchs, man weiß nie, aus welcher Zeit diese O-Töne sind. Manchmal kann man es historisch rückschließen, wie hier bei dem Vater von Gudrun Ensslin. Aber zum Beispiel einer, der extrem hellsichtig die Vorgänge der frühen RAF kommentiert, ist selbst eine ganz, ganz schlimme zwielichtige Gestalt, nämlich der heute rechtsradikale Horst Mahler. Wir wissen nicht, wann diese Interviewtöne von Horst Mahler entstanden sind. Er wird dann auch immer zeitnah "etikettiert". Das heißt dann in der Anfangsphase "der Anwalt Horst Mahler", später heißt es "der Terrorist Horst Mahler". Diese Analyse wird geleistet in den O-Tönen selbst, auch durch die Gegenüberstellung von verschiedenen Opfer-O-Tönen oder auch Gefängnisbeamten, der Gefängnisdirektor in Stammheim usw. Das ist hochinteressant, sehr intelligent gemacht. Aust selber hält sich eigentlich ziemlich mit der Bewertung zurück.
Maike Albath: Es ist insgesamt eine ungeheure Ernüchterung, die man da erfährt, denn die Figuren, die beteiligt sind, die Terroristen entlarven sich durch ihre Art zu sprechen häufig auch selbst. Sie können hier, anders als in dem Film, nicht pop-kulturell vereinnahmt werden. Das ist vielleicht auch ein Verdienst des Hörbuches.
Wir hören jetzt noch eine Passage von Peter-Jürgen Boock, der auch im Nachhinein Auskunft gibt über seine Phase bei der RAF:
Einspielung:
"Für das, was wir da angeworfen haben, sind eine ganze Menge Menschen drauf gegangen. Und ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher, ob das nicht sehr viel selbstsüchtiger war und so viel mehr ausgerichtet auf ihre Person als auf irgendein großes hehres Ziel."
Peter-Jürgen Boock war das. In dem Hörbuch von Stefan Aust ist er zu hören. Florian Felix Weyh, dieser Peter-Jürgen Boock taucht ebenfalls sehr oft auf. Was für eine Rolle spielt er? Wird das deutlich?
Florian Felix Weyh: Es gab mal, ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat, das böse Wort über ihn: "Das ist der Bereuer vom Dienst." Peter-Jürgen Boock ist, glaube ich, der erste aus der RAF, der begriffen hat, dass es ein Fulltime-Job in den Medien sein kann, als Zeitzeuge zu dienen, darüber zu schreiben, Auskunft zu geben. Sie hören ja auch sofort akustisch den Unterschied. Dieser O-Ton ist ein Studio-O-Ton. Das ist mit Sicherheit nicht in den 70er oder 80er Jahren entstanden, sondern später, also schon reflexiv. Es ist schon ausgedacht. Er weiß genau, was er sagen will. Er redet auch druckreif an einer anderen Stelle. Sehr eindrücklich sagt er, bei der Vorbereitung der Schleyer-Morde, wo beschlossen wurde, die Polizisten absichtlich hinzurichten, um an Schleyer ranzukommen: "Das war unsere Wannseekonferenz." Das ist kein spontaner Impuls, sondern das ist ein überlegter Satz. Und Peter-Jürgen Boock zeigt die eine Hälfte der RAF-Terroristen, die sich mit der Mediengesellschaft auch nach Haftentlassung arrangiert haben und die Deutungshoheit versuchen zu halten über diesen ganzen Prozess und diese historische Epoche.
Die andere Fraktion, die es ja auch gibt, es gibt ja etliche Terroristen, wie zum Beispiel Susanne Albrecht, die nach ihrer Haftentlassung in die Anonymität abgetaucht sind, heute unter völlig anderen Verhältnissen leben. Wir wissen nichts über die.
Aber lassen Sie uns noch einen kurzen Blick auf einen ganz andere, in dem Hörbuch auch stark thematisierten Strang richten, nämlich: Was hat der Staat gemacht? Es ist gerade für uns, die wir nicht dabei gewesen sind, auch erschreckend zu erleben, welche Hilflosigkeit der Staat gegenüber diesen Terroristen zeigt in diesen Stammheimer Jahren. Einerseits einen ganz harten Prozess führen, andererseits aber die Verhältnisse im Gefängnis Stammheim, und da sind O-Töne von den Gefängniswärtern, von dem Direkter, ich glaube, auch von dem Anstaltspsychologen oder Priester und man sieht, das war eine große Kommune. Die hatten also Freiheiten, die es in keinem anderen Gefängnis gibt, weil der Staat so Angst hatte vor dem Vorwurf der Isolationsfolter. Man ist Verdachtsmomenten nicht nachgegangen. Die hatten ja Sprechanlagen und alles. Also, das ist wirklich ein Abriss der Geschichte, der ganz nah an einen heran geht und man schon Kopf schüttelt, wenn man das hört.
Maike Albath: Da wurde dann der Kampf im Grunde über den Körper ausgetragen und über den Vorwurf der Isolationshaft, auch von den Terroristen. Gibt es denn auch Leerstellen? Gibt es Leute, die man eigentlich erwarten würde, dass sie in diesem Hörbuch vorkommen, und die nicht auftauchen?
Florian Felix Weyh: Es gibt eine ganz auffallende Leerstelle. Das ist Otto Schily. Otto Schily wird ein-, zweimal erwähnt, ich glaube, mit einem ganz kurzen O-Ton aus dem Stammheimer Prozess, drin, aber da die anderen Anwälte eine große Rolle in diesem Hörbuch auch spielen, wundert man sich schon, dass also unser späterer Bundesinnenminister aus Gründen, die wir nicht kennen, in diesem Hörbuch kaum vorkommt.
Maike Albath: In dem Buch von Stefan Aust taucht er allerdings schon auf. 30 Einträge hat er dort. Wir sprachen jetzt über das neue Hörbuch von Stefan Aust, "Der Baader-Meinhof-Komplex. Fakten, Dokumente, Originaltöne", erschienen bei Hoffmann und Campe.
Wie bereitet man eine Reise vor? Man kann es auch inzwischen akustisch tun, denn es gibt Hörbücher, die fremde Länder hörbar machen wollen. Die wollen wir Ihnen gleich vorstellen. Und wir wollen auch noch sprechen über einen dichtenden Politiker, der es schafft, während seiner vielen Verpflichtungen auch noch zum Stift zu greifen und sich Lyrik auszudenken. Jetzt noch drei Hörbuchempfehlungen kurz und knapp:
Kurz und kritisch:
"König Kasimir ist bestens gelaunt. Er denkt augenscheinlich an alles Mögliche, nur nicht an einen feigen Verrat. Seine grandiosen wirtschaftlichen und politischen Erfolge für Sachsen und die allgemeine Beliebtheit, der er sich erfreuen darf, haben ihn im Laufe der Jahre mit Blindheit geschlagen."
Wir schreiben das Jahr 2020. Sachsen ist wieder, was es immer schon am liebsten war, eine Monarchie. Doch Regierungssprecher Übü will selber König werden und stürzt das Land ins Unglück. Übü?, richtig. Alfred Jarrys prädadaistischer Theaterschurke feiert in Peter Eckhart Reichel Hörspiel eine zeitgenössische Wiederauferstehung - als Politsatire. Was sich im sächsischen Freistaat 2020 zuträgt, erinnert nicht selten an höchst aktuelle Geschehnisse."
"Bist du etwa eener von diesen bekloppten Kahlköppen, die hier seit Jahrzehnten rumkraxeln und sich einbilden, aus unserer schönen Sächsischen Schweiz eene No-Go-Area machen zu können?"
Von Skinheads bis zu Biedenköpfen reicht der Wiedererkennungseffekt. Und es verblüfft, wie gut sich Jarrys Charaktere und Wortspielereinen, wie die von den Pfuinanzen in die Gegenwart einfügen. Mit Andreas Mannkopff, Irm Hermann und Gerd Wameling opulent produziert, ist dieser sächsische Übü ein reines Vergnügen.
Peter Eckard Reichel "Übü - Rex Saxonia", zwei CD, 147 Minuten Spieldauer, Hörbuchedition Words & Music.
"Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass das Weltgewissen seinen Sitz im UN-Hauptquartier in Manhattan hat."
Hier spricht - deutlich hörbar - eine Nachrichtenfrau. So könnte Petra Gerster auch die Heute-Sendung beginnen. Kann das die richtige Intonation für ein viereinhalbstündiges Hörbuch sein? Zunächst ist man entgegen gesetzter Meinung, doch legt sich diese Skepsis rasch. Warum? Die unerhört erschreckende Reportage des amerikanischen Journalisten Benjamin Skinner über das Fortleben der Sklaverei in vielen Ländern der Welt, auch bei uns in Europa, über Sex mit Kindern und brutalste Formen der Unterwerfung geht schon in Schriftform an die Schmerzgrenze. Vorgelegen erträgt man die Szenen überhaupt nur, weil Petra Gerster den Text so nüchtern, sachlich und neutral vorträgt, wie dies im Nachrichtenjournalismus eben üblich ist. Den Zuhörer zu empören, reicht auch dieser distanzierte Ton. Und das ist gut so.
Sklaverei ist eine Schande für die Menschheit. Tun wir alles, um die endlich abzuschaffen. Benjamin Skinner, "Menschenhandel", gelesen von Petra Gerster, 4 CD, 262 Minuten Spieldauer, Lübbe Audio.
Keiner will hier rein, alle wollen wieder raus. Doch wie klingt es hinter Gittern? Etwa so:
".. guten Tag, Ihren Ausweis bitte…"
Die Insassen der Hamburger Vollzugsanstalt Fuhlsbüttel, im Volksmund "Santa Fu" genannt, haben eine CD über ihr Leben im Gefängnis gemacht: Atmosphärische Eindrücke aus dem Zellentrakt, der Anstaltsbäckerei, dem Kraftsportraum wechseln sich mit der Hipp-Hopp-Musik eines Ex-Insassen ab. Technisch ist es manchmal low-fidelity. Vor allem bei den Unterhaltungen muss man genau hinhören.
Dafür vermittelt die CD einen authentischen Eindruck. Das ist kein Ort, an dem man gerne wäre. Akustische Verbrechensprävention, besonders gut für Jugendliche mit falschen Vorstellungen vom kriminellen Heldenleben.
"Knast live", Lieder, Stimmen und Geräusche aus Santa Fu, 49 Minuten Spieldauer, zu beziehen nur über www.santa-fu-shop.de.
Maike Albath: Wer sich mit einem fremden Land vertraut machen will, kann natürlich einen Reiseführer kaufen, er kann aber auch nach Hörbüchern fahnden, die ihm das Fremde akustisch nahe bringen.
Im Verlag Silberfuchs ist eine ganze Serie erschienen. "Länder hören, Kulturen entdecken" heißt sie und sie wurde schon mehrfach preisgekrönt. Neben Deutschland, Israel und Russland sind auch Frankreich und die Türkei vertreten - 2008 das Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse.
Einspielung:
"Die Turksprachen werden den altaischen Sprachen und damit dem Mantschurischen und dem Mongolischen zugerechnet. Der Name "Türke" - "Tutiö", der erstmals in chinesischen Quellen des 6. Jahrhunderts auftaucht, bezeichnet ein Nomadenvolk, das gerade damit beginnt, in Asien ein gigantisches Steppenreich zu errichten. Aus dem 8. Jahrhundert stammt die älteste erhaltene türkische Schrift. Die in Stein gehauenen Runen des Orkhon-Alphabets wurden an der Mündung des Orchon-Flusses gefunden, in der heutigen Mongolei."
"Türkei hören", gelesen von Erkan Durmas. Florian Felix Weyh, das ist ein neues Hörbuch, das einen Reiseführer ersetzen soll. Nach welchen Kriterien ist denn hier überhaupt die Auswahl der geschichtlichen Stationen erfolgt?
Florian Felix Weyh: Das ist schon falsch. Das kann keinen Reiseführer ersetzen. Auch der Titel "Länder hören" der Reihe führt ein bisschen in die Irre, denn dann wären da Soundscapes angebracht. Das gibt es auch. Es gibt Hörbücher, die Städteportraits in Geräuschcollagen machen. Hier handelt es sich eigentlich um ein Projekt der kulturgeschichtlichen Aufarbeitung eines kulturstaatlichen, kulturnationalen Profils. Das ist ganz, ganz musiklastig. Die beiden Herausgeberinnen und Verlagsleiterinnen kommen aus der Musikszene.
Es sind natürlich historische Dinge, die da erzählt werden, aber es sind auch sehr oft literarische Zitate. Es beginnt, wie wir hier gehört haben, bei fast jeder dieser CDs ganz archaisch, ganz weit vorne. Also, die Deutschland CD, "Deutschland hören" beginnt mit der Sonnenscheibe von Nebra irgendwann in grauer Vorzeit vor 5.000 Jahren. Also, es ersetzt keinen Reiseführer. Es ersetzt auch letztlich keine Lektüre, wenn man sich mit einem Land befassen möchte.
Maike Albath: Hat Sie das denn ästhetisch überzeugt? Ist es zumindest ansprechend in der Art, wie es aufbereitet ist?
Florian Felix Weyh: Na ja, also, da muss ich einfach mal mein Alter in die Waagschale werfen. Ich glaube, das ist ein Produkt, das sehr gut ist für Abiturienten, für junge Menschen, die noch keinen kulturellen Background haben. Ich habe vier oder fünf aus der Reihe gehört. Es gab bei der Türkei-CD ein einziges Faktum, das ich nicht kannte, bei der Deutschland-CD überhaupt keine, Frankreich keine. Es ist einfach so: Das ist die minimale Basic-Variante von Kulturgeschichte. Ästhetisch finde ich es überfrachtet. Es ist zu viel Musik drin und dies dann in vielen Fällen doch sehr klischiert. Also, wenn wir über "Faust" hören in der "Deutschland-CD", dann kommt da die Carmina Burana mit den Klassikerhits und so. Es sind natürlich extreme Brüche drin.
Aber vielleicht sollte man noch einen Punkt zu dem ganzen Unternehmen sagen. Es ist natürlich ein Geschäftsmodell. Denn fast jede dieser CDs hat Sponsoren. Israel hat sechs oder sieben Sponsoren. Es sind Vor-Worte von Politikern drin. Das ist sicher auch gedacht, um es sozusagen im Marketing der Staaten einzusetzen.
Maike Albath: "Türkei hören", "Frankreich hören", "Deutschland hören", so lauten die einzelnen Titel der CDs. Es ist eine Serie und diese Hörbuchserie ist erschienen im Silberfuchs Verlag.
Politiker machen in ihrer Freizeit alles Mögliche. Franz-Joseph Strauß ging Jagen. Heiner Geißler vergnügte sich beim Drachenfliegen und Carlo Schmid hat Baudelaire übersetzt und manchmal - besonders pikant für einen Politiker - auch Machiavelli. Und es gibt noch jemanden, der sich in seiner Freizeit mit Gedichten und Literatur vergnügt. Das ist der SPD-Bundestagsabgeordnete Hans-Ulrich Klose, langjähriger Hamburger Erster Bürgermeister, ein SPD-Spitzenpolitiker. Er ist eigentlich immer noch in Hamburg zu Hause, aber auch die Hauptstadt Berlin hat ihn zu lyrischen Beobachtungen inspiriert.
"Berliner Sommer", ein Gedicht von Hans-Ulrich Klose:
"Die Männer gehen im Unterhemd spazieren,
das Drumherum des Tages schert sie nicht.
Kühlung von außen und nach zwei, drei Bieren
von innen gurgelnd und im Gleichgewicht.
Die Linden tropfen und die Straßen brennen.
Es riecht nach Hund, nach Bier und alles klebt.
Wer Formen wahren will, muss bald erkennen,
dass er in dieser Stadt gesondert lebt.
Die Politik locht ein mit Kleinigkeiten.
Der Sommer nährt den sommerlichen Geist,
den Kleinlich-Kleinigkeiten-Geist der Zeiten,
der sich durch Klebrigkeit beweist.
Ich liebe diese Stadt. Sie ist mir über,
ist Haupt- und Unterstadt, ist wund und rot,
ist sieben Himmel und noch einer drüber,
seh ich den achten, bin ich mausetot.
Es reimt sich alles eins und eins zusammen:
Die Politik, die Stadt, die Klebrigkeit,
die äußere und auch die Schrammen auf meiner Seele,
die nach vorne schreit."
"Berliner Sommer", ein Gedicht von Hans-Ulrich Klose aus einem neuen Hörbuch des Politikers. Florian Felix Weyh, was ist das für ein Genre? Alltagsgedichte, Kalendergedichte?
Florian Felix Weyh: Na, Sie gehen da schon wieder literaturkritisch ran. Die Literaturkritik, die über die gedruckten Varianten geschrieben hat, ist da etwas gönnerhaft gewesen. Ich würde sagen, man hat das Gefühl, es gibt auch Vorreden oft bei diesen Gedichten privater Natur, man hat das Gefühl man sitzt mit Hans-Ulrich Klose und fünf, sechs Leuten im Kaminzimmer irgendwo in Hamburg in einer Villa und er sagt, ich lese euch jetzt mal ein paar meiner Gedichte vor.
Die sind sehr konventionell, sehr klassisch. Die Metrik ist ganz sauber. Es ist gereimt. Es ist eigentlich ganz schöne, einfach schöne Lyrik, viel Liebeslyrik, ein paar ein bisschen satirische politische Gedichte. Mir hat das gefallen. Ich kann mir vorstellen, es ist nicht die Speerspitze der Avantgarde, dass das Lyrikkritiker anderer Meinung sind.
Maike Albath: Wer den Politiker Hans-Ulrich Klose einmal anders erleben will, der kann sich diese Hörbuch - CD besorgen. "Zeitschreiben" heißt sie, erschienen im Bouvier Verlag, Bonn.
Florian Felix Weyh, noch ein Kurztipp von Ihnen, ein besonderes Hörbuch des vergangenen Jahres, das sich Ihnen eingeprägt hat?
Florian Felix Weyh: Also, mir hat sich - auch um mein Altersargument wieder umzudrehen - ein ganz jugendliches Hörbuch sehr eingeprägt. Das hat einen ganz langen Titel. Das heißt "Wir sind Helden. Informationen zu Touren und anderen Einzelteilen". Wir sind Helden ist eine berühmte deutsche Pop-Band um die Sängerin Judith Holofernes. Das ist ein Kunstname. In Wirklichkeit kommt sie aus einem Journalistenhaushalt eines relativ bekannten Journalisten. Das ist eben nicht nur gelesen, ein Hörbuch, sondern es sind Passagen, sie erzählen aus ihrem Bandleben, wie sie aufsteigen vom unbedarften Musikstudenten zu wirklich großen Stars in Deutschland. Das ist sehr uneitel, sehr selbstkritisch, sehr vergnüglich und das ist ein Hörbuch für die ganze Familie.
Maike Albath: Die persönliche Hörbuchempfehlung von Florian Felix Weyh. Erschienen ist die CD im Argon Verlag. Vielen Dank, Florian Felix Weyh, dass Sie in der Lesart zu Gast waren. Heute gab es eine Lesart Spezial. Morgen gibt es eine neue Ausgabe unseres politischen Buchmagazins über Bildung.