Politische Dissidenten

Von Paul-Hermann Gruner · 20.08.2009
Wer und oder was steckt eigentlich hinter der Vorstellung, dass die mal 60.000, mal 600.000 Mitglieder in unseren Parteien dieselbe Meinung vertreten, in ihrem Abstimmungsverhalten die Hand an derselben Stelle heben und denselben interessanten Vorschlag einer wenig geliebten Konkurrenzpartei mit identischer Empörung ablehnen? Ganz einfach: das Denken in diesen Parteien selbst.
Wiederholt hat sich dieses Denken als Falle für die Parteien herausgestellt, wiederholt haben sie sich nur mühsam aus der Selbstgefangenheit eines falschen, weil menschenfernen Homogenitäts-Ideals wieder befreit. Und trotzdem sehen wir mit Verblüffung - ewig lockt keineswegs das Weib, sondern vielmehr die immer gleiche Denkfalle.

Je mehr wir uns der Homogenität in einem politischen Verband nähern, desto mehr entfernen wir uns von der Wirklichkeit, wie sie unter Menschen nun mal herrscht. Wer zur Gattung zählt weiß, dass bereits drei Menschen um einen Tisch die Voraussetzung für ein Debakel bilden:

Diese Drei werden vier Meinungen aufbauen, entwickeln, vertreten, zerpflücken, lächerlich machen, verleumden, bekämpfen, zum Anlass für persönliche Kriegserklärungen nehmen. Solche Erfahrungen prägen. Wenn drei für ein Debakel ausreichen - wie ist es dann erst mit 50.000? Und so ist es eben keineswegs der Bürger in der Demokratie, der trügerisch bruchlose Einigkeit von den Parteien abfordert.

Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit. Sagt das Grundgesetz. Anstrengend genug. Und damit Punkt. Demokratische Parteien sind keine öffentlich agierenden Gruppen, die den TÜV-Stempel für nachgewiesene Harmonie-Seligkeit bekommen.

Demokratische Parteien sind keine Friseurgemeinschaften, die den Mitgliederköpfen Stromlinien-Frisuren verpassen. Demokratische Parteien sind keine Menschensammler-Werkstätten, die aus schräg denkenden Individuen verlässlich gerade agierende Parteibuchgeister machen. Nur totalitäre Parteien schaffen die Homogenitätshürde spielend: eine Partei, ein Programm, ein Vorsitzender.

Das Einheits-Ideal ist von so faszinierend wie verhängnisvoll einfachem Gehalt. Der italienische Macht-Analytiker Curzio Malaparte sagte vor 80 Jahren schon treffsicher: "Die Aufgabe, ihr Volk zu vertreten, fällt den Mittelmäßigen zu, nicht den Genies." Wer umgekehrt in einer politischen Partei Splitter des Genialen beherbergen will, der muss für Unbequeme, für Ekstatiker der Eigenständigkeit Räume freihalten. Man muss diese Schwierigen als Partei aushalten. Einheit muss Abweichung zulassen.

Das war und ist offensichtlich kaum zu schaffen. Die meisten wirklich eigenständigen Köpfe in deutschen Parteien nach 1949 wurden schnell zu Störern, Antitypen, Dissidenten. Oftmals nur, weil sie – wie so viele Selbstbewusste – der Interpretation anhingen, dass wegen ihres Krähens als Hahn die Sonne aufgehe. Nun – lasst sie doch. Hauptsache, sie krähen mit Format. Wie Herbert Gruhl, der umweltpolitische Dissident der CDU in den 70er-Jahren. Vorgeführte Homogenität war der Union damals wichtiger als jeder Beweis für Vielfalt in der Einheit. Die ekelte Gruhl aus ihrer Mitte.

In neuerer Zeit glänzt die SPD mit Homogenitäts-Duselei. Wolfgang Clement wurde unnötig wichtig gemacht durch Drohungen mit Parteiausschluss, hessischen Sozialdemokraten wie Dagmar Metzger oder Jürgen Walter wird mit Abstrafung, Gängelung oder mit Parteiverfahren nachgestellt. Recht hat die Stromlinie, das abstrakte Ideal, das Kunstprodukt der Widerspruchsfreiheit. Welch Ausmaß vergeudeter Energien!

Bitte nicht weiter auf diesem Wege. Denn exakt so wurden unsere Parteien, was sie eindeutig zu lange schon sind: langweilig. Viel zu grau für die bunte Gesellschaft, die sie führen wollen.


Paul-Hermann Gruner, geboren 1959, ist Politikwissenschaftler und Historiker. Seit Beginn der 80er-Jahre tätig als bildender Künstler mit den Schwerpunkten Montage, Installation und Performance. Seit 1996 in der Redaktion des "Darmstädter Echo", daneben Veröffentlichungen in regionalen und überregionalen Zeitungen, satirische Texte, Buchpublikationen unter anderem zu Sprachpolitik und Zeitgeistkritik.
Paul-Hermann Gruner
Paul-Hermann Gruner© privat